Читать книгу Wandlungen der Drei - Rainar Nitzsche - Страница 6
Chinesische Landschaft
ОглавлениеWie lange war es her, dass ich aufgebrochen war, mein altes Leben abgeworfen und eine Welt mit Namen Stadt hinter mir gelassen hatte?
Wie viel Zeit verging, seit ich die Lichtung verließ, wo ich um dich trauerte, meine einzige große Liebe, bis ich Ihn Dort Oben sah?
Tagelang war ich den verschlungenen Wegen gefolgt und nächtelang meinem Leuchtenden Pfad. So gelangte ich schließlich aus dem finsteren Wald auf eine singende Wiese. Staunend blieb ich stehen und sah empor: wie hell und voll die Mondin hier doch schien. Ich suchte mir einen Platz im Zentrum der Lichtung und legte mich hin.
Öffne meine Augen am Morgen und schließe sie wieder, höre Vogelzwitschern, dazwischen die heisere Stimme einer Krähe. Unter und über allem liegt Stille, weit und breit sind da weder Menschenworte noch Maschinenlärm.
„Wo bin ich?“, flüstere ich mir leise zu.
„Wer bin ich?“, schallt das Echo aus mir heraus.
Brandet empor Erinnern, ein Ruf, zwei Silben: „Man-fred!“
Ja, der bin ich. Doch das ist nur ein Menschenname.
Erst der Name, dann strömen die Bilder der Welt empor, Erinnern: Einst waren da Häuser und Straßen in der Welt mit Namen Stadt, dann geschah der Übergang.
Einst war da eine Welt mit Namen Wald. Tiere und Menschen. Sieben Samurai und eine Frau - ach, Liebe, dein Name ist Nairra!
Doch war da auch der Andere, der Dunkle, der alles zerstörte: Drefman! Er war Schwärze und Qual und Tod.
Sie alle sind gegangen: weggegangen, dahingegangen, vergangen.
Ich aber blieb - übrig - allein.
Weshalb, warum, wieso?
Nun bin ich hier auf dieser Lichtung, drehe mich im Kreis, schaue mich um, lausche, atme, rieche und schmecke die Luft.
Nun bin ich hier und lebe, noch immer oder wieder, immer wieder?
Geboren und geworden zu dem, der ich bin: Manfred der Magier: ein Mensch, ein Menschenmann. Und langsame lerne ich, die Dinge und Wesen zu lieben, nicht wie ich sie gern hätte, sondern so, wie sie sind. Am meisten aber liebe ich die Stille.
Und während ich S-T-I-L-L-E denke, verstummt die Natur.
Ich atme Stille ein ...
Alles zerfließt ohne Laut, entschwindet sanft, doch unaufhaltsam.
„Mein ganzes Leben schmilzt dahin!“, weine ich beim Anblick der braunen, gelbroten Blätter der Bäume. Nichts bleibt für die Ewigkeit. Nichts nehmen wir mit auf unserem Weg. Alles verblasst! Kein Grün ist zurückgeblieben!
Also gibt es keine Hoffnung?
So gehen die liebgewordenen Dinge dahin und wandeln sich in Erinnerungen, die nichts als schwacher Abglanz des Lebens sind, Fragmente, Lügen, die nun lautlos in mir sterben.
Innen wie außen, oben wie unten.
Ich sehe das Herbstlaub der Eichen und Buchen fallen.
So fielen die Blätter einst in der Stadt von anderen Bäumen - Robinien und Platanen. Dann wurden die Bäume von den Maschinen der Menschen niedergesägt.
Fall - fall - The Fall of the House of ... nicht Usher, sondern Manfred - mein Untergang, mein Sterben!?
Vater Sonn sinkt leuchtend rot, gewaltig und doch so fern, verschwindet dort im Westen in der Unterwelt.
Tränen weine ich in wachsende Nacht.
Weil alles ringsum stirbt?
Weil alles stirbt - in mir!
Kein Erinnern, kein Gestern mehr und noch kein Morgen.
Jetzt ist der Augenblick. Doch der ist voller Trauer.
Dann irgendwann ist alles vorbei. Ich schaue mich um, drehe mich noch immer langsam im Kreis, hebe meine Arme empor, steige in die Schwärze auf, durchbreche die Wolkendecke, falle weiter und weiter in sternenleuchtendes Himmelsmeer, wo sie - ich sehe sie und lache und rufe es laut hinaus: „Ach, Schwester!“ - wo voll die Mondin scheint.
Ein Blitz aus schwarzer Leere: Erinnern an den Leuchtenden Pfad, der mich einst von irgendwoher nach irgendwohin führte.
Mag sein, dass da unten auf Erden dem Herbst der Winter folgt und dem Schlaf die Wiedergeburt des Frühlings, mag sein.
