Читать книгу Wandlungen der Drei - Rainar Nitzsche - Страница 7
Im Tal
ОглавлениеDer Dieb,
der die Augen der Toten isst.
Du willst wissen, wer er ist?
Sein Name ist Rabe.
Worte des Magiers
Ich bin ein Teil von Ihm Dort Oben, denke ich, bin dort, wohin Er ging in seinem Chinatraum, an einem Ort/zu einer Zeit so fern von hier.
Dunkelgrün-schwarz sind da nur Silhouetten von Bäumen. Morgendämmern. Eiseskälte.
Stehe auf einem Bergrücken und sehe hinab.
In der Ferne ragen Bergketten düster auf. Langsam steigen die Nebel empor - oder sinke ich hinab? Alles verschwimmt hinter grauen Schleiern, die sich nun verbinden mit dem Grau des wolkenverhangenen Himmels über mir. Krähen, Elstern und Eichelhäher, auch Amseln und Meisen, Sperlinge und Banden von Staren sehe ich nun - nicht mehr. Alles scheint tot. Kein Vogel am Himmel. Aber noch immer sind da Vogellaute in meinen Ohren.
Was, was, was?, krächzt mein Verstand. Was bedeutet das?
Dabei ist alles doch so einfach, antworte ich mir auch schon selbst: Nebel verdecken die Sicht und schlucken nicht völlig den Schall. So einfach ist das.
Sehe nur noch Schatten von Bäumen. Alles andere ist grau in grau, nebel- und wolkengrau. Ein kleiner Vogel fliegt vorbei, von links nach rechts, so dicht vor meinen Augen. Aber ohne einen Laut. Denn jetzt ist auch jeglicher Gesang verstummt. Stille.
Um so erschreckender ist dann das Krächzen - in Menschenohren, zugleich wunderschönes Singen und Sprechen in den Ohren seiner Art. Das ist der Ruf der Krähe, die da etwas im Schnabel mit sich trägt. Von links, dort vorn aus dem Nebel tauchte sie auf: „Kra kra!“ Und schon ist sie meinen Blicken entschwunden.
Erinnerungen an Bilder in der Stadt, einst vor langer Zeit irgendwo im Westen. Dort lebten und leben wohl noch immer schwarze große Vögel: „Rabenkrähen“. Auf höchster Birkenspitze saß da eine oder einer von ihnen - denn die Geschlechter scheinen dem Menschen gleich - und sah hinab, hob den Kopf, senkte ihn in ständigem Wechsel bei jedem Ruf: „Kra Kra Kra.“
Worte fielen mir einst ein, branden nun wieder empor, kaum dass ich die Krähe sehe:
Eine Krähe am Himmel,
Wolken grau
und Streifen aus Licht,
fern so rot
der Abendsonn.
Hier und jetzt jedoch ist Morgen, leuchtet nirgendwo der Sonn, weder rot noch gelb noch weiß. Und so unglaublich es scheint, er muss doch da irgendwo weit oben sein, sonst wäre die Erde schwarz und kosmisch kalt.
Die Nebelwand verdichtet sich.
Und noch ein Unterschied besteht zwischen gestern und heute, oben und unten, zwischen Erinnerung-Dichtung und Gegenwart-Wirklichkeit: hier im Osten sehen die Krähen ein wenig anders aus. Nicht rabenschwarz, sondern grauschwarz sind sie hier gekleidet. Grauschwarz ist die, die ich eben noch sah. Ach, wie passend zu diesem Land ist doch ihr Menschenname „Nebelkrähe“.
Menschenname - Menschenwelt. Erinnerungen an die Stadt. Nein, ich weine nicht mit den Nebeln, sondern lächle. Voller Sehnsucht sah ich im Sommer den Mauerseglern zu, wie sie „sriih“-schreiend in Formationen über die Dächer rasten, blickte den Tauben beim Abflug nach, lauschte am Abend im Frühling dem Amselmann oben auf dem Wipfel - bin auch jetzt ganz entzückt, entrückt und fange an zu lachen, weiß nicht wieso, tue es einfach, lasse mich prustend zu Boden fallen, drehe mich auf den Rücken, wie einst einmal vor langer Zeit in einem weit entfernten Leben, liege auf dem Rücken im Schoß von Mutter Erde, schließe meine Augen, bin nun still und lausche.
Ach, wie Glaube doch Berge versetzen kann - oder Unglaube Grenzen zieht! Dachte ich doch einst, ich könnte mich als Magier niemals in jedes beliebige Lebewesen dieser Erde verwandeln, und gelänge es tatsächlich, so käme ich ohne Hilfe von außen nie wieder in meine Menschengestalt zurück. Ich dachte es - und so geschah es dann auch im Wald. Nun aber gibt es keine Grenzen mehr, ist alles so einfach und leicht.
Während ich das noch denke, erhebe ich mich auch schon lachend, bewege meine Arme auf und ab. Welch lächerlicher Anblick das sein muss, durchzuckt mich noch ein Gedanke, doch hier im dichten Nebel, wo niemand sonst ist ... Und schon verwandle ich mich in einen großen schwarzen Vogel, schwarz vom Schnabel bis zu den Zehen. Größer als alle Krähen bin ich, der Rabe Kolk. Schlage mit meinen Flügeln, die eben noch Menschenarme und -hände waren, und fliege auch schon flatternd im neuen gefiederten Körper empor. Leise gleite ich durch Nebel, die sich nun immer mehr lichten, schon bin ich darüber, endlich sehe ich aus Vogelaugen hinab, so klar wie nie zuvor.
Dort stürzt von den Bergen das wilde Wasser eines Baches schäumend zu Tal, entschwindet in den Tiefen selbst meinem scharfen Rabenblick. Dunkle Inseln ragen unter mir aus weißen wogenden Nebelwolken auf: aus nackter Erde, aus Stein und von Nadelbäumen bewachsene Inseln.
Lande zum ersten Mal in meinem Leben auf Rabenfüßen in einem Waldameisennest und bade mich darin. Ein Säureregen der vielen Kleinen, der mich nicht tötet, aber die anderen tötet und vertreibt, die da in meinem Gefieder sitzen und mein Blut saugen. Springe heraus, hüpfe davon, wie es auch damals schon meine fernen Verwandten taten, die noch ohne Flügel waren. Verwandle mich wieder - hüpfend zunächst, dann schon laufend und wachsend - in meine alte Menschengestalt zurück.
