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6. KAPITEL

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Der Alltag in der Jugendstrafanstalt Brassnitz begann um fünf Uhr. Die Gefangenen wurden von einem langen unerträglichen Alarmton geweckt. Fünf Minuten später klappten sich die Liegen automatisch an die Wände. Fünf nach halb sechs wurde das spärliche Frühstück ausgeteilt. Ab sechs Uhr durften die Gefangenen in den Hof. Dieser Freilauf wurde bis achtzehn Uhr nur vom Mittagessen unterbrochen, was praktischerweise gleich im Hof stattfand und wodurch die Anstalt ihre Kosten deutlich senken konnte. Der Bewachungsaufwand tagsüber wurde auf ein Minimum reduziert. Alle dreißig Meter waren Wachtürme errichtet, von denen beim geringsten Anlass wahlweise mit Gummigeschossen, Tränengas oder Wasserwerfern disziplinierend auf revoltierende Cliquen eingewirkt werden konnte. Sollten diese Maßnahmen nicht ausreichten, wurde ohne Weiteres auch scharf in die Problemzonen geschossen. Als Folge dieser drastischen Härte gab es anfänglich im Schnitt jeden Monat einen Toten. Für die Gefängnisleitung stellte dies jedoch lediglich hinsichtlich der Statistik und der damit zusammenhängenden Bürokratie ein Problem dar.

Paul gehörte zu der Gefangenengruppe, die tagsüber einer Beschäftigung nachgehen durfte. Dies stellte ein Privileg dar und wurde nur den Jugendlichen zugestanden, die einen eher leichteren Strafenkatalog aufzuweisen hatten. Das verwunderte, wenn man Pauls brutalen Übergriff auf die junge Frau in der Südvorstadt in Betracht zog. Aber angesichts der Tatsache, dass drei Viertel der Taten, wofür die Jungen hier einsaßen, Mord und Totschlag waren und das restliche Viertel sich aus schwerer Körperverletzung, Erpressung, Raub und Vergewaltigung zusammensetzte, relativierte sich das. Tatsächlich mussten die Straftatbestände dieses kleineren Anteils in der jetzigen Phase der Republik leider wirklich als die weniger aufregenden angesehen werden. Pauls Glück schien zunächst daraus zu bestehen, dass er „nur“ eine versuchte Vergewaltigung und einen versuchten Mord vorzuweisen hatte. Praktisch ein „leichter“ Fall.

Trotz Pauls erstaunlicher Gewaltbereitschaft in seinem niedrigen Teenageralter wartete im Knast auf ihn die ganz harte Schule. Die Verantwortlichen fanden das in Ordnung und es wurde ihm keinerlei Schutz oder Hilfestellung gewährt.

Er lag an diesem Morgen todmüde im Bett, als ihn der Weckton hart aus dem Schlaf riss und die Tür seiner Einzelzelle automatisch aufflog. Ihm steckte noch die Spezialbehandlung in den Gliedern, die ihm am Abend zuvor in der Dusche zuteil wurde. Er konnte sich kaum regen und rieb sich seine schmerzenden Körperteile, insbesondere das Gesäß.

Nach Ansicht seiner Mithäftlinge war Paul einfach noch nicht zäh genug, um den Alltag im Knast schadenfrei überstehen zu können. Er war ein leichtes Opfer für die zumeist sechzehn- bis zwanzigjährigen Mitinsassen. Gewissermaßen als Zeitvertreib und sogar ohne größere Aggression suchten sich diese besonders barbarisch vorgehenden Typen stets solche zarten Typen wie Paul aus.

Das wöchentliche Duschen erwartete er seit dem ersten Überfall ohnehin nur noch mit Schrecken. Da dies die einzige Möglichkeit war, ein Mindestmaß an Körperhygiene einzuhalten, ist er auch gestern trotzdem um einundzwanzig Uhr in den Duschraum gegangen. Er war in Begleitung von drei anderen Jungs, die ihm nicht feindlich gesinnt waren, auch in seinem Alter und mit den gleichen Problemen behaftet.

Dragon war einer der Ältesten, sein Vorstrafenregister war umfangreich und entsprechend lange würde sein Aufenthalt dauern. Seinen Spitznamen hatte er sich dadurch verdient, dass er in besonders rauen Fällen seine Opfer mit Brandwunden verschandelte. Er wurde von jedem gefürchtet und gehasst und so stellte er auch für Paul eine unüberwindliche Tatsache dar.