Sicher ist: Die Wald-Welt ist nun in mir gestorben.
Ein Wort nur, gesprochen in zwei Sprachen, flüstert eine Stimme, sprechen Kehlkopf, Mund und Lippen nach, ein Wort nur, das sich immer wieder wiederholt: „gate gate ... gegangen, gegangen ... gate gate“
Menschenliebe, Menschenleid, Vergangenheit. Einmal lebe ich nur, jetzt und hier. Dann ist Dunkelheit und Stille - oder aber Schlaf und Traum.
Schau, wie Manfreds geschlossene Lider dort oben in den Nachthimmeln zucken!
Etwas taucht aus den Nebeln auf. Es ist ...
Der Drache grüßt. Er öffnet seinen Mund.
Kein Feuer!
Etwas anderes kommt hervorgeschossen. Eins? Nein! Zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben. Er spuckt sie alle aus. Sieben Samurai erwachen zum Leben.
Ich sehe sie und lese in ihren Gedanken, während sie sich vor mir verneigen. Nehme sie zugleich aus einem anderen Winkel wahr, fühle und lebe die Erinnerungen des großen Drachen.
Ich öffne meine Augen, weiß nicht, wo ich bin, wundere mich über meinen Traum, den letzten, den einzigen dieser Nacht, an den ich mich erinnere. Wie seltsam er doch war! So klar und deutlich und real.
„Brachte mich mein Traum hierher? Wohin?“, flüstere ich mir zu, drehe mich im Kreis, schaue mich um und sehe - nichts. Schwärze überall und Stille.
Dann wandelt sich alles in wallendes Weiß, steigt auf aus nie gesehenen Schlünden. Die Schwärze verschwimmt hinter wirbelnden Nebeln.
Ich öffne meine Augen ein zweites Mal. Also träumte ich nur zu träumen, aus meinem Traum zu erwachen und in Nebeln zu zerfließen! Also bin ich irgendwann irgendwo gelandet. Ich schaue mich um und sehe - Nebel.
„Vergessen auch hier?“, rufe ich laut und lausche.
Doch da sind weder Echo noch Antwort. Die Nebel schweigen.
Benebelt sind meine Sinne: Mein Augenlicht ist ohne Licht blind.
„Wo bin ich?“, flüstere ich mir zu, höre, rieche nichts und sehe noch immer nur Nebel. Taste mit meinen Händen und fühle feuchtes Gras zu meinen Füßen.
Also bin ich in einer Wiese, an einem anderen Ort zum Leben wiedererweckt. Tief atme ich die Morgenluftfrische. Es riecht nach Erde. Alles kehrt wieder zurück, denke ich, hinweg mit diesen letzten Morgennebeln, es werde Tag!
Und tatsächlich, so geschieht es: gewaltig steigt der Morgensonn auf, lässt Tau und Nebel verdampfen. Neu werden Farben und Bilder geboren. Mild ist der Duft. Freie Sicht für einen Augenblick, bis der Vorhang wieder fällt?
Ich liege auf dem Rücken in der Wiese. Über mir rasen Wolken lautlos ins Nichts. Dann hüllen mich wieder Nebel ein.
Nun gut, geht’s nicht so, dann geht’s eben anders. Ich stehe auf, drehe mich langsam um meine Achse. Und während ich mich weiterdrehe, steige ich auf und schaue hinab, ganz so, wie ich es schon einmal tat.
Welch seltsames Land und doch so bekannt! Ein Land, das ich irgendwo schon einmal sah? Oder nahm es ein anderer andernorts wahr und sandte mir die Bilder zu?
Ja, mein Herr und Meister, der mich nach seinem Ebenbild schuf, Er Dort Oben war es, der es „Nebelland“ nannte, alles erträumte Er sich. Oder aber ... Doch dies nur zu denken, wäre schon „Gotteslästerung“ - und die Strafe folgte sogleich, es sei denn, Er Dort Oben wäre ein gütiger „Gott“ und hörte meine Gedanken, die Er mich denken lässt, und lächelte. Ach ja, ich weiß, Er tut es ja! So kann mir nichts geschehen, also denke ich es zu Ende: Oder aber diese Landschaft entsprang gar nicht Seinem Geist. Er sah sie nicht in sich, sondern mit Seinen Augen irgendwo dort draußen vor sich. Vielleicht war da einst und irgendwo in Seiner Welt nur ein Gemälde an einer Wand, nicht mehr und auch nicht weniger. Viele Jahre könnten seitdem Dort Oben vergangen sein, wenn es denn Dort überhaupt Jahre vergleichbar mit denen hier hunten gibt. Längst könnte das Bild dort nicht mehr hängen, wo es einst hing. Doch was spielt das schon für eine Rolle?!