Ich verharre, lasse all die Bilder und Töne, so wie ich eben noch als Rabe die Welt wahrnahm, noch einmal in mir ablaufen und wundere mich, weshalb ich das Bad im Ameisenhaufen nahm. Hatte ich denn als Rabe oder gar schon als Mensch Flöhe, Läuse oder Zecken an mir?
Ich gehe ein paar Schritte, bleibe staunend stehen.
Mir gegenüber stürzt ein gewaltiger Wasserfall ins Bodenlose. Er ist es. Ich sah ihn einst in meinen Träumen. Ich sah ihn Dort Oben im Bild. Mein Blick folgt ihm so weit, bis er im Nebel verschwindet. Doch das ist ohne Belang. Was zählt, ist nah und real. Das ist auch nicht die tosende Gischt drüben am anderen Ufer. Näher ist der Felsenrand, wo knorrige Kiefern in luftige Leere wachsen.
Meine Augen weiten sich, tief atmet meine Seele ein.
Falle auf die Knie und staune noch immer über dieses träumende Land, das dort unten auf mich wartet, das schon immer in mir war, mich zu sich rief.
Warum?
Ein Traum von einem Land, einem Nebelland. Träume ich noch immer nur, hier oben zu stehen? Oder bin ich längst aus meinem Traum erwacht und wirklich hier und schaue voller Sehnsucht hinab?
Träume gebären Träume. Und so schließe ich meine Augen und atme ein und atme aus und erblicke ihn wieder, sehe ihn vor mir, sich an den Felsen entlangwinden, in endlosen Bahnen hinabschlängeln, meinen Leuchtenden Pfad, der mich einst aus dem Alltagsleben rief, der mich noch immer ruft.
Ich öffne meine Augen - nichts hat sich verändert. Ich lache, verharre noch ein wenig, atme dieses eine Bild ein, das niemals mehr wiederkehrt. Jetzt lebt es in mir.
Und wiederum verwandeln sich die Dinge. Und nichts ist mehr wie zuvor. „Denn ich habe das Nebelland gesehen“, flüstere ich mir zu und weine.
Stille.
Leere.
Eins mit allem.
Irgendwann - es könnten Sekunden, Minuten, aber auch Stunden vergangen sein - stehe ich von dieser fremden, stillen, ach so bekannten Erde auf.
Du bist erwacht in mir, denke ich, denn ich spüre dich, fühle dich und zittere. Denn ich weiß, dass Du durch meine Augen schaust. Du bist jetzt in mir, mein Schöpfer, mein Gott. Du bist in mir und gehst meinen Weg in meiner Welt mit mir und verrätst mir nicht, wer jetzt deinen Körper Dort Oben - wenn du denn einen Körper hast - bewohnt. Ob er leer und verlassen auf die Rückkehr Deiner Seele wartet? Du bist in mir, wir beide sind eins.
Du antwortest nicht. Weil alles nur Illusion ist, nichts weiter als ein Traum?
Und wäre es so, so bleibt mir die Erinnerung, die schon verblasst.
Drei Silben, drei Worte spreche ich nun: „Ich bin ich!“
So ist es. Aus mit den Träumen. Ich stehe auf, gehe zum Abhang, drehe mich um und beginne hinabzusteigen. Es ist, als wichen die Nebelschleier zurück, als neigten sich selbst die Krüppelkiefern vor mir. Spüre keine Kälte mehr. Mein Leuchtender Pfad, der mich hinabführt, hüllt mich wärmend ein. Vorsichtig seitwärts kletternd geht’s rasch vor... Verliere den Halt! Rutsche schneller und schneller. Falle ... noch nicht ins Tal hinab. Ein seltsam geformter Grat fing mich mit steinernen Hand.
„Was nun?“, frage ich mich und schaue hinab und schaue hinauf und schaue hinab.
Du aber, liebe(r) LeserIn, wunderst dich und fragst dich: „Warum klettert Manfred denn als Mensch da rum. Wieso verwandelt er sich nicht noch einmal in einen Raben? Muss das denn sein, ein Abstieg zu Fuß? Wenn einer schon Magier ist, dann sollte er fliegen und schwimmen und schweben, wo immer er kann. Der ist aber blöd. Oder ist der etwa lebensmüde?
Stimmt. Klingt sehr logisch und überzeugend. Doch vieles hätte in unserer Welt anders sein können. Hätte, könnte, könnte sein - war es, ist es aber nicht. Denn es ist, wie es ist.
Also schau einfach zu, wie es weitergeht, schweige und ...
Sieh an, unser Magier hat wohl deinen Einspruch vernommen, der klettert ja gar nicht mehr!
Jetzt reicht’s aber mit dem Gekrabbel, denke ich - warum erst jetzt und nicht schon früher? - und springe kopfüber von meinem Felsgrat hinab ins Tal. Mir voraus fällt blaues Licht, mein Leuchtender Pfad. Noch falle ich einfach nur, halte meine Arme nach hinten angelegt, falle und falle, während mein Körper schrumpft und sich wandelt, die Knochen hohl werden und sich verändern, braunes Gefieder mir wächst, wo vorher nackte Haut, Haare und Kleidung waren. Arme und Menschenhände sind nun Falkenschwingen. Rasend geht es mit angewinkelten Flügeln im Sturzflug hinab, so als wollte ich mich auf eine Beute stürzen. In letzter Sekunde breite ich meine Flügel aus und schwebe, lande sanft, kralle meine befiederten Fänge in Erde und Stein. Sehe an mir hinab und dort aus vierzehigen Fängen fünfzehige Menschenfüße werden und meine Beine wachsen.
Ich schaue mich um - noch immer mit Falkenaugen, die schärfer sind als Menschenaugen es jemals waren, lausche schon mit Menschenohren und rieche mit einer Menschennase.
Dort vor mir jenseits der Wiese liegt ein See.
Ich schließe meine Augen und sehe die Sumpfschildkröten ein letztes Mal sich auf Ästen im Wasser und warmen Steinen am Ufer sonnen. Dann werden sie ihre Winterquartiere aufsuchen, sich eingraben und Monate ruhen.
