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Es begann im September

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Spätsommer 2012: Im Gegensatz zur heutigen Affenhitze war der Tag, an dem die Schwierigkeiten für uns begannen, angenehm warm und sonnig. Der Herbst war noch in weiter Ferne. Wir, meine Frau Petra und ich, waren gerade von unserem Ostseeurlaub zurückgekehrt, hatten Gerda unsere Urlaubsbilder gezeigt und waren auf dem besten Wege, wieder vollkommen der üblichen Alltagsroutine zu verfallen. Nach der Arbeit war ich wie auch zuvor mindestens einmal in der Woche bei meiner Mutter zum Abendessen eingeladen. Gerda kochte gern und freute sich ebenso sehr auf meine Gesellschaft wie auf das gemeinsame Essen. Heute gab es mein Leibgericht: panierte und in Butter gebratene Hähnchenteile, so frisch und lecker, wie sie kein anderer Mensch als meine Mutter zubereiten konnte. Dass dieses Mal Vorsuppe und Nachspeise fehlten, was bei meiner Mutter sonst nie vorgekommen war, fiel mir zunächst gar nicht auf. Ich freute mich zu sehr über das gute Hauptgericht.

Dann passierte es. Gerda senkte den Kopf und schaute auf ihren Teller. Angesichts ihrer ehrfürchtigen Haltung erwartete ich ein Tischgebet. Stattdessen sagte sie plötzlich – nicht sehr laut, dafür aber umso bestimmter: „Das ist jetzt die Henkersmahlzeit!“ Ich ließ vom Essen ab und schaute sie verblüfft an. Petra und mir war es bisher immer so vorgekommen, als ob Gerda zu denjenigen vom Glück begünstigten Menschen fortgeschrittenen Alters zählte, an denen der Tod kein besonderes Interesse zu haben schien. Die vielleicht sogar ihre eigenen Kinder überleben würden. Zwar klagte sie seit einiger Zeit, dass sie zunehmend schlechter schlief, nach mancher Nacht auch mal über Übelkeit und Erbrechen. Doch ihre über siebzig Quadratmeter große Wohnung versorgte sie fast vollkommen allein mit nur wenig Hilfe von unserer Seite. Ihre Lebensmittel bestellte meine Mutter von ihrem eigenen Telefax-Gerät aus bei einem großen Lebensmittelhändler, sodass wir ihr außer unserer regelmäßigen Gesellschaft beim Essen und beim Bauernrommé wenig zu bieten hatten. Es war ihr wichtig und sie war stolz darauf, es bis ins 93-zigste Lebensjahr geschafft zu haben, ohne „den Kindern“, sollte heißen: ohne Petra, meiner ohnehin weit entfernt lebenden Schwester Eva und mir „zur Last zu fallen“.

An dem besagten Septembertag bestand allerdings kein Zweifel mehr, dass sie ihre Aussage absolut ernst gemeint hatte. Denn sie legte noch nach: Nachdem sie schon einmal kurz den Gedanken geäußert hatte, ins Pflegeheim zu wollen, dann aber wieder davon abließ, meinte sie nun, jetzt wäre es wohl wirklich an der Zeit, diesen für sie sicher nicht einfachen Schritt aus der Selbstständigkeit in eine fast vollständige Abhängigkeit von Anderen in die Tat umzusetzen. Schade nur, dass sie selbst ebenso wie wir überhaupt keinen Plan hatte, was nun konkret zu tun war. Denn weder Petra noch mir war klar, wie wir den Wunsch meiner Mutter realisieren sollten und konnten. Da unsere Ehe kinderlos geblieben war, verfügten wir über keinerlei praktische Erfahrung, wie es war, für nahe Angehörige zu sorgen. Denn auch um Petras Eltern und um meinen schon vor vielen Jahren verstorbenen Vater hatten sich andere gekümmert: Meinen Vater hatte meine Mutter bis zum Ende selbst versorgt, und auch Petras Eltern waren nicht in unserer Obhut gestorben.