Einmal vor langer Zeit war Er Dort Oben ganz ergriffen von diesem Bild einer selbst für Ihn so fernen Landschaft mit kiefernbestandenen Hängen und Nebeln in den Tälern. Da konnte Er nicht widerstehen. Also betrat Er dieses Land - doch nur in Seinen Träumen.
Ich aber, der ich bin wie Er, gleite sanft zu Boden, lande sicher auf meinen Füßen, schließe stehend meine Augen. So sehe ich nun, was Er einst sah, sehe Ihn jetzt in einer Stadt mit Namen Kaiserslautern staunend das Gemälde betrachten.
Schon beim ersten Mal war es ihm aufgefallen. Welch grandiose Landschaft, dachte er gänzlich überwältigt von den Bergen, den Nadelbäumen, dem tosenden Bach, der da so tief ins Tal hinunterstürzte, in das weite Land der Inseln und Nebel.
Dann irgendwann, an einem Faschingsdienstag vielleicht, ja, so war es, geschah es. Er besuchte wieder einmal dieses eine Chinarestaurant, das es schon längst nicht mehr in seiner Stadt gibt, betrat wiederum den GOLDENEN DRACHEN. Diesmal setzte er sich so, dass die Landschaft beim Essen ausgebreitet vor seinen Augen lag. Jetzt traute er sich endlich, die ältere Chinesin zu fragen, wo die echte Landschaft, das Vorbild, denn läge.
„Irgendwo in Rotchina“, antwortete sie, die wohl wie die meisten Chinesen zu jener Zeit in Deutschland von Taiwan oder aus Hongkong kam. Genauer wusste sie es nicht.
Aber spielt das denn eine Rolle? Selbst seine Frage, hatte die denn einen Sinn? Was hätte er gewonnen, wenn er es erfahren hätte?
Nun blieb noch das Rätsel der Schriftzeichen oben links in der Ecke. Sahen sehr chinesisch aus, wunderbar gemalt in seinen Augen. Doch ohne Klang in seiner Kehle, für ihn nur Bilder und keine Worte. Denn sein Chinesisch war nun mal nicht sonderlich, genau genommen, gar nicht existent. So war es eben damals zu seiner Zeit in seiner Welt: Es gab zahlreiche Sprachen. Doch die meisten Menschen hatten nur eine gelernt . Wie auch immer, an diesem einen Tag war er mutig und fragte die Chinesin ein zweites Mal, diesmal nach der Bedeutung der Schriftzeichen.
„Poesie“, lautete ihre Antwort.
Vielleicht wusste sie auch nicht mehr oder konnte es gar nicht lesen und schon gar nicht übersetzen. Wer weiß, wer weiß!
Mehr erfuhr er damals nicht und niemals mehr in seinem kurzen, langen, ewigen Leben. Er aß seine Suppe, Hühnerfleisch mit Reis, trank Jasmintee dazu, bezahlte und ging.
Zu Hause träumte er von der chinesischen Landschaft. In seinem Traum ging er zum Bild hinüber. Das Restaurant war leer, er konnte sich nicht erinnern, wie er hineingekommen war. Aber das war ohne Bedeutung. Er war zurückgekehrt zu dem, was ihn schon so lange gerufen hatte. Er war dem Ruf gefolgt, aber nicht dem Ruf der Mondin und nicht dem Leuchtenden Pfad. So stand er allein und klein und staunend so nah wie nie zuvor davor.
Seltsam nur war, dass er sich zugleich von seinem Stammplatz aus vor dem Bild stehen sah - Mecki fiel ihm ein, Lektüre aus der Jugendzeit, Abenteuer in Serie in einer Rundfunkzeitung mit Namen Hör zu bei seinen Großeltern. Darin geschah es einmal, was jetzt wieder geschah, was diesmal ihm selbst geschehen sollte?
Ja. Erst stand er nur staunend da, dann wurde er immer kleiner, schrumpfte bis auf die Größe einer Menschenhand, konnte gerade so über den unteren Rand des rahmenlosen Gemäldes schauen. Seine Hände griffen nach vorne, spürten hartes Gestein. Er zog sich hoch. Schon hörte er den Wasserfall in der Ferne tosen. Seinem Oberkörper folgten die Beine.
Jetzt war er im Land seiner Träume. Er lief in die Weite, lief ins Land hinein, dem Nebelland entgegen.
„Ich komme!“, hörte er sich rufen und immer wieder seinen Ruf von den Bergen widerhallen. Doch im Echo waren Silben verlorengegangen: „Komm! Komm!“, klangen die Worte in seinen Ohren.
Rasch lief er, immer weiter, so schnell ihn seine Füße trugen, hin zu der fernen Schlucht zwischen den beiden Gipfeln der Berge. Denn dort lag sein Ziel.