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5. KAPITEL

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Am 22. Dezember freute sich Robert, dass es doch noch zu der kleinen Familienzusammenkunft kommen würde, die durch einen Streit zwischen ihm und seinem Adoptivbruder Felix fast unmöglich geworden wäre. Felix wollte wissen, in welchem Gefängnis Paul einsaß. Robert sollte dazu seinen Arbeitskollegen Schubert, Pauls Vater, fragen. Und er wollte die Erlaubnis, Paul dort einen Besuch abstatten zu dürfen. Nach Roberts Ansicht stand zu erwarten, dass Felix diesen armen Kerl für sich und seine Ziele gewinnen und dies als Gegenleistung für seine Fürsprache in dem Gerichtsverfahren verstehen würde. Dieses Einfordern des Gefallens von Felix war für Robert höchst bedenklich, geradezu unmoralisch. Er ahnte, dass die Kontaktaufnahme zwischen den beiden nur zu Pauls Nachteil ausfallen konnte.

Sie hatten sich am Ende darauf geeinigt, dass der Besuch stattfinden und Felix darüber genau Bericht erstatten sollte. Robert erhoffte sich damit eine Chance auf etwas Kontrolle und Einflussnahme auf den weiteren Verlauf dieser „Freundschaft“.

Robert war zu diesem Zeitpunkt auf dem Weg zum Van-Point der Stadt. Der VP war ein größerer, nachlässig mit Schotter befestigter Platz, der als eine Art Bahnhofs- und Umschlagpunkt für Kleintransporter und Vans diente. Der Bedarf danach entstand während der Energiewende in der zweiten Hälfte der 2010-er Jahre, als individuelle Einzelfahrten mit Privat-PKW unbezahlbar geworden waren. Rasch bildeten sich Fahrgemeinschaften in Kleinbussen, um die horrenden Kraftstoffpreise überhaupt noch bezahlen zu können. Dies galt im Allgemeinen für Privatfahrten, jedoch mussten auch immer mehr Betriebe, öffentliche Unternehmen, Schulen, Krankenhäuser, die Bundeswehr und auch der Politikbetrieb diesen neuen Transportweg nutzen.

Felix war es gelungen, wenigstens eine Fahrgemeinschaft unter seinesgleichen – einen parteiintern genutzten Kleinbus – zu ergattern und konnte die Fahrt von der nördlichen Elbestadt in die ehemalige Messestadt einigermaßen niveauvoll verbringen. Für die nicht privilegierten Bevölkerungsteile galt dies nicht.

Robert wiederum besaß zwar kein eigenes Fahrzeug, hatte aber von Zeit zu Zeit Zugriff auf den Bulli der SE, seinem Arbeitgeber, für dessen Nutzung er pro gefahrenen Kilometer eine halbe Arbeitsstunde leisten musste oder von seinem Lohn abgezogen wurde. Trotz dieser exorbitanten Regelung stellte diese immer noch einen Vorteil für Robert dar. Mit dem Bulli holte er Felix an diesem Morgen ab und wartete seit etwa fünf Minuten auf dem VP.

Er beobachtete einerseits resigniert, andererseits aber auch fasziniert das Treiben der An- und Abreisenden. Menschen jeglichen gesellschaftlichen Standes nutzten diese neue, wenn auch erzwungene Reisemöglichkeit. Ein nützlicher Nebeneffekt war, dass der CO2-Ausstoß erheblich sank und die Klimaziele praktisch „unverschuldet“ eingehalten wurden. Der Platz sah nicht besonders einladend aus. Der kalte, graue Wintertag tat sein Übriges. Hier und da lagen ein paar schmutzige Schneereste der letzten Tage – eigentlich ein Tag für depressive Stimmung. Robert übersah das, war er doch sehr gespannt auf Felix und dessen Bericht über seinen Besuch bei Paul.

Der LBD-Bus war nicht als solcher gekennzeichnet, sondern fuhr möglichst anonym durch die Republik. Daher konnte Robert nicht ausmachen, in welchem Bus Felix ankommen würde, und die Suche auf dem VP erwies sich an diesem Tag als anstrengend und zeitaufwändig. Zum bevorstehenden Weihnachtsfest fielen einfach noch immer zu viele Privatfahrten an, so dass der VP an diesem Tag einem fremdländischen, chaotischem Basar ähnelte.

