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Erster Teil 1. Ultra-schrill
ОглавлениеWarum sollte ich mich eigentlich am Buffet rumdrängeln? Dafür gab es doch überhaupt kein stichhaltiges Argument. Also kurvte ich ein bißchen in der Gegend umher, es war eh’ zu früh, um schon auf Thomsens Party aufzutauchen, und machte dann diesen Griechen aus. Bei einer Erhebung würde sich mit Sicherheit ergeben, daß die meisten griechischen Lokale Knossos oder Alexis Sorbas heißen. Sei’s drum. Meins hieß Taverna Kret. Ein Gast hatte den Rest wohl als Andenken mitgehen lassen. Irgendwie sehen die Dinger alle gleich aus, und bestimmt lernen die Griechen schon auf der Schule, wie ein griechisches Lokal im Ausland auszusehen hat, damit auch jeder mögliche Besucher sofort erkennt: »Ah, ein griechisches Lokal.«
Ah, ein griechisches Lokal, dachte ich und parkte meinen Wagen. Der Wirt polierte auf der Theke herum, als wollte er den Lappen durchscheuern, und grinste mich an. Die Inneneinrichtung hatte er über eine Sammelbestellung bekommen. Bilder mit blauem Meer, brauner Erde und weißem Gebäude, mit Flügeln dran. Rechts davon ein Knoblauchring, davor ein Piédestal mit dem Kopf von Sokrates drauf. Links vom Eingang saßen zwei Frauen und sprachen mit ernsten Gesichtern aufeinander ein. Sie diskutierten. Um ihre körperlichen Reize zu verstecken, hatten sie sich schwere Pullover gestrickt, grün-grau mit dorischem Reliefmuster. Auf der Bank neben ihnen lagen ihre Umhängetaschen aus hellbraunem Schweinsleder.
»Er ist wie die anderen«, sagte die Blonde mit dem langen Zopf. Ich zuckte zusammen.
»Ja«, schluchzte die zweite, »ich weiß«, und wischte sich mit der rechten Hand über die Augen.
Der Wirt hatte mir schon einen Ouzo eingeschenkt und wartete mit Glas und Speisekarte bewaffnet auf meine Tisch-Entscheidung. Als er sah, welchen ich ansteuerte, setzte er sich auch in Bewegung. »Herzlich willkommen«, sagte er, als ich Platz nahm.
Ich bestellte ein Souwlaki, ein Selters und zündete mir eine Zigarette an.
Bis auf die beiden Frauen, mich und ein Ehepaar, das hinter mir saß, waren keine weiteren Gäste da. Der Wirt schob hinter der Theke eine Holzklappe beiseite, rief meine Bestellung in einen weißgekachelten Raum und zündete sich ebenfalls eine Zigarette an. Dann manipulierte er ein bißchen an einem Recorder herum, und schon ertönten Sirtaki-klänge.
»Was erwartest du denn?« fragte die Blonde gerade ihre Freundin. Als Antwort gab’s nur heftiges Schulterzucken. Mein Selters kam, und ich nippte dran. Die Sirtaki-Musik spielte auf der Stelle. Draußen fuhren Autos vorbei. Ein Mann betrat das Lokal, schaute sich kurz um und verschwand. Der Wirt wienerte wieder auf der Theke herum, und das Ehepaar hinter mir sprach noch immer kein Wort miteinander. Nur ab und zu schabten ihre Bestecke über die Teller, oder sie gössen sich Wein nach.
Hinter der Theke ging das Holzbrett zur Seite, und es klingelte. Der Wirt legte seinen Lappen weg und drehte sich um. Es fielen zwei, drei griechische Wörter, dann nahm er die beiden Teller und brachte sie den Frauen.
»Nun iß erst mal«, sagte die Blonde zu der Kurzhaarigen.
Als Antwort hörte man ein Schneuzen. Mit ernstem Gesicht brachte der Wirt eine neue Papierserviette.