„Paulchen, ich habe heute Lust auf Zärtlichkeiten“, rief er selbst schon unter der Dusche stehend dem Eintretenden zu.

Paul verdrehte die Augen, wusste was ihn erwarten würde und drehte auf der Hacke um. ‚Scheiß aufs Duschen‘, dachte er noch, bevor ihn zwei andere Mithäftlinge hart anpackten. Dragon hatte für seine Attacken stets Verbündete und sich vorbereitet. Eine spontane Sache zog er nie durch. Pauls Kehle wurde von einem der beiden Helfer hart zugedrückt, so dass er keine Luft mehr bekam. Der andere verpasste ihm einen so brutalen Hieb in den Magen, dass er schlaff zusammensackte und sich auf dem Fußboden vor Schmerz krümmte. Die Jungen, die ihn eben noch begleitet hatten, standen abseits an der Wand und trauten sich keine Regung zu.

Dragon brüllte sie an: „Ihr bleibt stehen. Wir haben gerne Zuschauer und brauchen etwas Publicity. Dass ihr auch ja hübsch berichtet, was ihr gleich sehen werdet. Los Jungs, bereitet ihn vor!“

Die letzten Worte waren an seine Helfer gerichtet. Diese wussten, was sie zu tun hatten, und spulten routinemäßig ihr Sportprogramm ab. Dragon und sie waren täglich im Fitnessbereich auf dem Hof und hatten passend zu ihrer riesigen Körpergröße breite Schultern, Muskeln, wohin das Auge reichte, und konnten es mit jedem in der Anstalt locker aufnehmen. Da sie angesichts ihrer langen Strafen ohnehin nichts zu verlieren hatten, konnten sie sorglos durch die Massen prügeln. So auch an diesem Abend wieder. Einer zerrte Paul wieder vom Boden hoch und rückte ihn für seinen Kumpel zurecht. Wehrlos ließ Paul die nächsten Fausthiebe in sein Gesicht, seinen Magen und abschließend einen kräftigen Tritt in seine Weichteile über sich ergehen. Er hatte keine Chance. Die anderen gafften nur ängstlich und waren froh, nicht selbst „behandelt“ zu werden. Paul ging es mittlerweile körperlich schlecht; erneut lag er auf dem Fußboden.

Einer der Helfer ging aus dem Duschbereich zurück in den Vorraum und schleifte eine Holzbank in die Dusche. Hier kontrollierten die Wärter ganz bewusst nich, sollte doch damit der internen Disziplinierung, aber auch dem Aggressionsabbau des harten Kerns der Häftlinge freier Lauf gelassen werden.

Paul startete wimmernd einen Versuch, um Gnade zu betteln: „Dragon, bitte verschon mich heute. Es sind doch genügend andere da. Lass mich ganz.“

Der Angeflehte lachte schallend und trat praktischerweise nach ihm. Da er nackt und ohne Schuhe in der Dusche stand, konnte dieser Tritt nicht allzu viel Schaden anrichten und Paul raffte sich erneut auf: „Bitte, ich kann dir doch anders nützlich sein. Sag mir, was ich machen kann, damit du aufhörst. Bitte!“

„Am meisten gefällt mir, wie du wimmerst. Du kleiner Scheißer, die Alte habt ihr doch auch gut bedient. Das sollst du doch auch erleben dürfen. Schöne Qualen, am besten noch’n bisschen Todesangst dazu. Keine Angst, wir machen dich nicht platt, haben doch sonst kein Spielzeug mehr. Paulchen, wimmere weiter. Los! Arme Sau!“

Während des Wortwechsels hatte einer der Helfer Paul mit dem Oberkörper auf die Bank geknallt. Seine rohen Kräfte ließen ihn mit Paul umgehen wie mit einem Kleinkind. Sie hatten sichtbar Spaß mit ihm. Lachend kniete er auf dem Rücken von Paul und quetschte dessen Gesicht auf das Holz. Paul stöhnte erneut vor Schmerz. Er litt höllische Schmerzen; leider wusste er, dass es noch schlimmer werden würde. Blut aus Mund und Nase lief durch das Holz der Bank und bildete darunter eine Lache. Dragon griff nun wieder persönlich in die Aktion ein und benutzte den Holzstiel eines Schrubbers, der in der Dusche stand, um Pauls Rücken und insbesondere seine Nierengegend zu malträtieren. Paul schrie bei jedem der heftigen Schläge laut auf.

Die drei anderen Mitinsassen, die mit Paul in die Dusche gekommen waren, standen immer noch unverändert und ohne Regung an der Wand und mussten zusehen. Sie fürchteten sich davor, dass ein Seitenblick von Dragon sie traf und sie die Nächsten sein könnten.