Enten sehe ich im Winter: Ein bunter Erpel balzt die grau gefleckte Entenfrau an. Am Abend wird er müde, schließt ein Auge, das andere bleibt offen. So ist er immer vor Katze, Fuchs und Wolf auf der Hut. Nun schläft die eine Seite seines Gehirns. Dann schließt er das andere Auge, und die andere Hälfte schläft. So geht es die ganze Nacht hindurch. Das ist der Halbschlaf der Einsamen und aller Enten am äußeren Rand der großen Schar. Die aber, die innen sitzen, das sind die stärkeren, die sich die besten Plätze eroberten, halten beide Augen geschlossen - sie schlafen vollständig und vollkommen.
Ich aber öffne meine Augen und sehe nun wieder mit Menschenaugen weder Tau noch Spinnennetze und auch nicht den Tempel der weißen Kiefer. Denn sie alle sind meinem Blick verborgen. Was ich erblicke, sind die Silhouetten der gewaltigen Berge ringsum. Düster und schwarz sind sie hinter Nebeln fast verborgen. Was mögen sie behüten, was Menschenaugen niemals sahen - niemals sehen werden, weil es verboten ist?
Dort vorn am Rande des kleinen Eichenwaldes taucht eine Wildschweinrotte auf. Eine Schar junger Raben fliegt heran. Wie mutig die sind, ja, Frechheit siegt! Einige reiten gar auf den Rücken der Allesesser. Die Halbstarken üben sich im Liebesimponiergehabe: schlagen Salto in der Luft, fliegen synchron.
Ich schaue ihnen zu und denke - noch immer im Flugtaumelrausch - nur vier Worte, immer wieder und höre auch schon meine Lippen das Mantra summend flüstern:
„Rabe sein im Frühling.
Im Frühling Rabe sein.
Rabe sein im Frühling.“
Zeit rast. Herbst und Winter gehen dahin. Frühling. Es grünt so grün. Gelbe, weiße und rosa Blüten.
Ich finde mich wieder im Körper eines fliegenden Raben, vielleicht tausend Flügelschläge von der Stelle entfernt, wo ich einst landete und wo wilde Schweine Eicheln aßen.
Jetzt höre ich in weiter Ferne die Drachen erwachen. Sie lachen. Welch Gebrüll in Raben- und auch in Menschenohren! Letztere aber gibt es hier nicht. Jetzt nicht. Niemals nie für alle Zeit?.
Noch immer hüllen mich Nebel ein.
Höre die anderen singen, lausche dem Lied und den Worten aus schwarzen Schnäbeln: „Kroar kroar kroar.“ Verstehe: Es ist nicht mehr weit zum Zentrum des Nebellandes.
Sehe einen großen Raben für Augenblicke aus den Nebeln hervor treten. Er fliegt nicht, sondern steht dort still und wartet. Er ist der Wächter, der Posten auf dem Pfosten!
Öffne meine offenen Augen wieder der wirklichen Welt ringsum.
Weiße Wolken umgeben mich gleich Nebeln. Oder verwandelt sich Nebel in Wolken? Sind Nebel und Wolken eins? Wasser sind sie, das aufsteigt, Wasser, das dahinzieht und hernieder nieselt/regnet/prasselt/strömt, Wasser, wie der Bach, der dort unten hörbar plätschert.
Ist es ein Bach oder gar der Atem eines großen Tieres, das dort liegt und schläft und - schnarcht?
Ist es das Lachen der Drachen, das die Berge jetzt vielfach in meine Rabenohren zurückwerfen?
Regen fällt hier oben und unten - überall.
Dann bricht wieder Sonn hindurch. So warm für mich, denn schwarz ist mein Gefieder, so nimmt es die Wärme auf. Schwarz ist mein breiter Schnabel, meine Augen sind schwärzer als die Nacht. Doch mein Herz ist es nicht.
Schwebte ich eben noch Adlern gleich, so schlage ich jetzt einige Male kräftig mit den Flügeln, gleite dann wieder ruhig über dem Tal dahin.
Doch dies - wie alles andere auch - endet einmal, vergeht, ist einigen Erinnerung, anderen längst entfallen.
Schlafe ein im Flug.
Wache auf - nicht im Jenseits, weil ich abgestürzt bin, nein - wache auf in einem Menschenkörper.
Gewaltig geht der Sonn am Horizont auf. Noch ist die Welt kalt von der Nacht, doch schon ist der Tag erwacht. Vögel zwitschern, singen, jubilieren in meinen Ohren, in meinem Geist, der sie als Mensch niemals verstehen, der nicht wie sie singen kann. Denn mir fehlen Vogelschnabel, -syrinx, -ohr, -hirn und -seele.
Erhebe mich von meinem Lager, stehe auf, drehe mich frontal zum Sonn, schließe die Augen, strecke mich, breite meine Arme aus, atme den Duft der frischen Morgenluft. Beuge mich nieder, lasse die Arme fallen und atme aus. Und strecke mich wieder, beuge mich - wieder und wieder - sieben Mal. Dann stehe ich aufrecht und still. Seine Wärme fange ich mit Gesicht, Körper, Armen und den Innenflächen meiner Hände auf. Mein ganzer Körper atmet Seine Energie, ganz so, wie es die Blätter und Nadeln der Pflanzen tun.
Einer sieht alles, schaut nur kurz hin, sieht alles aus Vogelaugen, was dort unten vor sich geht. Es ist der Amselmann dort oben auf dem Wipfel. Er schaut hinab, sieht sich nach Rivalen, Feinden und Frauen um, während er sein Amsellied singt: „Hört mich an, hier bin ich, ein Mann, so jung, so stark! Und das ist mein Revier!“ Er wundert sich nicht, denn er ist ja kein Mensch, ist nicht wie der dort unten, der etwas von einem gefährlichen Vogel zu haben scheint - deshalb tixt er nun doch, denn der dort unten wandelt sich.
Nackt und still und stumm steht der Mensch für einen Augenblick. Dann wächst etwas, wachsen aus Rumpf, Beinen und Zehen, Armen und Händen Zweige, die sich auch schon mit frischem Grün beblättern. Blätter und Grün breiten sich aus. Die neugeborenen Chloroplasten in den Zellen atmen Kohlendioxid der Luft und Sonnenmorgenlicht ein.