Ein ganz leises und kleines »Danke« wurde gesagt.
»Was die Kinder wohl jetzt machen?« fragte die Frau hinter mir.
»Die schlafen«, sagte der Mann.
»Hoffentlich, ich bin so unruhig.«
»Mhm.«
»Ach, nun sei doch nicht böse, Bernd. Zum Wohl.«
Sie stellten die Gläser wieder ab.
»Es ist doch nur …«
»Mhm, is’ ja schon gut«, sagte der Mann.
Der Wirt brachte mein Essen, und ich dachte an Michael Thomsen und seine Frau Uta.
Michael war ein Studienkollege von mir gewesen, und einmal im Jahr erreichte mich seine Einladung zur großen Party. Letztes Jahr war ich nicht dagewesen, deshalb hatte er mich dieses Jahr mehrmals angerufen, damit ich auch bestimmt käme. Zudem würde mich einer seiner Gäste gern mal für fünf Minuten in Beschlag nehmen. Ich mochte Michael und seine Frau Uta, sie waren schon zwei Ewigkeiten zusammen. Michael und ich lernten uns beim Jura-Studium kennen, Uta studierte Industrie-Design. Noch vor ihren Examen heirateten sie. Später machten sich beide selbständig, er als Anwalt, sie als Designerin. Beide hatten heute gutgehende Büros. Ob sie sich noch so liebten wie damals? Jedenfalls taten sie sich nichts, und das ist schon eine ganze Menge wert.
Hatten wir damals eigentlich eine schöne Zeit, als wir drei loszogen? Manchmal wenn ich traurig bin, denke ich daran. Erinnerungen. Irgendeinen Wert werden sie haben, sonst würden sich die Schachteln, in denen sie versteckt sind, nicht öffnen.
Wir drei in Utas Wagen auf dem Weg zum Meer, statt in die Vorlesung zu gehen.
Die gemeinsame Reise nach Italien, wo ich in der Nacht mit Sack und Pack aus der Pension abhaute, weil ich störte. Die Beerdigung von Utas Vater, den sie seit siebzehn Jahren nicht mehr gesehen hatte, er verließ die Familie, als sie vier war. Wir drei standen rechts vom Grab, wir gehörten nicht dazu. Die andere Familie stand weiter links, eng gedrängt, wie eine Herde, so als müsse sie sich schützen.
Und dann diese andere Frau ihres Vaters. Vor der Kapelle strich sie um Uta, Michael und mich herum, als wären wir ein potentieller Unruheherd. Sie begrüßte Uta, ohne ihr die Hand zu geben. Michael und mich ignorierte sie. Sie preßte ihre Lippen weg, als sie bei Uta stand.
Utas Stiefbruder, sie sah ihn zum erstenmal, hielt sich sichernd wie ein Terrier im Hintergrund bereit, sich festzubeißen und niemals mehr loszulassen.
»Er hat nichts hinterlassen, was Sie interessieren könnte«, sagte die Frau.
Uta schwieg.
»Es reicht zum Leben«, sagte die Frau.
Der Sohn im Hintergrund rief leise: »Mutter.«
Die Frau schüttelte unwillig ihren Kopf und öffnete ihre schwarze Handtasche mit goldfarbenem Klappverschluß.
»Er hat mich gebeten, Ihnen dies hier zukommen zu lassen«, sagte die Frau und gab Uta einen Briefumschlag.
Auf der Vorderseite stand mit zittriger Schrift »Für meine Tochter Uta« geschrieben, und am Klebefalz konnte man erkennen, daß der Brief geöffnet worden war.
Die Frau drehte sich um und wollte gehen.
»Interessiert Sie nicht, was drin ist?« fragte Uta.
Die Frau blieb stehen und drehte sich wieder zu uns.
»Mutter«, sagte der Sohn im Hintergrund.