Doch dies war nicht im Sinn der Angreifer. Sie benötigten die drei weiterhin als Zuschauer und dafür, dass die Aktion sich möglichst detailgetreu unter den Insassen verbreitete. Allerdings war das nur eine von hunderten Aktionen von Dragon und seinen Kumpanen.

Nachdem Paul mehrere dutzend harter Schläge eingesteckt hatte, sein Rücken rot und an einigen Stellen blutunterlaufen war, ließ Dragon nach und machte eine Pause. Dazu setzte er sich auf Paul und machte es sich möglichst bequem. Den Schrubberstiel gab er einem seiner Helfer und zwinkerte diesen dabei an. Dragon wusste von dessen perversen Neigungen und wollte ihm, nachdem er selbst fertig war, die Gelegenheit geben, diesen Neigungen an Paul nachzugehen.

Dragon selbst ging wieder unter die Dusche und widmete sich seiner Körperhygiene, als wäre nichts weiter vorgefallen. Die nun folgende Vergewaltigung an Paul nahm er nur aus den Augenwinkeln war; es war ihm egal, was weiter geschah. Selbst wenn sein Opfer getötet worden wäre, hätte er seinen Duschgang nicht unterbrochen. Für ihn war das alles ein normaler Tagesablauf und am späteren Abend verübte er einen weiteren Überfall auf einen anderen Häftling. Es war erbarmungslos und aus Pauls Sicht gab es keine Hoffnung auf Besserung, hatte doch dieser Abend nur eine Fortsetzung seines Martyriums im Knast dargestellt.

Nachdem er sich mühsam aus dem Bett gequält hatte, begann er seine tägliche Routine. Waschraum, Frühstück und ab sechs Uhr Fußmarsch zum anstaltseigenen Werkgelände. Dort trat er an diesem Tag etwas widerwillig seinen Job als Packer an. Sie bildeten insgesamt eine Gruppe von zwanzig Jungen und ihre Aufgabe war es, Pakete mit Gussteilen für einen Maschinenbaubetrieb zu packen. Eine leichte, aber unbezahlte Arbeit, die eine willkommene Ablenkung vom ansonsten harten Knastleben brachte.

Er schweifte mit seinen Gedanken zu dem für heute angesetzten Besuch seines Prozessunterstützers. Paul erinnerte sich nicht mehr an seinen Namen, wusste aber, dass dessen Stellungnahme ihm sicherlich fünf Jahre Strafe erspart hatte. Er hatte keine Ahnung, was dieser in seinen Augen nutzlose Politikfuzzi von ihm wollte. Eigentlich hatte er überhaupt keine Lust, sich in ein Gespräch mit ihm einzulassen, diese Welt war für ihn nicht nachvollziehbar, auch wegen seines geringen Intelligenzquotienten. Paul kannte seinen Wert, da er bei Haftantritt einen Test gemacht hatte. Mit 79 Punkten befand er sich im Durchschnitt des Gefängnisses, galt aber für das normale Leben als leicht dumm. Sein Unbehagen und seine Minderwertigkeitskomplexe wären noch größer gewesen, wenn er gewusst hätte, dass sein Gesprächspartner einen IQ von 137 besaß.

Sein Arbeitstag – Feiertage gab es in der Jugendstrafanstalt nicht – endete an diesem Tag wegen des Gesprächs etwas früher und nachdem er den kurzen Weg in die Besucherzellen geführt worden war, saß er dem Fuzzi gegenüber.

Sie hatten eine Stunde Zeit für das Gespräch und befanden sich dafür in einer der Zellen, die im Eingangsbereich für die vertraulichen Besucher vorgesehen waren. Die vertraulichen Besuche stellten eine Ausnahme dar und waren nur durch besondere Befugnisse oder Beziehungen des Besuchers einzurichten.

„Guten Tag, Paul, ich bin Felix Dännicke, du erinnerst dich wahrscheinlich an mich. Ich habe in deinem Prozess für dich Stellung genommen und dir dadurch etwa fünf bis sieben Jahre Hafterlass gebracht.“

Paul war nicht besonders gerührt, musste aber die Hilfestellung von diesem Typ anerkennen. Er nahm sich vor, nicht undankbar zu wirken und ein möglichst normales Gespräch zu ermöglichen. Den Zweck herauszufinden, war ein weiterer Punkt, etwas Disziplin an den Tag zu legen.

