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2. KAPITEL

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Die Straßen der nördlichen Großstadt mit dem ehemals anerkannten und bedeutenden Seehafen an einem Strom glänzten nass, als der alte 2012-er Mercedes CLS in die Steinstraße einbog. In diesem Viertel der „Pfeffersäcke“ ließ es sich im Vergleich zu anderen Großstädten der heruntergekommenen Republik noch erträglich leben. Man war unter sich: ehemals sehr Wohlhabende, die ihre einstigen Besitzstände durch Investition in ihren Wohnsitz „gerettet“ hatten. Beim Einbiegen in das Viertel musste er seine Fahrt verlangsamen, weil der Mitarbeiter des von den Bewohnern beauftragten Wachschutzunternehmens ihn kontrollierte. Der Mann erkannte den Insassen und winkte ihn durch. Fremde konnten zwar die Straße befahren, wurden jedoch von Angehörigen des Sicherheitsdienstes umgehend begleitet und beobachtet. Beim geringsten Anzeichen von anormalem Verhalten war der Wachschutz angehalten, die betreffenden Personen zur Rede zu stellen, einzuschreiten und im äußersten Falle auch festzunehmen. In diesem Viertel herrschte seit geraumer Zeit wieder etwas mehr Ruhe und die Klasse war „sortenrein“ untergebracht.

Der Fahrer des Mercedes dachte zufrieden: ‚Endlich in meinem Blankeheide‘ und meinte damit sein Wohnviertel. Er konnte es jedes Mal kaum erwarten, die anderen, chaotischen, verdreckten und gewalttätigen Stadtteile hinter sich zu lassen, um in seinen zumindest restbehüteten Hort zu kommen. Hier war die Welt für ihn noch in Ordnung. Der Fahrer, Felix Dännicke war Berufspolitiker. Er gehörte dem LBD an, dem Liberalen Bund des Landes. Mit seinen 38 Jahren hatte er einen ordentlichen Posten in dieser Partei. Auch sein Äußeres entsprach dem eines echten typischen Politikers. Er war groß, hatte Übergewicht, so dass er die Konfektionsgröße alle zwei Jahre nach oben wechseln musste. Derzeit trug er die Größe 60. Sein Gesicht zeugte von seiner guten und reichlichen Ernährung – dicke Wangen, Doppelkinn. Damit seine Halbglatze nicht den gesamten Kopf eroberte, pflegte er die dunklen, restlichen Haare besonders. Stets sorgfältig nach hinten gekämmt, glänzte es von der Pflegeemulsion wie bei einem italienischen Mafioso. Mit seiner ausgesucht teuren Brille und einem auffälligen goldenen Ring an seiner Hand konnte er fast dieses äußere Klischee erfüllen.

Er steuerte den Mercedes gekonnt und flüssig vor das Tor seines Grundstücks und hielt an. Die große gusseiserne Pforte war durch seinen ID-Chip gesichert. Er musste den rechten Daumen auf den Chip drücken und den linken über einen Sensor vor dem Tor führen. Erst bei Übereinstimmung der beiden Fingerabdrücke und der Freigabe durch seinen ID-Chip öffnete sich das Tor. Sofort nach seiner Durchfahrt schloss es sich, und er musste einen Moment warten, denn um in die Tiefgarage zu kommen, waren die gleichen Handgriffe noch einmal nötig. Felix nannte den Vorgang schleusen. Sein Sicherheitsdienst hatte ihm diese Verzögerung extra einprogrammiert, damit bei versuchten Raubüberfällen ein direkter Zugang in das Wohnhaus verhindert wurde.

Nachdem er die Prozedur auch für die letzte Tür von der Garage in das Gebäude hinter sich gebracht hatte, rief er die Treppe hinauf: „Hallo ihr beiden, ich bin wieder da. Will mir keiner um den Hals fallen?“

Seine Frau kam aus dem Wohnbereich und sagte: „Hi, mein Süßer, ich habe schon auf dich gewartet. Wie war denn dein Tag?“

In diesem Moment erhielt er eine Nachricht auf seinen ID-Chip. Dieser war eigentlich kein Chip, sondern ein etwa fünf Mal zehn Zentimeter großes Touchpaneel, welches Mitte der 2010-er Jahre die damaligen, veralteten Handys abgelöst hatte. Dieses Paneel wurde von einer zentralen Behörde für jeden Eigentümer persönlich programmiert und zugeteilt. Es stellte einen hohen persönlichen Wert dar, da es außer Identifikation, Führerschein, Kreditkarte, Krankenkarte und Funktelefon auch sämtliche persönliche Behördendaten, die Krankenakte, Steuer- und Einkommensdaten und die gesamten persönlichen Computerdateien seines Besitzers beinhaltete. Über die zentral verwalteten Fingerabdrücke wurden sämtliche sicherheitsrelevanten Zugänge kontrolliert und gesteuert. Jeder Besitzer hatte sein, kurz ID genanntes Gerät stets am Körper zu tragen. Dafür gab es Halterungen, Clips, Gürtel, Bänder usw. Das ID war wasserdicht, stoßresistent und hitzebeständig. Besitzer von ID waren in dieser Republik jedoch ausschließlich Steuern zahlende Bürger. Allen Nichtsteuerzahlern wie Rentnern, Kindern, Arbeits- oder Obdachlosen wurde ein ID staatlicherseits verweigert. Dieser Personenkreis musste seit Einführung der neuen Technik auch auf das Privileg verzichten, ein Funktelefon zu nutzen, da sich die Funknetzbetreiber dem staatlichen Druck beugen und die Frequenzen für normale Funktelefone abschalten mussten.