Nach längerem Suchen gelang es Robert, Felix bei dessen orientierungslosem Überqueren des Platzes ausfindig zu machen, und er fuhr langsam auf ihn zu. Er hielt direkt neben ihm und hupte kurz, worauf Felix in das Wageninnere schaute und Robert erkannte.

Er öffnete die Beifahrertür und rief: „Hallo, Robert. Gott sei Dank. Ich laufe schon ewig hin und her und suche dich.“

„Hallo, Felix, spring rein und lass uns abdüsen. Ist heute fürchterlich hier.“

Der Bruder zog die Tür schwungvoll hinter sich zu und ließ sich in den Sitz sinken. Sein Gepäck warf er nachlässig auf die Hinterbank.

Als Robert anfuhr, blickte er nach rechts zu Felix und grinste: „Hast zugenommen. Ist euer Leben so reichlicher als unseres?“

„Ja, ja. Ich weiß. Jetzt erzählst du mir wieder was von gesunder und enthaltsamer Lebensweise. Ach, Robert, ich weiß gar nicht, woher du deine Lebensfreude nimmst, wenn du so karg lebst. Naja, gesünder bist du jedenfalls als ich. Da muss ich dir recht geben.“

Felix fühlte sich bei dem Gedanken, dass sein Bruder wieder einmal das Richtige dachte und sagte, nicht wohl. Die Kritik an seiner Person machte ihm zu schaffen. Er wollte aber nicht, dass dies so offensichtlich wurde, und bemühte sich um einen unverkrampften Umgang damit. Das gelang ihm allerdings nur dürftig.

„Sei doch nicht gleich beleidigt. Aber was wahr ist, soll auch wahr bleiben. Also im Ernst, wie geht es dir und der Familie?“

„Danke, alles in bester Ordnung. Rita hat in letzter Zeit etwas mehr Sorgen wegen unserem Bengel.“

Felix nannte seinen Sohn stets Bengel. Seine Beziehung zu ihm litt unter einem erheblichen Mangel an Bindung, Emotionen und Offenheit. Der „Bengel“ war mehr oder weniger das Projekt seiner Frau, die mehr schlecht als recht ihre Erziehungsaufgabe allein wahrnahm. Robert dachte: ‚Nicht nur als Vater bist du ein Versager.‘

Laut sagte er: „Felix, du musst ihr mehr Unterstützung geben. Mit dem Bengel kommt man nicht mehr so leicht aus, der ist jetzt fünfzehn. Wie soll er denn ohne Mitwirkung seines Vaters ordentlich ins Leben wachsen und später ein guter Bürger unseres Landes werden?“

Felix gefiel das Gespräch immer weniger. Wenn er etwas nicht ausstehen konnte, dann war es Kritik an seiner Person, seinen Ansichten oder seinem Handeln. Robert tat genau das; er wusste es seit ihren Kindertagen: Immer war es Robert, der mit Aufrichtigkeit punktete, und immer war es Felix, der mit Verschlagenheit und Halbwahrheiten sein Ziel zu erreichen versuchte. Dass Robert ihm moralisch dermaßen überlegen war, ging ihm gewaltig gegen den Strich.

„Nun mach mal halblang! Davon verstehst du doch gar nichts. Hast kein Kind und kein Kegel und gibst schlaue Ratschläge.“

Sie waren vor dem Haus ihrer Mutter Doreen angekommen. Robert pflegte zu ihr eine gute Beziehung, die der von Felix jedoch nicht gleichzusetzen war. Doreen hatte sich Zeit ihres Lebens darum bemüht, zu beiden Kindern gleichberechtigt liebevoll zu sein, was ihr fast immer gelungen war. Jetzt, da ihre Söhne erwachsen waren, handhabte sie das nicht anders.

„Ist Mutter zu Hause?“, fragte Felix und beendete damit ihren Disput über Kindererziehung und Ernährung.