„Ich weiß. Danke dafür. Was wollen Sie denn hier?“

Eine vernünftige Konversation war für Paul ungewohnt und er unternahm aus seiner Sicht erhebliche Anstrengungen, zivilisiert zu reden.

„Ich wollte einfach mal sehen, wie es dir geht. Im Prozess war es ja nicht möglich, dich etwas genauer kennen zu lernen. Durch die Fürsprache von meinen Bruder habe ich zumindest die nötigsten Informationen bekommen, die ich brauchte. Ich bin an unserer Jugend interessiert, weil sie doch die Zukunft unseres Landes darstellt.“

Mit solchem, aus Pauls Sicht, Geschwafel, konnte er nicht viel anfangen. Er wusste nicht so recht, wie er eine Stunde auf dieser Ebene reden sollte. Felix nahm ihm die Sache etwas ab und fing an, über Jugendprogramme seiner Partei, über seine eigenen Bemühungen – mit Ausnahme seiner Arbeit im Arbeitskreis –, über Zukunftsaussichten der Republik und über Pauls mögliche Parteiarbeit beim LBD zu reden. Bei diesem Punkt sank Pauls Bereitschaft zu einem Gedankenaustausch auf den Tiefpunkt. Was sollte er in einer Partei? Wusste der Fuzzi überhaupt, mit wem er es zu tun hatte?

Der Fuzzi schwafelte weiter. Pauls Bereitschaft zur Zusammenarbeit vorausgesetzt, könne er sich dafür einsetzen, dass er vorzeitig entlassen werde, außerdem über seine Beziehungen ein eigenes ID und einen Praktikumsplatz erhalten könne. Allerdings würde es sich ausschließlich um Hilfsarbeiten für ihn, Felix, handeln, mit der echten Politikarbeit hätte er keine Berührungspunkte.

Paul fragte nun doch genauer nach: „Was denn für Arbeiten? Ist das überhaupt was für mich?“

„Es geht nicht darum, dass du mir Reden oder Briefe schreibst. Es sind ständig irgendwelche Botengänge, Fahrten zu Veranstaltungen, Wahlkampfhilfen oder andere praktische Hilfsarbeiten zu erledigen. Das wäre was für dich. Vielleicht nicht Vollzeit, aber eine halbe Stelle kriegen wir schon hin.“

„Und wie soll das gehen, mit der vorzeitigen Entlassung? Gute Führung und so? Sehen Sie mal in meine Fresse! Das ist dann wohl gute Führung.“

Paul streckte ihm seine besonders lädierte Gesichtshälfte hin und legte nach: „Am Arsch und noch weiter hab ich noch mehr kaputtes Fleisch. Auch mal ’n Blick riskieren?“

Er lachte gequält und wollte sein Gegenüber nicht weiter belästigen. Diesen Mindestanstand hatte er zu Hause mitbekommen. Felix wendete sich etwas ab und überwand seinen Ekel. Freundlich und unbeirrt setzte er seine Charmeoffensive fort: „Lass mal sein. Ich kenn mich auch aus. Gute Führung heißt vor allem: Lass dir nichts selber zuschulden kommen. Das macht es nur schwerer.“

Felix dachte noch: ‚ … aber nicht unmöglich‘, wollte aber von seinen Möglichkeiten nicht weiter reden.

Nach einer weiteren Viertelstunde Monolog von Felix, kam aus den Lautsprecher die Ansage, dass die Besuchszeit in fünf Minuten beendet sei und die Tür automatisch für eine Minute geöffnet werde. Das bedeutete für die Besucher, dass sie in dieser Minute zuverlässig und aus eigenem Interesse verschwinden mussten. Nachdem die Tür wieder geschlossen war, ließ sie sich nur noch manuell von einem Beamten öffnen. Und wenn es dazu kam, standen für den Besucher und den Besuchten drakonische Strafen auf dem Spiel. Daher funktionierte die automatische Regelung vortrefflich, so wie in allen anderen Bereichen auch; es mussten nur die zu erwartenden Sanktionen richtig schmerzlich sein. Seine Lektion hatte der Saat gelernt.

Felix kam zum Ende: „Also, ich biete dir an: Entlassung in einem Jahr, eigenes ID, Halbtagspraktikum mit Bezahlung. Deinen Wohnort bestimme ich. Du musst darüber nachdenken und ein Jahr friedlich bleiben. Wenn du dich dafür entscheidest, setze ich deine Treue zu mir voraus. Anderenfalls hätte ich auch Mittel und Wege, mich zu wehren. Gib mir in einem Monat Bescheid. Über deinen Vater und Robert Heinel. Direkten Kontakt gibt’s vorerst nicht zu mir! Mach’s gut!“

Diese konkrete, schnelle Art beeindruckte Paul zum ersten Mal. Das war seine Welt: kurz und knapp. Er stand auf und gab Felix die Hand.