Anderes nehmen die Engerlinge und Regenwürmer unter der Erde wahr. Sie verstehen es nicht, und könnten sie es begreifen, so wäre es ihnen sicher egal. Denn Menschenfüße wandeln sich: Wurzeln wachsen heraus, hinaus und hinab in die Erde, suchen Wasser und saugen es ein.
Aus Kohlendioxid und Wasser wird Zucker in seinen grünen Oberflächenzellen, Sonn liefert die Energie, aus Zucker wird Stärke und ... Pflanzenstoffwechsel. Sauerstoff wird frei.
Ein Rabe kommt geflogen. Er landet ganz in der Nähe auf einem anderen Baum und schaut im Gegensatz zum Amselmann, der „Luftfeind“ schreiend jetzt verschwindet, interessiert zu dieser seltsamen Birke, die anders ist als all die anderen, die sich nun rauschend und schüttelnd wieder zurück in einen Menschen verwandelt.
Rundum gesättigt wache ich auf, reibe mir die Augen und - kann mich nicht daran erinnern, was eben noch geschah, muss wohl eingeschlafen sein.
Die Rabin, nicht der Rabe, fliegt hinüber, setzt sich auf einen Ast und schaut dem Menschen tief in die Augen.
Schwarz sind ihre Augen, die da vor mir landet und mich neugierig zu betrachten scheint. Ja, Raben gehören doch zu den intelligentesten Vögeln. Schwarz, denke ich, schwarz ... schließe meine Augen, um mehr zu sehen, zu ergründen, wer sie wirklich ist.
Die waren doch eben noch blau-grau, denkt die Rabin, deren wahren Namen Menschenmünder niemals aussprechen könnten. Denn jetzt sieht sie dort rote Feuer brennen.
Gedanken rasen: Eine Rabin. Wer könnte sie sein? Weshalb schaut sie mich so an. Das kann doch kein Zufall sein! Trafen wir uns früher schon? Eine Frau bist du. Doch wer? Erinnerst du mich an sie, die ich einst verlor. Du - in mir - und du dort draußen? Bist du Nairra in neuem Körper? Weilt ihre Seele in dir? Weine ich nun wieder Tränen um meine verlorene Liebe? Tränen - salzige Wassertropfen oder Tränen aus Feuer, die fern der Außenwelt brennen. Ein Krächzen, ein Singen. Ach ja, eine Rabin war da. Öffnet euch, meine Augen! Öffnet euch und schaut!
Aha! Noch immer sieht sie mich interessiert an, spricht schließlich: „Kroar kroar!“
Ich nix verstehen, nix Rabe, denke ich noch und schlage mir auch schon mit der rechten Hand an meine Menschenstirn: „Ach, was mache ich denn, wieso tue ich nichts? Die Lösung heißt doch Verwandlung. „Hallo, wie geht’s?!“, antworte ich ihr nun aus Syrinx und Schnabel auf rabisch.
Die Rabin aber spricht: „Träume noch ein wenig! Schwebe dann nach Osten! Dort triffst du die Drachen, die jetzt erwachen. Hörst du sie lachen, die da bewachen - schon lange keine Schätze mehr?“ Dann fliegt sie davon.
Und was tue ich? Fliege ich hinterher oder ...?
Ich bleibe, nehme meinen alten Menschenkörper wieder an und denke ein wenig nach über Raben, Zahlen und Magie: Rabenzahlenmagie. Ich sehe Bilder in mir. Ich höre, lebe es: Eins, zwei, fünf, zehn, einhundert.
Eins.
Eine Rabin, ein Rabe - eine Liebe.
Einst im Westen lebte Lug, der große Gott der gallischen Kelten. Lug aber trug auch andere Namen. Er war Lamfada, der mit der langen Hand, Samildanach, der Alleskönner, Meister des Handwerks und der Künste. Ihm verbunden war der Rabe. Heil dem Zauberer und dem Dichter. Er war der Lichte.
Dann war da der Rabe als Diener der Zauberer und Hexen. „Sieh dem Raben nicht zu lange in die Augen, sonst stiehlt er dir deine Seele und fliegt damit davon!“, sprach der Zwerg zu Sneewittchen.
Zwei.
Ein Rabenpaar. Einst lebten zwei Raben, Hugin und Munin, bei Odin. Ihm opferten die Normannen den Abt der Mönche. Odin aber ist Wodan, Gott des Krieges und Vater der Toten, der auf seinem Schimmel Sleipnir durch die Kältewüsten zieht. Wolf und Rabe sind ihm geweiht. Ein Auge gab er für die Weisheit hin, denn er ist der Gott der Dichtkunst und Ekstase. Seine Raben sandte er als Späher aus. Nachts raunten sie ihm ins Ohr, was sie auf ihrem Flug durch die Welt bei Tag gesehen hatten.
Fünf.
Im Frühling finden sich die Paare. Rabe und Rabin, aus eins und eins werden zwei, aus zwei werden mehr. Er bringt ihr einen Leckerbissen und zeigt ihr, was für ein Kerl er ist: segelt dahin, dreht und überschlägt sich. Beide fliegen sie synchron: das ist zeitgleicher, gleichstarker und gleichartiger Flügelschlag ... Eins-sein in Harmonie.
Nun sind wir wieder vereint - jetzt - für einen Augenblick - für alle Ewigkeit: Du und ich sind nun ein Rabenpaar, eine Familie, die bald Nachwuchs bekommen wird. Denn ich habe dich begattet, und du hast die Eier gelegt. Drei sind es im Nest dort oben in der Felsenwand, die nur Vögel wie wir erreichen können.
Dann kommt die Zeit der Geburten, brechen die Schalen auf, schauen drei Rabenkinder heraus. Wir füttern sie.
Zeit rast dahin. Frühling und Sommer. Schon wagt hechelnd unser erstes Kind seinen ersten Flug, und - landet auf dem Boden. Nebel liegt über allem am Morgen, Regen. Endlich bricht Sonn durch Wolken.
Sie fliegen, sie lernen, sie leben für sich mit den anderen in der Gruppe.
Du und ich sind wieder zu zweit, ein Rabenpaar für alle Zeit!?
Zehn.