„Nein, sie ist noch auf dem Markt. Will aber zum Mittag wieder da sein. Es gibt Kammscheiben, Knödel und Sauerkraut. Weil du dir’s gewünscht hast – wie immer vor Weihnachten.“

„Ich hatte es gehofft. Schenkst du ihr was?“

Robert antwortete nicht. Sie stellten den Bulli der SE vor dem Haus ab und liefen über den Hof bis zum Hintereingang. Nachdem Robert aufgeschlossen hatte, liefen sie die vier Geschosse nach oben und betraten die Wohnung ihrer Mutter. Sie stellten fest, dass hier wie immer alles in einem sehr sauberen und ordentlichen Zustand war. Bei Doreen hatten Dreck und Unordnung keine Chance. Ihre Söhne waren da nicht so genau – eine der wenigen Gemeinsamkeiten der beiden.

Felix stellte im Wohnzimmer die Heizkörper auf die höchste Stufe und machte es sich in einem Sessel bequem. Er betrachtete das Inventar und den bereits geschmückten Weihnachtsbaum. Die Einrichtung der Wohnung war seit jeher bescheiden, einfach und immer in ordnungsgemäßem Zustand. Die Möbel waren offenkundig aus den frühen 1990-er Jahren an und das Design stieß bei Felix auf Abneigung – er wusste jedoch, dass seine Mutter nicht seinen finanziellen Rahmen für eine zeitgemäßere Einrichtung hatte.

Als sein Bruder nach ihm ins Zimmer kam und ihm ein Bier in die Hand drückte, fragte er: „Geht es ihr inzwischen wieder besser? Sie hat doch das letzte halbe Jahr nicht so rosig verbracht.“

„Ja, vor vier Wochen hatte sie die letzten Untersuchungen. Nun kann sie recht beruhigt in die Zukunft schauen. Hättest ja mal anrufen können. Also, los: Prost, ich freue mich, dass du hier bist. Kommen Rita und der Bengel morgen?“

Sie prosteten sich zu und Felix erklärte die Reiseumstände seiner Familie. Da Rita mit dem Bengel zu Besuch bei ihrer Verwandtschaft war, konnte sie erst einen Tag später anreisen, was Felix nicht besonders traurig stimmte. Es war nicht sehr weit von dort bis hierher, so konnte sie den Weg ohne größeren Aufwand selbst organisieren. Er freute sich darauf, mit seinem Bruder, seiner Mutter und Doreens Eltern einen ruhigen Abend „ganz in Familie“ zu verbringen. So sehr ihm dieses Gefühl selbst gut tat, er war nicht in der Lage, dieses auf seine eigene Familie zu übertragen oder ansatzweise in dieser Richtung Gefühle zu entwickeln. Robert war da vollkommen anders – sämtliche Fähigkeiten, die seinem Bruder auf diesem Gebiet fehlten, konnte er in besonderer Ausprägung zu seinen Stärken zählen.

Robert erzählte weiter von der überstandenen Krebserkrankung ihrer Mutter und den damit verbundenen finanziellen Problemen. Einen großen Betrag der Behandlungskosten und Medikamente musste die Familie privat aufbringen. Doreens Krankenversicherung schloss nur das einfachste Schutzpaket ein – eine teure Krebsbehandlung wurde dabei nur mit umfangreichen Eigenbeteiligungen der Versicherten vorgenommen. Das betraf allerdings drei Viertel der gesamten Bevölkerung. Die Frage nach einem Weihnachtsgeschenk ließ sich somit auch auf die einfache Art beantworten.

„Felix, ich habe im letzten halben Jahr locker drei Monatsgehälter an das Krankenhaus überwiesen. Das ist mein Geschenk.“

„Sorry, das wusste ich nicht. Wieso habt ihr denn mir nichts davon gesagt? Ich hätte auch was dazu beitragen können.“

Robert sah ihn fragend und unsicher an. Er überlegte, ob er seinem Bruder sofort die Meinung geigen oder im Interesse einer guten Stimmung darauf verzichten sollte. In Roberts Augen war das nachträgliche Angebot von Felix der blanke Hohn, obwohl er wusste, dass auch Felix einen minimalen Sinn für Familie und Nahestehende hatte. Allerdings ließ sein Engagement als Politiker dies nur sehr begrenzt zu – man könnte es auch als Aufflackern bezeichnen. Vielleicht war ja heute so ein Aufflackern zu erkennen. Robert sagte deshalb ziemlich gedämpft: „Zu spät, mein Guter. Probier’ doch mal, neben deinem Politikhype immer öfter auch was Persönliches und Privates in dein Leben zu lassen. Felix, du gehst komplett in deiner Funktion auf und veränderst dich damit.“

Es entstand eine Gesprächspause. Felix sah vor sich hin und dachte über Roberts Worte nach.