„Ich überleg es mir. Will aber auch danach noch was davon haben. Wenn ich es mach. Ich meine erfolgreich sein und so. Tschüss.“

Mit diesen ungewöhnlichen Schlusssätzen beiderseits verließen sie den Raum. Sechs Wochen sagte er seinem Vater bei einem Besuch, er solle über Robert diesem Politfuzzi mitteilen lassen, dass er das Angebot annehmen würde. Die gute Führung gelang ihm zwar nicht. Felix’ Beziehungen waren jedoch so gut, dass er auch diesen Punkt überwinden konnte.

***

Als er den gemieteten Kleinbus wieder erreichte, in dem seine Frau und der Bengel eineinhalb Stunden gewartet hatten, setzte sich Felix nach hinten und begann zu telefonieren. Dass deshalb Rita ans Steuer musste, nahm er in Kauf.

Er rief Ostermann an: „Guten Abend, Herr Ostermann.“

Dass es am zweiten Weihnachtsfeiertag eine Zumutung für andere war, geschäftliche Telefonate führen zu müssen, war ihm egal. Felix kannte keine Privatsphäre, warum sollte er Rücksicht auf andere nehmen? Sein Vorgehen beim Arbeitskreis war da wichtiger und hatte für ihn oberste Priorität.

Ostermann antwortete mürrisch: „Herr Dännicke, guten Abend. Mit diesem Anruf habe ich nicht gerechnet. Sie wissen, dass Weihnachten ist? Ist sitze mit meiner Familie zusammen.“

Felix wartete einen peinlich langen Moment ab und führte das Gespräch weiter, ohne auf die Kritik einzugehen; schon gar nicht beantwortete er die Frage.

„Ich wollte mich kurz mit Ihnen austauschen, wie Ihr Stand ist. Morgen treffen wir uns im Norden. Sind Sie nach wie vor gewillt, einen eigenen Vorschlag einzureichen, oder können Sie sich vorstellen, sich mir anzuschließen?“

Ostermann hatte nicht die Absicht, sich so unverblümt in die Karten sehen zu lassen. Er überlegte kurz. Sein eigener Stand war nicht zufrieden stellend. Er ging davon aus, dass Felix weiter vorangekommen war. Ihm war nicht klar, dass Dännicke überhaupt nichts ausarbeiten brauchte, war doch sein Konzept bereits vor dem Zusammenschluss im Arbeitskreis fertig ausgearbeitet. Felix selbst konnte sich voll darauf konzentrieren, wie er mit seinen Wettbewerbern und Konkurrenten taktisch richtig umzugehen hatte. Zu diesem Zeitpunkt wollte er erfahren, ob Ostermann auf seine Seite zu ziehen war, wodurch ein Konkurrenzvorschlag wegfiele. Allerdings müssten sie in diesem Fall so vorgehen, dass die Stimme von Ostermann erhalten blieb und nicht in einem gemeinsamen Vorschlag aufging, wie es die fünf anderen Teilnehmer in Kauf zu nehmen hatten.

Ostermann log: „Nun ja, ich komme eigentlich ganz gut voran. Ich brauche vielleicht noch ein bis zwei Tage und habe dann mein grobes Konzept fertig. Herr Dännicke, wie sollte denn ein Zusammenschluss unserer beiden Meinungen vonstattengehen?“

Er hatte nicht ansatzweise vor, sich dem – aus seiner Sicht – größten Widerling des AK anzuschließen oder mit ihm vertrauliche Teile seiner Arbeit auszutauschen.

