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Vom Paradies in die Hölle

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Erleichtert und voller Hoffnung auf Mutters baldige Genesung verließen wir die Klinik. Doch schon am darauf folgenden Tag war derselbe leitende Arzt der Notfall-Wachstation nicht wiederzuerkennen. In der Urologie sei kein Bett frei. Inkontinenzprobleme würden sowieso nur ambulant behandelt. Dass Gerda gehbehindert sei, spiele dabei keine Rolle. Am Ende fiel sogar das Argument: „Vielleicht sind die Kollegen in der Urologie ja auch der Meinung, dass bei Ihrer Mutter mit 92 Jahren eh‘ nichts mehr zu machen ist!“ Ich war geschockt. Das Einzige, was ich nach langer Diskussion erreichen konnte, war die Zusage eines Termins für eine ambulante Blasenuntersuchung etwa einen Monat später und Gerdas Verbleib in der Klinik, bis die häusliche Versorgung durch den Pflegedienst wieder gewährleistet werden konnte. Petra war genauso geschockt wie ich, als ich ihr das Ergebnis meines Klinikbesuches berichtete: „Ein ganzer Monat Wartezeit, das kann doch nicht wahr sein. Hoffentlich steht Mutti das durch!“

Aus einem wohlgeordneten Umzug von der Klinik zurück in Gerdas eigene vier Wände wurde leider auch nichts. Sie kam erst einmal auf eine normale Krankenstation, in der für uns abends leider kein Arzt für Auskünfte zu erreichen war (weil dieser Arzt selbst krank zuhause lag). Immerhin genoss Gerda auch dieses Mal ihre Zeit im gepflegten und gut betreuten Krankenzimmer, obwohl sie die fast täglich wechselnden Mitbewohnerinnen in dem kliniktypischen Zweibettzimmer doch etwas nervten. Zu laut, zu viel Besuch, zu viel Fernsehen. Trotzdem war sie guter Hoffnung: „Heute morgen war ein Professor da, der hat mich unten genau untersucht und mir versprochen, dass mir mit meiner Blase geholfen wird!“ Was war das? Hatte die Klinik doch ein Einsehen? Andere Informationen hatte ich nicht, und so kam ich zu der Annahme, dass meine Mutter doch noch während ihres Klinikaufenthaltes auf ihre malade Blase hin untersucht werden sollte. Leider entbehrte diese Annahme jeder Grundlage, wie sich später herausstellte. Aber ich versäumte auf Grund dieser Fehlinformation das Notwendigste, mich nämlich umgehend um die Wiederaufnahme von Gerdas häuslicher Versorgung zu kümmern.

Die Quittung kam prompt: Eine am Telefon eigentlich sehr nett klingende Dame von der Sozialstation der Klinik rief mich morgens bei der Arbeit an und teilte mir mit, dass man Gerdas Bett dringend benötigen würde und ob sie jetzt nicht nach Hause könne. Ich verneinte: „Meine Mutter hat mir gesagt, dass ihre Blase noch behandelt werden solle.“ Das sei nicht richtig, informierte mich die Dame, es bleibe bei dem ambulanten Termin am 4. Dezember – in gut einem Monat. Eigentlich würden in der Klinik alle darauf warten, dass Gerda nach Hause käme und das Bett frei werden würde. Dafür wolle sie meine Zustimmung einholen. Für einen Moment juckte es mich, diese Zustimmung zu verweigern und abzuwarten, was dann passieren würde. „Zu Hause ist meine Mutter vollkommen unversorgt und ich bin auf dem Sprung zu einer Dienstreise, ich kann mich also nicht um sie kümmern.“ Was mit meiner Frau wäre? „Meine Frau ist ebenfalls berufstätig und tagsüber auch nicht verfügbar.“ Wie es denn mit einem Kurzaufenthalt im Pflegeheim sei? Gerda stünden in der Pflegestufe 1 achtundzwanzig Tage Kurzzeitpflege zu, dass könne man doch ausnutzen, bis sie wieder in ihre eigene Wohnung käme?