Dieser schob nach einer Weile nach: „Und nicht zu deinem Vorteil.“

„Hast ja recht. Ich merke das selber, aber das eigene Eingeständnis fällt sehr schwer. Ich mach auch nur das, wovon ich glaube, dass ich es am besten kann. Denkst du, in meinem Business ist alles nur rosarot? Robert, da geht’s zu wie auf dem Schlachtfeld. Wer zuckt hat verloren. Ich hab nur Konkurrenten und Gegner um mich herum, selbst in meiner eigenen Partei. Schuster ist mir da noch am ehesten eine Hilfe. Ich hab dir von ihm erzählt.“

„Ist schon gut, lass uns den Weihnachtsfrieden wahren. Aber ein paar kritische Anmerkungen kann jeder mal gebrauchen. Los, Mutter kommt jeden Moment, lass die Flaschen verschwinden.“

Felix nahm den Waffenstillstand der Worte an, konnte sich jedoch nicht verkneifen, noch einen Pfeil gegen Robert abzuschießen.

„Mein Bruder, der große Demokrat und Revoluzzer – und wenn die Mama kommt, müssen schnell die Biere weg. Ich denk, in euren Kreisen geht es so offen und unkompliziert zu?“

„Lass gut sein“, Robert grinste nur und sagte weiter: „Das kriegst du alles zurück, du Vertreter der Bourgeoisie!“

Nach einer Weile des stillen Wartens klingelte es an der Wohnungstür und beide standen auf, um Doreen zu begrüßen.

Felix nahm ihr die Einkaufstüten ab und ließ sich von ihr herzlich drücken. Doreen freute sich immer aufrichtig, wenn sie ihre beiden Söhne bei sich zu Hause hatte und sich um sie kümmern konnte. Sie betrachtete Felix schon seit Ewigkeiten nicht mehr als ihr Pflegekind, sondern machte, was ihre Herzlichkeit betraf, keine Unterschiede zwischen den beiden. Es war ohnehin in der zweiten Hälfte der 2010-er Jahre sehr schwer geworden, angesichts der verknappten und verteuerten Mobilität, Freunde oder Verwandte zu besuchen. Wenn sie Felix zwei Mal im Jahr sah, war das viel, und sie freute sich, dass er mit seiner privilegierten Stellung die Möglichkeiten dazu hatte. Das ging den wenigsten Familien so. Es war inzwischen die Regel, Besuche nur noch in unmittelbarer Nähe anzutreten. Sobald die Strecke zu groß wurde, machte man sie schlicht nicht mehr. Das Geld für die Treibstoffe konnte einfach kein normaler Privathaushalt mehr aufbringen. Jeder war indessen froh, wenn seine Angehörigen nicht mehr in die Ferne zogen, um zu arbeiten oder das Leben zu genießen. Da trotzdem viele der jüngeren Menschen diesen Wunsch verspürten, brach die familiäre Bande in den meisten Fällen auseinander, und es fehlte der Mehrzahl der Menschen an sozialen Bindungen – ein erheblicher Grund für die deutlich spürbare Schieflage im sozialen Gefüge der Republik. Es sehnten sich sogar viele wieder nach Verhältnissen, wie sie vierzig Jahre zuvor im Ostteil des Landes herrschten – und das in der gesamten Republik.

Doreen machte sich nach der längeren Begrüßung in der Küche zu schaffen. Als sie später zusammen saßen und sich das Mittagessen schmecken ließen, strahlte sie unmerklich. Diese Momente gaben ihr Wärme und Zufriedenheit. Jedoch dachte sie auch daran, dass ihre Söhne regelmäßig aneinander gerieten und sich im Streit heftige Wortgefechte lieferten. Sie waren einfach zu unterschiedlich. Sie jedoch wollte die nächsten Tage in Ruhe verbringen und hoffte, dass es vielleicht diesmal ohne größere Streitereien klappte.