„Nun ja, wir könnten erst einmal beidseitig unseren jeweiligen Stand offen legen. Dazu sollte es zu einem vertraulichen Treffen kommen, von dem nur wir beide wissen.“

„Und Sie würden Ihre Arbeit dabei vorab präsentieren? Was ist, wenn ich sie einfach abkupfere und Sie dumm dastehen lasse?“

„Herr Ostermann, ich habe größtes Vertrauen zu Ihnen. Dieses Problem sehe ich nicht.“

Das Gegenteil war der Fall. Felix misstraute selbstverständlich seinem Gesprächspartner und hatte auch nicht wirklich vor, seine Idee einer finanziellen Konsolidierung der Republik, der Beseitigung des Schwarzgeldproblems und der größtmöglichen, wenn auch erzwungenen Steuerehrlichkeit der Bevölkerung seinem Widersacher aufzutischen. Vielmehr hatte er sich eine zweite Variante ausgedacht, mit der er lediglich Ostermanns Stimme für seinen Vorschlag gewinnen wollte, um kurz vor Abschluss der Arbeit mit der richtigen Variante aufzutrumpfen. Nur, dass sein Gesprächspartner ebenfalls nicht blöd war, kam ihm während des Telefonats nicht in den Sinn. Felix hielt sich stets für schlauer und durchtriebener als seine Mitmenschen.

„Also, Herr Dännicke, ich kann mir bis jetzt nicht vorstellen, dass wir zusammenarbeiten. Ich sag es ganz ehrlich, ich will mit Ihnen am liebsten überhaupt nicht arbeiten.“

Das war hart, aber direkt und ehrlich. Ostermann schien Charakter zu haben. Die Erwiderung von Felix war gelassen und freundlich: „Nun ja, Herr Ostermann. Schade, dass ich Sie nicht mit meiner Persönlichkeit überzeugen kann. Bitte sehen Sie es später nicht als Unachtsamkeit meinerseits an, dass ich es Ihnen nicht angeboten hätte.“

„Sie sind ja ziemlich überzeugt von sich, mein Guter. Wie kommen Sie dazu? Wissen Sie mehr als die anderen?“

Felix’ vorausschauende Denkweise machte ihn glauben, dass er mit großer Wahrscheinlichkeit mit seinem Entwurf durchkommen und der AK diesen als Gesetzesvorlage in die Kommission einreichen würde. Nichts, und schon gar nicht das vermeintlich naive Gehabe von Ostermann, würde ihn von diesem Standpunkt abbringen. Das machte es ihm leichter, als allen anderen, seine Arbeitsweise als die alleinig richtige anzusehen und frei von echter Kritik durch sein Leben zu kommen.

„Herr Ostermann, lassen Sie es mich mal ganz unmissverständlich ausdrücken: Ich gehe bei mir und der von mir geleisteten Arbeit immer vom Allerbesten aus. Darunter liegende Maßstäbe sind auf und durch mich nicht anwendbar. Sie werden sich davon schon noch überzeugen können.“

„Machen Sie ruhig weiter, mit Ihren übertriebenen Eigendarstellungen. Ich kann Ihre Wahrnehmungen bisher nicht bestätigen. Aber nichts für ungut, da wir nun beide wissen, was wir voneinander halten, ist die Zusammenfassung unseres Gesprächs kurz und knapp: Ich wünsche Ihnen noch schöne Weihnachten und verbleibe höflich bis zum nächsten Treffen. Auf Wiederhören, Herr Dännicke.“

Bevor die Gefahr bestand, dass Ostermann vor Felix das Gespräch beendete, was er hasste, erwiderte er noch vor dem letzten Wort seines Gesprächspartners: „Für Sie auch, bis dahin.“

Damit war die Verbindung unterbrochen und Felix lehnte sich entspannt zurück. Er hatte diesen Gesprächsverlauf nicht erwartet, konnte aber künftig damit gut umgehen. An seiner Vorgehensweise würde sich nichts ändern. Er beschloss, noch vor dem Termin mit Schuster sein Konzept durchzugehen und ihn zu fragen, ob er hinter den Kulissen etwas für ihn tun könne. Von Schuster nahm er seit längerem an, dass seine offizielle, im Bundesmaßstab vergleichsweise niedrige Position nicht mit seinen tatsächlichen Kompetenzen gleichzusetzen war. Aus irgendeinem Grund konnte man von Schuster annehmen, dass er im Hintergrund deutlich bessere Beziehungen, Einflussmöglichkeiten und Mitspracherechte in der Partei und insbesondere auf Regierungsebene besaß.

Leider war es Felix bis jetzt nicht gelungen, diesen Umstand näher zu ergründen, aufzudecken oder nachzuvollziehen. Er strengte sich jedoch weiter an, hoffte auf die Richtigkeit seiner Ahnung aus Eigennutz und sollte im weiteren Verlauf auch, von ihm selbst unbemerkt, damit recht behalten dürfen.

Vielleicht konnte dieser Umstand auch noch bei einem Projekt nützlich sein, das er nach der Finanzkonsolidierung angehen wollte – seinem erträumten Lebenswerk.

2022 – Unser Land

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