Felix antwortete: „Ach, heute war es ganz gut. Schuster hat vielleicht eine neue Aufgabe für mich. Vielleicht ist er das ja gerade.“

Schuster war sein Vorgesetzter im LBD. Dieser noch junge parteiliche Zusammenschluss stellte ungefähr fünfzehn Prozent der Regierungsriege.

Felix checkte sein ID und bat: „Warte mein Schatz. Die Mail ist von Schuster. Vielleicht beginnt damit eine neue große Sache für mich. Ich muss kurz das Foto machen.“

Während ihres kurzen Wortwechsels waren sie in den Wohnbereich gegangen. Felix nahm aus seinem Aktenkoffer eine alte Digitalkamera und öffnete die Mail auf seinem ID. Sobald der Text sichtbar wurde, machte er ein Foto davon. Die Nachricht war mit der Option „Löschen nach Lesen“ versehen und stand dem Empfänger nur einmal zur Verfügung. Nach kurzer Zeit, gerade genug, um den Text einmal zu lesen, löschte sich der gesamte Datensatz und es war, als sei die Nachricht praktisch nie gesendet worden. Dadurch war es möglich, wichtige und nur für den Empfänger bestimmte Mitteilungen nicht mehr nachvollziehen zu können. Damit wurden auch nachträgliche belastende Konfrontationen mit brisanten Inhalten vermieden. Besonders in politischen Kreisen wurde von dieser Funktion rege Gebrauch gemacht. Dass Felix solche Nachrichten grundsätzlich fotografierte und somit wieder nachweisbar machte, war auf seine persönliche Geheimdienstparanoia zurückzuführen.

Er las laut vor: „Felix, Sie sind heute für den AK FK nominiert worden. Entscheidung bis morgen früh und mir sofort Bescheid geben. Gruß, Schuster.“

Hocherfreut fuhr er fort: „Schatz, das ist meine große Chance. Dort wollte ich rein, weil ich dort gute Ideen einbringen kann. Endlich hat er es gerafft, dass ich zu Höherem berufen und kein kleiner Parteisoldat bin. Geil. Endlich. Jetzt dreh’ ich die ganz großen Räder!“

Er fiel seiner Frau um den Hals und drückte ihr einen groben Kuss auf die Wange. Sie sah ihn verdutzt an: „Sag mir bitte mal, was das für ’n Club sein soll. AK FK? Ist das was Wichtiges? Kriegst du mehr Kohle?“

„Geld lass mal meine Sorge sein. Ich glaube, ich schaff’ genug ran und du musst dich nicht weiter kümmern. AK FK heißt: Arbeitskreis Finanzkonsolidierung. Das ist die Eintrittskarte nach ganz oben. Dorthin, wo ich immer hinwollte.“

„Ich versteh’ immer noch Bahnhof. Komm, wir gehen erst mal in die Küche und essen etwas. Hast du Hunger?“

„Ja, aber du weißt doch, wovon ich immer rede und träume? Schatz, du musst dir so was doch merken!“

Felix und sie gingen in die Küche. Er war seiner Frau gegenüber unsicher, weil sie nicht gleich zuordnen konnte, was ihm mit der Nachricht von Schuster Gutes widerfuhr. Stets redete er von seinen politischen Ambitionen und seinem Drang, es nach ganz oben schaffen zu wollen. Wenn auf jemanden das Prädikat karrieregeil zutraf, dann war es Felix Dännicke.

In der Küche stand ein vorbereitetes Abendbrot, das er, ohne Worte zu machen, anfing zu essen. Seine Frau sah ihm schweigend zu.

„Schatz“, fragte er mit vollem Mund, „bitte sag’ mir, dass du an meiner Karriere mit teilnimmst. Wir reden doch so oft zusammen darüber?“

Felix hatte insofern recht, dass seine politischen Träume sehr oft Gegenstand von Gesprächen zwischen ihnen waren. Jedoch übersah er geflissentlich, dass diese Gespräche fast immer Monologe waren und er sich in endlosen Ausführungen stets einseitig äußerte. Seitens seiner Frau kamen wenig Nachfragen oder interessante Rückäußerungen. Ihr war es schlicht nicht so wichtig; im Gegensatz zu ihrem selbstherrlichen Mann.

Sie antwortete zögerlich: „Doch, ich weiß, dass du weiterkommen willst. Und ich halte dich auch für einen fähigen Politiker mit der Aussicht, es zu etwas ganz Großem zu bringen. Flixel, ich stehe doch hinter dir.“

Mit Flixel redete sie ihn nur an, wenn sie Ärger vermeiden und ihn beschwichtigen wollte. Sie spürte, dass er enttäuscht war wegen ihrer offenkundigen Ahnungslosigkeit sein berufliches Vorankommen betreffend.