Später, nach dem Mittagessen sprachen sie wenig. Robert hatte anklingen lassen, dass er über den Besuch bei Paul Bescheid wissen wollte, doch Felix hatte nur abweisend geantwortet, er habe wegen seiner Arbeit in einem neuen Arbeitskreis noch keine Gelegenheit dazu gehabt. Er wolle über die Feiertage versuchen, diesen Besuch zu erledigen. Dazu habe er seiner Frau klargemacht, dass die gemeinsame Rückreise diesen Umweg bedeuten würde. Der Bengel war zwar nicht begeistert, hatte aber gegenüber seinem Vater keinerlei Stimmrecht.

Seine Tätigkeit im AK Finanzkonsolidierung erwähnte er nicht weiter, auch aus dem gegebenen Geheimhaltungsversprechen.

***

Der unvermeidbare Familienstreit brach am Heiligabend aus. Auslöser war ein vorerst harmloses Gespräch zwischen Felix und seiner Frau Rita. Er hatte sich bei ihr erkundigt, wie die Fahrt zum VP gewesen war, und erfahren, dass sie den Mietbus selber gefahren hatte.

„Wie kannst du nur so naiv sein?!“, polterte er ziemlich heftig los. „Du weißt, was uns deine Fahrerei schon gekostet hat. Der Bus war mit meiner ID bezahlt!“

Sie erwiderte ohne große Gegenwehr: „Sei nicht so aggressiv, so schlimm fahre ich nicht. Ich habe nichts bemerkt, wenn dich das beruhigt. Die anderen wollten nicht fahren.“

„Rita, du hast wirklich keine Ahnung! Nichts bemerkt, das ist doch Quatsch. Lückenlos bist du dran – und das auf mein Konto! Ich kann es gar nicht fassen, dass du selber gefahren bist. Wie kann man nur so doof sein!“

Der Bengel wollte Rita helfen und wandte ein: „Es war wirklich nichts, Mama ist ganz ordentlich durchgefahren.“

Jetzt wurde sein Vater richtig laut und grob: „Bengel, halt dich da raus! Du hast gar nichts zu sagen. Deine Mutter hat einen Fehler gemacht und du wirst den nicht rückgängig machen. Also halt die Klappe!“

Felix hatte sich in Rage geredet. Auch die nervösen Blicke von Doreen, die den Streit mitbekam, änderten daran nichts. Felix konnte nicht wegen einer vermeintlichen friedlichen Weihnachtszeit darauf verzichten, auf dem Unrecht herumzuhacken, das ihm wahrscheinlich durch Ritas Fahren blühte. Robert hatte im Nebenzimmer in etwa mitbekommen, worüber die beiden stritten. Er versuchte sich herauszuhalten, wusste er doch, dass sein Bruder weitestgehend recht hatte.

Grund für die erhebliche Aufregung war, dass seit vergangenem Jahr die lückenlose Verkehrsüberwachung durch die Regierung beschlossen und in einer dreimonatigen Übergangszeit technisch in die Tat umgesetzt worden war. Grundelement dieser hundertprozentigen Überwachung wurde eine Blackbox, die jeder Fahrzeughalter auf eigene Kosten einbauen musste. Herstellung und Vertrieb liefen über den Staat. Zu dieser Box gehörten vier Minikameras, die nicht größer als eine Scheckkarte waren, über Funk ihre Bilder von allen Fahrzeugseiten an die Box sendeten und die einfach in die Fensterscheiben geklebt wurden. Die Box zeichnete damit jede Bewegung des Fahrzeuges optisch auf und speicherte dazu jeweils Datum, Uhrzeit, GPS-Daten und Geschwindigkeit. Die Zuordnung des Fahrers über sein persönliches ID wurde technisch noch nicht umgesetzt, war aber nur noch eine Frage von Monaten. Die Halterermittlung reichte vorerst für die Verfolgung von Verstößen vollkommen aus. Die gespeicherten Daten der Box wurden einmal im Monat über UMTS abgerufen und elektronisch ausgewertet. An zentraler Stelle liefen die Daten zusammen. Dort mussten dann lediglich noch Algorithmen die jeweiligen Geschwindigkeitsüberschreitungen oder Missachtungen von Verkehrszeichen erkennen, die jeweilige Ordnungswidrigkeit oder den Straftatbestand zuordnen und das dafür zu erhebende Strafgeld bestimmen. Das Geld wurde anschließend automatisch vom Konto des Fahrzeughalters abgebucht. Eine Überwachung der Verkehrsräume durch die Polizei wurde damit vollkommen überflüssig.