Wir waren also erst einmal vollkommen ohne Orientierung und ziemlich ratlos. Das einzige, was ich meiner Mutter sofort geben konnte, war eine Informationsbroschüre des örtlichen Sozialamts mit einschlägigen Telefonnummern. Ich bat Gerda, sich dort einen Termin für ein persönliches Beratungsgespräch in ihren eigenen vier Wänden geben zu lassen. Aber entweder war meine Mutter, das Amt oder beide gemeinsam überfordert, jedenfalls kam es nie zu diesem Gespräch.

Stattdessen fingen wir an, mit Freunden und Bekannten über Gerdas Wunsch nach Pflege und Betreuung zu diskutieren. Der entscheidende Hinweis für eine eigentlich ziemlich nahe liegende Lösung kam von Yvonne, unserer Nachbarin, die während des Urlaubs mehrmals nach Gerda geschaut hatte:

„Da gibt es doch dieses neue Pflegeheim im Gartenweg, das ist wohl ganz gut.“

Und weiter:

„Ich bin mal dagewesen und habe mir alles angeschaut, als es noch nicht vollständig eingerichtet und bezogen war. Ich kann natürlich nicht sagen, wie man dort heute so wohnt. Damals fand ich alles aber ausgesprochen freundlich und modern.“

„BINGO - das ist die ideale Lösung!“, dachte ich spontan. Das Heim, von dem Yvonne sprach, lag direkt neben meiner Arbeitsstelle. Nur eine einzige Häuserzeile trennte mein Büro von diesem Pflegeheim. Tag für Tag fuhr ich dran vorbei, wenn ich zur Arbeit wollte. Einfach genial – nur dass ich nicht von selbst auf diese einfache Lösung gekommen war, verblüffte mich: Hier würde ich Gerda ganz in meiner Nähe haben, hier würde ich mich noch besser um sie kümmern können als in ihrer jetzigen, fast am anderen Ende der Stadt gelegenen Wohnung. Nach ihrem Umzug würde ich sogar wieder häufiger auf das Auto verzichten und viel einfacher mit dem Fahrrad zur Arbeit fahren können, weil ich nicht mehr durch die ganze Stadt fahren müsste, um Gerda zu besuchen.

Um meine Mutter ebenfalls für diese Idee zu gewinnen, ging ich an den PC und ins Internet, rief Google-Maps auf, wählte die Satellitenansicht und druckte eine Großaufnahme vom Heim und dem fast unmittelbar daneben liegenden Bürogebäude aus, in dem ich arbeite. Genau wie ich war Gerda von Yvonnes Vorschlag sofort überzeugt: Sie selbst im Heim gut versorgt und „mein Jung‘“ gleich um die Ecke. Diese Vorstellung gefiel ihr ausnehmend gut. Dem Umzug ins Pflegeheim stand damit unsererseits nichts mehr im Wege. Nur leider, leider: Das Heim konnte uns zwar sofort häusliche Pflege anbieten – einschließlich Reinigungsdienst und Essen auf Rädern –, es gab aber kein freies Zimmer. Stattdessen eine lange Warteliste. Auch einige Zeit später, als ich erneut nachfragte, hatte Gerda auf dieser Warteliste noch mindestens sieben weitere Interessenten vor sich. Diskret erkundigte ich mich bei der Heimleitung nach der Anzahl der Pflegebetten und der typischen Verweildauer der Bewohner: Knapp über 100 Betten geteilt durch eine im Durchschnitt nur zweijährige Aufenthaltszeit ergaben grob geschätzt vier Todesfälle oder sonstige Abgänge pro Monat! Anders als Gerda, die natürlich enttäuscht war, dass sie nicht sofort aufgenommen wurde, und auch Petra und Yvonne, die sich und mich fragten, ob man nicht noch anderswo schauen sollte, sah ich gute Chancen, in einem noch ausreichenden Zeitrahmen die Zusage für einen Heimplatz zu bekommen. Spätestens im Februar musste Gerda aller Wahrscheinlichkeit nach in ihrem neuen Zuhause sein. Vor allen anderen Dingen war es mir ganz besonders wichtig, meine Mutter tagsüber möglichst nahe bei mir zu haben. Daher kam für mich kein anderes Heim in Betracht.

Tod einer Kassenpatientin

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