Erneut versuchte er ihr die Nachricht von Schuster zu erklären: „Also, noch mal: Schusters Mail ist eine Einladung in den Arbeitskreis, der sich mit der Finanzkonsolidierung unseres Staates befasst. Seit ein paar Monaten wird davon gemunkelt, dass etwa ein Dutzend Delegierte aus allen Parteischichten dazu zusammenkommen sollen und ein Konzept zur finanziellen Verbesserung unserer Staatsfinanzen erarbeiten sowie umsetzen sollen. Der Arbeitskreis soll eigentlich weitestgehend geheim und selbstständig sein Konzept erstellen und nach Absegnung durch die Regierung dann praktisch verwirklichen. Da ich seit Monaten inoffiziell davon weiß, habe ich mir darüber schon Gedanken gemacht, und ich könnte sofort das Endergebnis des Arbeitskreises darlegen. Ich muss mich da so einbringen, dass meine Ideen beschlossen werden. Das ist das Größte politische Vehikel, was ich bisher angehen durfte. Schuster hat mich als Einzigen des LBD delegiert.“

Der Bund war die Nachfolgeorganisation der ehemaligen Freien, der einstigen liberalen Bundespartei. Dännicke hatte es bis zum Büroleiter der Landesgruppe Nord mit ihrem Hauptsitz in der hanseatischen Elbestadt geschafft. Nach diesem Karrieresprung konnte er auch das Anwesen in Blankeheide erwerben. Das war vor drei Jahren. Sein Boss Schuster war bereits im Vorstand des LBD, saß in der Bundeshauptstadt und hatte Dännicke bisher gut protegiert.

Seine Frau – Rita – zeigte sich nun doch etwas interessierter: „Und wieso haben sie ausgerechnet dich dahin eingeladen?“

„Schuster traut mir auf dem Gebiet Staatsfinanzen einiges zu. Zumindest gibt es weit und breit keinen, der es besser kann. Ich habe mich mehrfach mit schriftlichen Vorschlägen über ihn an die Regierung gewandt, bisher aber nicht mit Erfolg. Meine jetzige Idee habe ich aber für mich behalten.“

„Um was würde es denn dabei gehen? Flixel, ich hab’ von solchen Dingen nicht so viel Ahnung. Erkläre es mir bitte.“

„Aber das kann ich in diesem Fall nicht. Es geht mir um viel. Wenn nicht sogar um alles. Wenn ich das verpatze, bekomme ich nie wieder so eine Chance. Lass mich erst mal etwas reinkommen und dann kann ich dir auch etwas mehr davon erzählen. Okay?“

„In Ordnung. Ich drücke dir die Daumen, dass du es gut hinbekommst. Wo findet das denn immer statt?“

„Das muss ich morgen erst mal sehen. Ich fahre gleich früh ins Büro und verabrede mich per Videokonferenz mit den anderen Teilnehmern. Ich denke, dass das in einer der Landeszentralen sein wird. Vielleicht muss ich ja nicht so weit fahren. Mal sehen, was sich da so entwickelt.“

Felix Dännicke hatte wirklich sehr konkrete Vorstellungen, die er in den Arbeitskreis einbringen wollte. Er wusste aus inoffizieller Quelle, dass es der Regierung um die Eindämmung des Bereiches Schwarzgeld ging. Die letzten Hochrechnungen, die er zu Gesicht bekommen hatte, endeten damit, dass seinem Staat pro Jahr zwischen 700 und 900 Milliarden DEuro Steuergelder verloren gingen, weil sämtliche Bevölkerungsschichten seit Jahren ihren eigenen Geldumlauf derart ausgebaut hatten, dass diese Unsummen von staatlichen Verlusten zusammenkamen. Kein europäisches Land hatte mehr unter dem Schwarzhandel zu leiden, der inzwischen sämtliche geschäftlichen Bereiche, unter anderem auch Juristerei, Bankwesen und Gesundheitssystem, am Leben erhielt. Felix Dännicke jedoch wusste zu diesem Zeitpunkt bereits, wie er dieses Problem vollständig beseitigen konnte. Er ahnte, dass ihm wahrhaft Großes bevorstand.

Und er wollte diesen Arbeitskreis nutzen, um sich für einen weiteren, aus seiner Sicht erheblich wichtigeren Arbeitskreis in Stellung zu bringen, zu empfehlen. Dieses war sein eigentliches Ziel. Die Finanzkonsolidierung hatte er bereits lange fertig geplant. Er betrachtete die Umsetzung seines Vorhabens dazu nur noch als technisches Problem und eine Frage der Zeit. Hatte er dies erst einmal in die Realität umgesetzt, würde er sein noch länger und tiefer verinnerlichtes Projekt angehen: Die Schaffung einer perfekten und vollendeten Gesellschaftsstruktur für sein Land!

Rita wollte davon immer noch nicht allzu viel wissen. Ihr reichte es aus, wenn ihr Mann regelmäßig und genügend Geld verdiente.

2022 – Unser Land

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