Das System arbeitete so zuverlässig, dass die Verkehrsverstöße in so hohem Maße zurückgingen, dass seitens des Staates die Strafmaße ständig erhöht werden mussten, um die kalkulierten Einnahmen sicherzustellen. Allein durch den Wegfall der Verkehrspolizei konnte die Regierung jährlich eine ganze Menge Geld einsparen. Verstöße gegen die Einbaupflicht für die Blackbox wurden mit Geldstrafen in Höhe von 30 Tagessätzen und der Stilllegung des betroffenen Fahrzeuges geahndet. Es funktionierte wirklich reibungslos und zielsicher. Ein angenehmer Nebeneffekt war, dass der Straßenverkehr erheblich an Sicherheit gewann, was andererseits auch mit dem Rückgang der Privatfahrten an sich zusammenhing. Die Republik wurde in dieser Hinsicht das sicherste Land der Welt – und das innerhalb von nur einem Jahr.

Auf Ritas Fahrweise übertragen bedeutete das für Felix, dass er die Verstöße seiner Frau über die Buchung des gemieteten Kleinbusses mittels seinem ID auch die Strafgelder verbucht bekam. Zudem hatte er zu Beginn dieses Überwachungsprogramms enormes Lehrgeld bezahlt; das verschwieg er immer häufiger. Die Abbuchungen am Monatsende waren teilweise eine krasse Belastung gewesen, waren hier doch Beträge von einem halben Monatseinkommen angefallen.

Er schloss das Thema mit den Worten ab: „Rita, das war das letzte Mal. Ich gehe nicht dafür arbeiten, damit du das Geld übers Gaspedal an den Staat zurückbuchst. Ich kürze dir dafür dein Taschengeld auf die Hälfte.“

Es war ihm egal, ob er gerade zu Heiligabend diese Maßnahme verkündete. In dieser Beziehung war er knochentrocken oder, was er lieber hörte, chemisch gereinigt.

Robert hatte inzwischen alles mit angehört und konnte nur den Kopf schütteln. Am liebsten hätte er beiden ordentlich seine Meinung gesagt und dabei mit Kritik nicht gespart. An Robert störte ihn, dass er in persönlichen Dingen diese Härte anwendete, und an Rita störte ihn, dass sie tatsächlich so dämlich Auto fuhr. Und das war so naiv, nachdem die gesamte Republik bezüglich des Fahrverhaltens einer Rosskur unterzogen worden war.

Robert beschloss, es dabei bewenden zu lassen und vielleicht später in besserer Stimmung mit seinem Bruder unter vier Augen zu reden.

Auch Doreen war wieder etwas gelöster, nachdem sich die beiden Streithähne beruhigt hatten. Während des Gesprächs hatte sie sich beflissentlich mit dem Bengel beschäftigt. Allerdings konnte sie dabei nicht auf normale Omaqualitäten bauen, dazu war das Verhältnis zwischen ihr und dem Enkel einfach zu flach und zu gelegentlich.

Am Abend fanden sich alle in Doreens Wohnzimmer ein, um den heiligen Abend zu begehen. Geschenke gab es nicht, mit Ausnahme eine selbstgestrickten Schals, den Doreen ihrem Sohn Robert schenkte; als Dankeschön für seine Unterstützung während ihrer Krankheit. Robert ging das nicht sehr nahe. Der erste und zweite Feiertag wurde in Monotonie verbracht, gutes Essen und kurze Spaziergänge in den Auwald wechselten sich ab. Die Abende widmeten stets alle gemeinsam einem langen Rommeespiel. Unterm Strich ging es bis zur Verabschiedung in den Abendstunden des zweiten Feiertages recht harmonisch zu. Leider geschah dies nur unter der Zurückhaltung der angestauten Emotionen zwischen Robert und Felix. Wenn es nur nach Felix gegangen wäre, hätte er seinen Teil des Streitpotenzials unterdrücken können; nicht aber sein Bruder Robert. Nach der Verabschiedung an der Wohnungstür begleitete Robert die drei noch bis vor die Haustür.