Uta riß den Umschlag auf und entnahm ihm ein Bild. Sie hielt es so, daß wir es auch sehen konnten. Ein junger Mann mit einem Baby auf dem Arm. Im Hintergrund zerstörte Häuser. Der Mann lachte in die Kamera und versuchte gleichzeitig das Baby auf seinem Arm durch Kitzeln zum Lachen zu bringen. Das Kind schaute aus kleinen Augen in die Kamera, die Sonne schien es zu blenden. Die Lippen waren voll, der Mund ein wenig gespitzt. Der rechte Arm, der aus dem weißen Taufkleidchen hervorkam, lag auf dem Arm des Vaters, der Zeigefinger an die Handfläche gedrückt. Da, wo sich später die Gelenkknochen aus dem Handrücken erheben würden, waren nur kleine Grübchen zu sehen. Der große und der kleine Kopf waren auf dem Foto ungefähr einen Zentimeter voneinander entfernt.
Uta betrachtete das Foto, die Frau betrachtete Uta.
Dann riß Uta das Foto in der Mitte durch, genau zwischen den beiden Gesichtern. Zwei Fotos. Auf dem einen ein Mann, der jetzt ohne Grund lachte, auf dem anderen ein kleines Mädchen, von Armen gehalten, die von irgendwo herkamen.
»Er gehört doch Ihnen«, sagte Uta und hielt der Frau den Schnipsel hin.
Die Frau nahm die Bildhälfte und ging.
Mit weit geöffneten Augen sah Uta über uns hinweg und sagte: »Scheiße. Oh, gottverdammte Scheiße.« Dann ging sie in die Kapelle. Wir folgten ihr. Die ganze Trauerfeier über hielt sie das Bild von sich in den Händen. Ab und zu warf die Frau einen mißtrauischen Blick über die Schulter zu Uta hin. Die Predigt war nur kurz, der Pastor hatte nicht viel über Utas Vater zu erzählen, außer daß er ein guter Mensch war, dessen Mittelpunkt die Familie bildete. Nachdem die Musik verklungen war, winkte der Pastor die Familie nach vorn, damit sie von ihrem Oberhaupt am offenen Sarg Abschied nähme. Es scharrten ein paar Füße, ansonsten ging es stumm vor sich. Die andere Frau legte ihrem Mann einen kleinen Blumenstrauß auf die Hände. Als die Familie sich wieder zurück zu ihrer Bank begab, öffnete sich eine Seitentür der Kapelle, und sechs Sargträger näherten sich. In diesem Moment stand Uta auf, zwängte sich durch unsere Reihe und ging den Mittelgang runter. Sie erreichte den Sarg kurz vor den Trägern, in der Hand die Fotohälfte. Nur eine Sekunde blieb sie stehen und schaute auf den toten Mann im Sarg. Dann beugte sie sich darüber. Als sie wieder hochkam, hatte sie das Foto nicht mehr in der Hand. Sie hatte es dem Mann in die toten Finger gedrückt. Die andere Frau ruckte mit dem Kopf hin und her, während die Sargträger andächtig verharrten und der Pastor zur Decke des Kirchenschiffs blickte, wo ein Jesus mit weitem Gewand und gefolgt von einer Engelschar am lichtblauen Himmel herumflog und gnädig auf die Trauergemeinde herunterblickte. Uta ging den Weg, den sie gekommen war, zurück, und für einen Moment sah es so aus, als ob der Terrier auf den Sarg seines Vaters zuspringen wollte, um das Foto aus den toten Händen zu reißen, aber da hatten sich die Träger schon den Deckel geschnappt und begannen, den Sarg zuzuschrauben.
Ich legte mein Besteck auf den Teller und wischte mir den Mund ab. »War das Essen gut?« fragte der Wirt, als er abräumte.
Ich nickte und bestellte mir einen Kaffee, dann zündete ich mir eine Zigarette an. Das Ehepaar hinter mir bezahlte und verließ schweigend das Lokal.