Ein Rabe, eine Rabin, ein Rabenpaar, drei Kinder, fünf Raben. Zehn waren es einst. Weit im Osten lebte Shen-Yi, der himmlische Bogenschütze. Dort erzählt man sich die Sage, das vor langer Zeit zehn Sonnen in Gestalt von Raben das Leben der Erde bedrohten. Yi schoss neun von ihnen ab, ein Rabe blieb am Leben. Und deshalb kann man heute noch den dreifüßigen Raben im Sonn erblicken.
Einhundert.
Auf den Schlachtfeldern und an den Leichen der Tiere, die die Wölfe jagen und erbeuten, versammeln sich die Raben und nehmen sich die leckeren Bissen. Hundert Jugendliche finden sich im Winter im Tal ein. Dort gibt es jetzt Essen im Überfluss. Auch die Drei, die vor kurzem noch Kinder waren und die wir kennenlernten, sind dabei.
All diese Dinge sieht Manfred in sich, denn er erinnert sich an Vieles aus längst vergangenen Zeiten und fernen Ländern. Und während er all dies erlebt und im Lotussitz von West nach Ost schwebt, merkt er nicht, wie der Tag vergeht, wie es dämmert. Er landet und öffnet seine Augen.
Bist du es?, frage ich mich und betrachte dich noch immer.
Träumte ich nicht eben noch von dir und mir und unseren Kindern?
Was tust du hier? Und wo sind denn nun die Drachen?
Denn dort sitzt du so nah vor mir, groß und schwarz von Kopf bis Fuß und von Rabengestalt.
Doch sitzt du nicht auf einem Pfosten. Denn den wird es hier niemals geben: keine Menschen, keine Zäune, keine Pfosten! Also ist in der Außenwelt alles doch ein wenig anders als in Gedicht und Traum.
Also sitzt da kein Rabe auf einem Pfosten, sondern eine Rabin auf einem Zwei..., sie sitzt auf keinem Zweig, sondern auf dem verwitterten Stubben einer alten von einer Sturmbö gefällten Eiche, in dem die Larven des Hirschkäfers essen und wachsen, bis sie sich verpuppen, um zu schlüpfen.
Gedanken rasen: Schau sie dir an! Ist sie nicht wie Badb, die irische Göttin des Krieges? Komm näher! Geh dicht ran. Ja. Jetzt siehst du, was sie tut. Sie pickt an irgendwas dort unten, das sie mit den Zehen ihres rechten Fußes hält. Und immer wieder schaut sie auf, dreht den Kopf und senkt ihn wieder. Wechsel der Konzentration auf Mahlzeit und Blick in die Weite der Welt. Das ist Leben, Überleben! Dann fliegt sie davon und lässt die Reste auf ihrem Ruheplatz zurück.
Ich komme näher und sehe die Leichenteile eines kleinen Wesens, die Augen sind ausgehackt, der Bauch ist aufgerissen. Pelzig zwar und doch irgendwie menschlich, so winzig, so zart - soo tot! Mein Homunkulus fällt mir ein, den ich einst schuf nach meinem Bilde und Rainar nannte. Doch der kann es nicht sein, hier, so fern seiner Heimat. Und außerdem war er ja fast unbehaart. Ich weiß nicht, was für ein Wesen dies ist, doch verstehe ich, was geschah und gehe weiter.
Gehe ich wirklich durch den Nebel oder blieb ich längst stehen, und es sind die Nebel, die sich bewegen, deren Schleier an mir vorüberziehen? Gehe ich im Kreis, bin ich in einer Zeitschleife gefangen oder einfach nur verwirrt im Geist? Weiter, immer weiter gehe ich - oder glaube ich zu gehen, denn mein Wille ist eisern, auch wenn ich längst jede Orientierung verloren habe -, bis ich dich treffen werde - irgendwo und irgendwann. Was wird mich erwarten an einer Grenze, die weder aus Stahl noch Stein noch Holz ist, die niemand sieht, die niemand riecht, noch hört, die also gar nicht existiert!? Wie auch der Pfosten nicht, von dem ich träumte. Und war da eben überhaupt ein großer schwarzer Vogel auf einem Eichenstumpf? Erträumte ich ihn mir? Brachten die Nebel mir ein Bild aus längst vergangenen Zeiten? Gibt es die ewige Wiederkehr des Gleichen?
Denn jetzt taucht ein vom Blitz gespaltener, gebrochener Kiefernstamm vor mir auf. Darauf sitzt ein großer schwarzer Vogel, blickt herab, schaut mich neugierig an.
„Never more! Never more! Never more!“, klingt in mir Erinnerung an einen Raben anderswo, „Raven“ genannt.
„Hallo!“, spreche ich den einzig realen, den Raben - die Rabin - hier und jetzt an. „Kennen wir uns?“
Sie nickt mir zu - majestätisch, adlergleich -, sagt keinen Ton, schaut mich nur an.
So nenne ich dich Kolk, denke ich bei mir.
„Nein!“, ruft sie empört, die meine Gedanken liest, mit einem Krächzen in meinen Ohren und Worten in meinem Kopf. „Ich trage keinen Menschennamen“
„Verzeihung, Gnädigste! Sollte ich Sie einfach nur Wächterin nennen? Mein Menschenname lautet übrigens Manfred.“
Sie antwortet nicht.
Nun gut, denke ich, keine Empörung heißt einverstanden sein.
Menschennamen sind nichts für Raben.
Reden ist Silber, schweigen ist Gold.
Ich trete näher.
Lange sehen wir uns an.
Ich schaue zu ihr auf, die mich still betrachtet.
„Ich liebe diese Nebel nicht“, beende ich das Schweigen.
Sie lacht.
Und du, ja, liebe(r) LeserIn, DU! wunderst dich, dass Raben lachen? Die krächzen doch nur, denkst du.
Ja, in deinen Ohren krächzen sie, aber weißt du, wie deine Stimme in Rabenohren klingt?
Hier im Nebelland lachen Raben und sind vielleicht nicht einfach „nur „ Vögel. Denn wenn ein Magier sich in einen Raben verwandeln kann, wer kann dann schon sicher sein, dass ein Rabe ein Rabe ist ...
Und war nicht die Realität schon immer fantastischer als die Phantasie des Menschen?
Bist du dir sicher, dass in deiner Welt Raben niemals lachen? Woher willst du das wissen? Wer weiß schon, was Tiere fühlen?