Kaum standen sie auf der Straße donnerte Robert schon los: „Felix, du bist aber auch ein unausstehlicher Kotzbrocken. Wie kannst du nur so herzlos mit deiner Familie umgehen? Was soll das?“

Der Angesprochene hatte mit diesem Vorwurf „in letzter Minute“ nicht mehr gerechnet und antwortete etwas unsortiert: „Robert, wie meinst du das? Hatten wir nicht zwei schöne Weihnachtstage? Mach doch nicht alles immer kaputt mit deinem engstirnigen Moralgedöns!“

Felix fühlte sich zu Unrecht angegriffen, war ihm doch solches Fehlverhalten, wie es ihm sein Bruder vorwarf, gar nicht bewusst.

Robert fluchte weiter: „Das sieht dir ähnlich. In deinem Politikclub ist so was wahrscheinlich in Ordnung. Hier geht’s aber um echte Menschen: deine Familie.“

Rita und der Bengel waren zu Beginn des Wortwechsels sofort in den Mietbus gestiegen und hatten die Türen wütend zugeschlagen. Auch ihnen ging die ewige Streiterei der beiden Brüder gewaltig gegen den Strich. Der Bengel hatte überhaupt keine Vorstellung und Ritas Oberflächlichkeit ließ ebenfalls nur wenig Selbsterkenntnis und damit Einsicht in die Perspektiven ihres Schwagers zu.

„Bruderherz“, versuchte Felix zu beschwichtigen, „was habe ich dir denn getan? Sei mal selbst nicht so krass an Weihnachten!“

„Hoffentlich, mein lieber Felix, wirst du nie eine wirklich verantwortungsvolle Funktion in unserem Land übernehmen. Davor würde mir grauen. Du bist einfach nicht fähig genug, die Ängste und Nöte deiner Mitmenschen zu analysieren, geschweige denn zu lenken und zu leiten.“

Felix war indessen richtig verärgert und bedauerte seinen Besuch in der ehemaligen Messestadt. Eigentlich verfluchte er jedes Jahr bei seiner Abreise diesen Umstand. Sollte sein Bruder doch in seinem kleinen Südvorstädtchen seine Revolution beginnen. Die Hackordnung in der Republik oder der Welt kratzte das nicht. Und Felix auch nicht. Trotzdem liebte er seinen Bruder und versuchte weiter, die Verärgerung etwas zu dämpfen.

„Robert, ich versichere dir, dass ich mich voll und ganz im Sinne unserer Bevölkerung im Rahmen meiner Möglichkeiten einsetze. Du weißt nur nicht, wie begrenzt diese Möglichkeiten sind. Glaubst du, ich kann einfach mal ’ne tolle Idee in die Tat umsetzen, als Gesetz vorschlagen? Und dann wird alles besser?“

Erneut dachte er an seine Aufgabe im Arbeitskreis, mit dem er auch am Folgetag wieder eine Zusammenkunft hatte. Eigentlich hatte er es sehr eilig, wollte er doch auch noch den Besuch im Gefängnis bei Paul bewerkstelligen.

„Ich glaube dir gar nichts. Obwohl du mein Bruder bist und wir eigentlich Vertrauen zueinander haben sollten. Los, macht euch nach Hause und grüß Paul. Aber eins sag ich dir, ich finde raus, was ihr zusammen besprochen habt. Lass bloß die Finger von ihm. Der soll seine Strafe absitzen und ein besserer Mensch werden. Hast du mich verstanden?“

Robert hatte sich wieder beruhigt, aber die Warnung bezüglich Paul wollte er noch loswerden.

Felix erwiderte: „Mach dir keine Gedanken darüber. Zumindest keine schlechten. Was denkst du eigentlich von mir? Bin ich in deinen Augen etwa nicht rechtschaffen?“

„Macht es gut und gute Heimfahrt, Felix.“

Er verabschiedete sich noch von Rita und dem Bengel und drückte zum Abschluss seinen Bruder lange.

Sie konnten nicht mit und nicht ohne einander.

2022 – Unser Land

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