Ich war überhaupt nicht begeistert, im Gegenteil, nach der unbefriedigenden Diskussion mit dem Krankenhausarzt hatte ich jetzt schon wieder Grund, auf die Klinik sauer zu sein. Denn die Anruferin hatte ja soeben bekräftigt, dass sie meiner Mutter in der Klinik die notwendige Soforthilfe wegen ihrer Urinprobleme verweigern würden. Und nun wollten sie sie auch noch abschieben. Einfach so, von jetzt auf gleich!

Aber was gab es für mich für Alternativen? Welchen Sinn würde eine Weigerung meinerseits machen? Am Ende gab ich nach und stimmte zu, Gerda in ein mir vollkommen unbekanntes Pflegeheim zu verlegen, auch wenn ich kein gutes Gefühl dabei hatte. Der Klinikdame war das egal. Gerdas Verlegung ins Heim wurde schneller in die Tat umgesetzt, als ich auf Dienstreise gehen konnte. Nach dem morgendlichen Telefongespräch war sie schon mittags im neuen Zuhause, während ich – anstatt wie geplant zum Bahnhof zu fahren – in ihrem eigentlichen Wunsch-Pflegeheim saß und mit der Verwaltung darüber diskutierte, wie man Gerdas spätere Rückkehr in ihre eigene Wohnung am besten organisieren könne. Erst danach fuhr ich zum Bahnhof.

Abends berichtete mir Petra per Telefon von Gerdas ersten Erfahrungen mit der Kurzzeitpflege: Nicht Petra, sondern unsere Nachbarin Yvonne hatte mit ihrer Tochter meine Mutter als Erste in ihrem neuen Zimmer besucht, dabei Gerda bildlich gesprochen auf (noch) gepackten Koffern vorgefunden mit dem dringenden Wunsch, dort sofort weggeholt zu werden. Hier wolle sie auf keinen Fall auch nur eine einzige Stunde länger bleiben.

Bis heute ist mir nicht klar, denn weder Yvonne noch Petra noch Gerda selbst – mit der ich kurz danach telefonierte – konnten mir genau Aufschluss geben, was denn nun an diesem für ihre Kurzeitpflege von der Klinik ausgewählten Pflegeheim so schrecklich war, dass man es dort nicht wenigstens vorübergehend ein paar wenige Tage aushalten konnte. Sicher es war ein altes Gebäude (das ehemalige Arbeitsamt, das mir vor Jahrzehnten zu meiner jetzigen Arbeit verholfen hatte), rein optisch auch nicht besonders sorgfältig renoviert, in den Fluren roch es zudem etwas unangenehm. (Nach Urin, meinte Petra) Aber das Zimmer war ausreichend eingerichtet, das Essen war okay, es gab ein Atrium und sogar ein kleines Restaurant und eine gemütliche Sitzecke im Flur. Auf meinen beruflichen Reisen war ich nicht selten bescheidener einquartiert.

Vielleicht missfiel Gerda die Tatsache, dass sie das Badezimmer mit einer anderen Frau teilen musste, aber auch das war nicht anders als in der Klinik. Im Nachhinein erscheint mir am wahrscheinlichsten, dass die ihr unbekannten Pflegekräfte weniger freundlich oder hilfsbereit waren als erwartet und dass es gleich am Anfang ihres kurzen Aufenthaltes kontroverse Diskussionen über ihre medizinische Versorgung und anderes gegeben hatte. Aufschluss hätte ich vielleicht erhalten, wenn ich miterlebt hätte, wie sie sich vier Tage später vom Pflegepersonal verabschiedete. Als sie endlich feststellen konnte, dass es in dieser von ihr als Hölle auf Erden wahrgenommenen Unterkunft für sie persönlich nichts mehr zu befürchten gab und es jetzt endgültig zurück in ihre Wohnung ging, schrie sie ihren Frust heraus, dass die Wände wackelten. Das Personal war zutiefst erschrocken über diesen plötzlichen Wutausbruch und Petra ebenso. Ich bekam von alledem leider nichts mit, weil ich gerade Muttis Koffer und ihre anderen Utensilien im Auto verstaute. Jedenfalls trauerte Gerda diesem Pflegeheim keine Minute nach, und umgekehrt war es wohl genauso.

Tod einer Kassenpatientin

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