Du weißt ja noch nicht einmal, was dein(e) Geliebte(r) bei deinem Streicheln wirklich empfindet - und erst beim Sex und ...
Noch immer lacht die Rabin leise vor sich hin.
Dann aber - welch Wunder! - antwortet sie doch, ohne ihren Schnabel zu öffnen, spricht sie in mir:
„Der Name war gut gewählt. Ich bin die Wächterin an den Grenzen.
Was willst du, Fremdling, im Nebelland? Wer bist du, der du dich hierher wagst? Wo kommst du her? Öffne dich und sprich!“
Jetzt aber schweige ich.
Doch sie spricht weiter: „Kommt Zeit, kommt Tod!“
Ich nicke ihr zu und spiegle ihre Worte.
Sie hört sie in sich und fragt. „Du willst es tun?“
Wir brechen auf. Ich folge ihr. Sie steigt auf, kreist über mir. Drei Kreise - und schon lichten sich die Nebel - ein wenig.
Dann kommt sie zu mir geflogen. „Kroar kroar!“
Rabenmensch oder Menschenrabe, das ist hier die Frage, fällt mir da ein, als sie sich auf mir niederlässt, sich ihre Krallen in meine Haut bohren und sich an die Schulterknochen klammern.
Für einen Augenblick nur sah die Rabin unter sich das Büffelfell des Menschen lichterloh brennen und sich darunter schwarze Rabenfedern aus weißer Haut entfalten. Dann ist da wieder nur der fellbekleidete Mensch, auf dessen rechter Schulter sie nun sitzt. Und doch sah sie noch ein wenig mehr: einen Rabenmann, der schaute sie an und alles war klar. Er ist Mensch und Rabe zugleich, ein Wesen nur, manchmal ein Rabe wie sie, der sich in die Lüfte erhebt und von den Toten isst, dies und das und mehr.
So trage ich sie mit mir dorthin, wo sie noch niemals war, denn ihr Revier sind die Grenzen, die Randgebiete, wo Leben, wie Menschen und Raben es kennen, noch möglich ist. Nun aber gehen wir ins Zentrum des Nebellandes hinein, dorthin, wo die Drachen wohnen. Sie hörte es den Wind flüstern, dass die Nebel vielleicht noch andere Wesen verbergen: winzige Elben und Feen, kleine Götter und große Dämonen.
Während wir so dahingehen und nichts weiter geschieht, spricht sie in mir: „Du hast gesehen, was ich aß? Das war kein Traum. Ich war es auf dem Eichenstumpf. Du weißt, was Raben tun in diesem Drachenland, hier wie dort, wie einst bei dir?“
Ich nicke ihr im Geist zu, sehe Bilder aus fernen Zeiten - von ihr, von mir, von uns: Raben und Krähenschwärme, die picken und hacken den toten Menschen die Augen aus und schlingen sie hinab. Und erst die Eingeweide! Unmengen von Darm stecken doch in Menschen und Pferden, die auf den Schlachtfeldern liegen, die weit draußen im Land starben, die kein Mensch fand, zu Asche verbrannte oder in ein Erdengrab legte!
„Ja“, unterbricht die Rabin die Bilderflut, „manche von ihnen leben noch, können sich nicht regen, nicht wehren. Laut schreien sie vor Schmerzen auf. Wir hören es. Manche von uns warten. Andere aber singen ein Lachen über ihr Leid und hacken freudig weiter. So ist es bei uns - Rabe ist nicht gleich Rabe. Solche gibt’s und solche. Die anderen sind am besten genährt. Sie überleben uns alle in Zeiten der Not. Also ist diese Welt nicht das Paradies.“
Ich nicke ihr zu, verstehe. Alles scheint mir höllendüster auf dieser Erde. Höllen - Feuer, denke ich. Bin ich denn ein Magier oder nicht? Erinnere mich und hebe meine Arme empor, schließe meine Augen und wachse gewaltig. Noch immer in Menschengestalt singe ich die Elbenworte. Aus tiefsten Tiefen in mir braust es weiß heran, glüht auf im Zentrum meiner Stirn, verlässt sie jetzt, bricht wie ein Sonnenstrahl hervor.
Schreiend weichen die Nebel zurück. Denn Licht zerteilt das Dunkel und bahnt sich einen Weg.
Stimmen aus fernen Zeiten und Welten sehen, staunen, murmeln und beten: „Und siehe, es war ein Leuchtender Pfad, ein funkelnder Weg, der sich durch feuchte Wiesen wand. Ein Pfad war es, glitzernd wie diamantenes Feuer. Es war der Kristallene Pfad seiner Sehnsucht, sein Lebensweg, der sich da schweigend am Morgen dieses einen neuen Tages auftat. Seht und staunt und betet. Denn er und sie sind ...“
Und nicht nur ich höre diese Stimmen, sondern auch die Rabin auf meiner rechten Schulter.
Und sie ruft lachend: „Ach, du bist es ja, von dem die Rabenweisen schon immer sagten, dass er eines Tages kommen werde, einer, der ist wie wir und anders doch zugleich. Kommen wird er, sprachen sie, um uns von Füchsen, Greifen und Menschen zu befreien. Du bist der Erlöser!“
Ich aber schweige, weil ich weiß, dass ich nicht der bin, für den sie mich hält. Immer wieder gab es einen unter den Menschen - und anderen Wesen, in dem manche den Messias sahen. Einer war es nicht, zumindest nicht der König, den sie sich erhofften. Er konnte es nicht sein. So ließen sie ihn ans Kreuz schlagen. Und doch verbreiteten sich seine Lehren und die seiner Jünger ... Weh mir, was mir passieren mag!
Die Rabin aber, die meine Gedanken liest und alles versteht, weint: „Du bist es also nicht! Und alles bleibt, wie es ist. Also ist das Rabenparadies auf Erden noch immer nur ein Traum.“
Ich bleibe stehen, trete für einen Augenblick aus meinem Körper und sehe sie lange an, die da auf meiner rechten Schulter sitzt, und erkenne dich wieder in ihr:
„Aber du bist es ja?! Du bist es und weißt selbst nicht, dass du es in Rabengestalt bist! Mein Gott, du bist die fehlende Hälfte des Mannes zum Menschen! Du bist meine Liebe, Nai... Welch seltsame Dinge geschehen nur hier mit dir und mir!?“
Diesmal aber versteht sie nichts, kann es mit ihrem Rabenverstand nicht begreifen.
So kehre ich in meinen Menschenkörper zurück.
So gehen wir schweigend und unvereint auf meinem Leuchtenden Pfad weiter, der sich schlängelnd durch den Nebel windet.
Was wir beide aber wissen, ist dies: Irgendetwas wird geschehen. Dieser Nebel wallt nicht umsonst. Dieser Nebel ist Tarnung für das, was darunter schlummernd oder lauernd liegt. Wir werden ihm begegnen. Und nichts wird wieder so sein wie zuvor. - Doch ist es nicht immer so?
So schritten sie still dahin. Wie Wächter ragten die schwarzen Äste und Gipfel toter Bäume aus der Nebeldecke empor. Alles war wie ein Traum - ein magisch schöner Traum, kein Monster nirgendwo, kein Alb. Also packten die Nebel weder Manfred noch die Rabin auf seiner Schulter. Also behielt er seine Führerin bei sich und ging mit ihr auf dem schmalen Pfad aus Licht durchs stille Moor, zu dem die Wiesen längst geworden waren.
„Schläfst du? Wach auf! Was siehst du?“, spricht irgendwer mit tiefer, donnernder Stimme tief in mir?
Ich schrecke auf. Schaue mich um.
Vor mir ragt ein gewaltiger Felsen aus den Nebeln auf, moosbewachsen, immer wieder zur Regenzeit von Bächen überströmt.
Nun gut - aber der redet ja!
„Fremder, du denkst, die Drachen wären vergangen, vor Zeiten gegangen, von Schwertern und Heiligen Lanzen der Ritter zerschlagen. Doch da irrst du gewaltig. Lausche meinen Worten und staune, wenn du denn hören kannst und willst!“
Also schließe ich meine Augen und lausche dem Sprechenden Fels:
„Einst zog ein Magier aus, der einen Menschenkörper trug, die Drachen zu suchen. Nach langer Zeit fand er sie endlich im Tal der Tausend Nebel.
‘Sei gegrüßt, Bruder!’, sprachen die Drachen in ihm.
‘Seid gegrüßt!’, antwortete er ihnen und wunderte sich nicht darüber, dass sie ihn ‘Bruder’ genannt hatten.
Sie führten ihn in das Zentrum des Steinernen Kreises. Dort sahen sie ihn mit ihren feurigen Augen an.
So schlief er ein und begann zu träumen, sah sich im All schweben und die dunkle Seite eines fernen Planeten betreten. Dort war es, wo ihn das Licht des roten Sonn so überraschend traf - denn die dunkle Seite blieb nicht finster, denn der Planet hatte begonnen, sich schneller zu drehen. Erstaunt sah er empor und schloss die Augen nicht, erhob sich von der Erde zu dem Lied, dem magischen Ton, den der Planet nun sang, hob seine Hände empor und sah sie staunend an. Denn seine Hände waren weder weiß noch gelb noch schwarz, sie waren nicht mehr nackt und doch ohne Fell und ohne Federn, sie waren von leuchtend grünen Schuppen bedeckt. Jetzt wusste er, dass er schon immer ein Drache gewesen war.“
Ich schrecke auf wie aus einem Traum und öffne meine Augen und - finde mich noch immer im Nebelland. Meine Hände sind Menschenhände: weiße, nackte Haut, wenig behaart. Keine Kleidung hüllt mich ein. Denn es ist warm geworden. Kein Sprechender Felsen - nirgendwo. Doch auch die Rabin auf meiner Schulter, die mir ihren wahren Namen nicht verraten wollte, hat mich unbemerkt verlassen. So bin ich wieder allein.
Welch seltsame Dinge ich doch träumte!? Ist alles wahr? War es, ist es oder wird es sein? Vielleicht aber bin ich gar nicht hier, sondern schlafe irgendwo in weiter Ferne, träume dort mehr, als manch einer sich erträumen mag, träume dort meinen Traum vom Nebelland, in dem ich träume zu erwachen und mir diese Fragen jetzt und hier zu stellen?
Traumfetzen hüllen mich noch immer ein, während ich mir verschlafen die Augen reibe. Bilder und Fragen, denke ich, Nebel hier und Nebel da, drei waren wir.
Drei.
Ich bin einer von denen, die sich einst trafen in einem anderem Nebeltal, irgendwo und irgendwann.
Drei in dunkle Mäntel gehüllte Gestalten sind wir - denn es ist klirrend kalt an diesem Morgen. Längst haben wir unsere Schwerter gezogen, erhoben. Dort oben berührten sich klirrend unsere Klingen. Dieses Klirren aber klingt und singt und hallt noch immer fort.
Ich sehe die anderen dicht vor mir und kann doch ihre Gesichter nicht erkennen. Denn dort, wo Augen, Nase und Mund sein sollten, ist nur Schwärze.
Dreimal Gevatter Tod wäre zweimal zu viel.
Sind wir alle drei Männer? Sind Frauen dabei? Ob die anderen überhaupt Menschen sind?
Erdenmutter bebt. Aufgehender Sonn, dessen erste Strahlen für einen Augenblick bis zur Erdoberfläche reichen und die Klingen zu rotem Feuer werden lässt.
Dann umhüllen uns wieder nur Nebel.
Stumm stehen wir unbewegt den ganzen Tag, den Abend und die Nacht.
Um Mitternacht geschieht es, schlägt der Blitz ein, wirft Feuer in die Dreiheit/Einheit unserer Schwerter.
Sie brennen in weißem Licht.
Weiter frisst sich die Glut - z e i t l u p e n h a f t - von der Spitze zur Basis der Klinge, zum Griff, zur Hand, zum Arm, zum Rumpf.
Drei glühende Fackeln in der Nacht sehe ich nun.
Und eine davon war ich?
Erinnere ich mich?
Ja.
Wenig später trennten wir uns.
So geschah es irgendwo und irgendwann. Doch dies ist alles längst vergangen, auch wenn es bis in alle Ewigkeit weiterwirkt, ganz wie der Flügelschlag eines Schmetterlings auf Erden einen Sturm zur Folge haben kann.
Vielleicht werde ich eines Tages mehr sehen und - verstehen.
„Kroar kroar (Nebel, Nebel)!“, ruft eine Rabin irgendwo aus der Ferne.
Aha, das war der Weckruf, denke ich, ein Zeichen, Zeit für den Aufbruch.
Also stehe ich auf und gehe weiter, taste mich durch die kühlen Nebelschleier, die sich verwandeln, sobald sie mich berühren: Wasser und Kälte gehen und mit ihnen Menschenhaut und Menschenhaar. So entkleiden sie mich Nackten weiter. Und sind sie nur ein Hauch, so wirken sie doch wie Säurerauch: hüllen mich ein, legen mich frei.
Nein, ich schreie nicht. Keine Schmerzen. Jetzt erst verstehe ich, weiß ich, was vor mir liegt - wer dort liegt. Es sind die Drachen! Es gibt sie wirklich. Dort warten sie auf mich seit „Ewigkeiten“. Sie warten und wachen. Sie werden erwachen und mir die eine Frage stellen. Wer sie weiß, darf weiterleben. Wer nicht ... Aber das weiß ja jedes Kind, das Märchen hörte, las oder sah. Also auch ich, der ich einst in einer anderen Welt mit Namen Stadt geboren wurde, aufwuchs, den alten Geschichten lauschte und schließlich selbst Märchen, Mythen und Legenden las.
Überall kann mein Pfad erlöschen, jederzeit kann alles zu Ende sein. Noch aber leuchtet er, strahlt mein Geist, der sich nun immer mehr leert. Stille wächst, Gedankenströme hören auf zu fließen.
Schau: Manfred schreitet, nein, jetzt schwebt er ja wieder im Lotossitz, folgt so einem schmalen Pfad aus Licht durch ein Land, das dir fremd scheinen mag und es doch nicht ist, weder Menschen, Tieren, noch Pflanzen.
Denn alle Körper hier unten sind aus ihrem Stoff gewoben, alle Welten, die er bisher durchwanderte: Stadt , Wald und Nebelland sind Teil der einen großen Welt, unserer aller Mutter ERDE.
Keine Gedanken. Leere.
Aus dem Zentrum seiner Stirn bricht ein weißes Licht, leuchtet Manfred den Weg, der die Augen längst bis auf einen Spalt geschlossen hat.
Jenseits des Leuchtenden Pfades wallen die Nebel wie schon seit Urzeiten. Stille ist allüberall. Nirgendwo ist das Quaken eines Frosches oder Vogelgesang, also auch keine Rabenrufe.
Ist dies die Ruhe vor dem Sturm?
Warten wir also gespannt auf die Dinge, die da kommen. Oder aber auf Godot? Doch wer oder was war denn das noch mal? Also warten wir auf das Erscheinen der Herren des Nebellandes - wenn es sie denn gibt. Bei all der Düsterheit und dem Nebel könnten es Zombies sein. Oder Dracula, der Vampir, Nosferatu gar. Ja, wenn dies eine von Menschen erdachte Welt - Traum, Erzählung, Theater, Buch, Film - wäre. Aber so ist es ja nicht.
Wenn da aber Drachen leben, wie Manfred meint, sind nicht auch sie nur Wesen aus Menschenträumen, nicht mehr als Märchengestalten? Warum sollten echte Drachen Menschenschätze rauben und bewachen? Weshalb sollten sie zu welchem Zweck auch immer Menschenprinzessinnen entführen? Oder wer hörte je davon, dass Menschenmänner Krokodilfrauen raubten, weil sie sie begehrten? Drachen könnten ganz anders sein, als Menschen meinen. Gab es sie denn einst einmal irgendwo? Haben die alten Geschichten einen wahren Kern? Was ist Wahrheit, Fantasie, was Lüge?
Ich öffne meine Augen und schwebe noch immer und sehe sieben Raben vor mir auf dem Ast einer uralten Weide am Ufer des Nebelsees sitzen. Es sind die ersten lebenden Wesen seit langem.
Noch immer ist alles still. Denn auch die schwarzen Vögel schweigen.
Staunend - nein, nein, nicht mit offenen Schnäbeln - staunend schauen sie das Licht und den Menschen.
Sieben an der Zahl, diese fehlt ja noch in meiner Rabenzahlenmagie, denke ich und mir fällt ein Märchen ein. Es heißt Die sieben Raben:
Sieben.
Einst hatte ein Paar sieben Söhne, aber keine Tochter. Als diese endlich schwächlich zur Welt kam, sollte sie noch die Nottaufe erhalten. Also schickte der Vater seine Söhne aus, Wasser zu holen. Doch der Krug fiel in den Brunnen und die Söhne trauten sich nicht heim. Die Zeit verging, und ihr Vater sprach im Zorn: „Ich wollte, dass sie alle zu Raben würden!“ So verfluchte er sie und so geschah es: als Raben flogen sie davon. Sie aber überlebte und wuchs heran, so wunderschön und erfuhr erst spät, dass sie sieben Brüder hatte, zog hinaus in die Welt, um sie zu finden, und gelangte ans Ende der Welt. Dort traf sie auf Mondin und Sonn, die zu ihrer Zeit Menschenfresser waren. Die Sterne aber waren freundlich, einer von ihnen, der Morgenstern gab ihr den Schlüssel - das war ein Hinkelbein - zum Glasberg, in dem die Raben wohnten. Doch sie verlor den Schlüssel und musste einen Finger opfern, um ihre Brüder zu erlösen: aus Raben wurden wieder Menschen.
Verwünschung, Erlösung, Verwandlung von Menschen in Raben, von Raben zurück in Menschen, Geschwisterliebe und Opfer: Fleisch und Blut erlösen die Verfluchten.
„Kroar kroar“, höre ich Sieben Raben rufen.
Bilder steigen auf, geboren – wiedergeboren, Gedanken beginnen zu kreisen: Krähenkrächzen, Rabenkrähen, Raben, die hier leben, sich ernähren vom Nachwuchs der Kleinen, von Kranken und Leichen. Augen und Gedärm, Knochen und die Reste der Felle und Federn verbrannter Tiere.
Feuer. Flammen. Drachen! Nicht Wächter, nicht Wachen!
Erwachen die Drachen?