Die beiden Frauen am Tisch diskutierten jetzt heftig über Männer. Als Verteidiger für mein Geschlecht waren mir beide zu wenig loyal. Als mein Kaffee gebracht wurde, kam der Mann von vorhin wieder ins Lokal. Aber diesmal drehte er sich nicht nur mal kurz um die eigene Achse, um dann wieder zu verschwinden, sondern er blieb mit verschränkten Armen im Eingangsbereich stehen, so, daß die Frauen ihn sehen mußten.
Und sie sahen ihn.
»Verschwinde«, sagte die Blonde.
»Ich muß mit Laura sprechen.« Seiner Stimme
fehlte ein bißchen die Festigkeit. Ich setzte meine Tasse ab und betrachtete ihn. Auch er trug Cordhosen, einen dicken grau-grünen Pullover mit Relief und diese breiten Lauf-1000-Kilometer-und-Du-fühlst-Dich-trotzdem-wohl-Schuhe. Der Wirt schenkte einen Ouzo ein und steckte sich eine Speisekarte unter den Arm.
»Ich muß mit Laura sprechen«, sagte der Mann.
Laura weinte.
»Verschwinde«, sagte die Blonde.
Der Mann machte einen Schritt auf den Tisch zu, sein Blick streifte mich.
»Laß ihn sagen …«, schniefte Laura.
»Aber … aber nur kurz«, sagte die Blonde.
Der Mann war jetzt am Tisch, zog den ersten Stuhl vor und fragte unschlüssig: »Kann ich mich …?«
Seine Frage blieb in der Luft hängen, er bekam auch keine Antwort. Er zögerte, dann gab er sich einen Ruck, zog den Stuhl ganz heraus und nahm Platz.
Der Wirt schoß vor, stellte ihm den Begrüßungsschnaps hin und sagte: »Herzlich willkommen.«
Dann reichte er ihm die Karte. Der Mann hob abwehrend die Hände: »Danke. Ich möchte nichts essen.« Pause. Dann bedeutungsschwer: »Ich habe keinen Appetit.«
Lauras Kopf ruckte hoch. Wenigstens litt er. Die Blonde stieß Atem aus. Irgendwie klang es verächtlich.
»Aber wir sind eine Speiselokal«, sagte der Wirt.
»Ich weiß … ich …« Der Mann blieb stecken.
»Aber wenigstens trinken«, sagte der Grieche.
»Ja.«
»Was?«
Ohne in die Karte zu blicken, sagte der neue Gast: »Retsina.«
Ein trockener Auf Schluchzer von Laura. Ein Stück Erinnerung.
Die Sirtaki-Musik paßte dazu. Die Blonde legte ihrer Freundin die Hand auf die Schulter und sagte mahnend: »Laura, bitte.«
Ich schaute auf meine Uhr, kurz vor neun. Bald mußte ich los.
»Was hast du zu sagen, Heiner?« fragte die Blonde.
Der Wirt brachte eine Karaffe mit Glas und schenkte den Wein ein.
»Ich will nur sagen, daß mir alles schrecklich leid tut«, sagte Heiner und drehte verzweifelt das Glas zwischen Daumen und Zeigefinger.
»Ha«, rief die Blonde.
»Du lügst«, sagte Laura.
»Halt du dich doch da raus, Brigitte.« Heiner stellte das Glas so heftig ab, daß Wein auf die Tischdecke schwappte.
»Das hättest du wohl gern …«, sagte Brigitte.
»Ja, sehr gern sogar.« Heiner nestelte eine Packung Tabak unter dem Pullover hervor und begann, sich eine Zigarette zu drehen.
»Du wirst eben mit deinen Süchten nicht mehr fertig und machst uns dafür verantwortlich, Heiner, das ist die Wahrheit.« Jetzt hatte Brigitte ihn aber zu fassen. Meine Fresse.
Umständlich pflückte er die Tabakfussel vom Ende der Zigarette ab: »Laura, bitte laß uns reden, ohne … ohne sie.«
»Ha«, rief Brigitte.
»Du lügst«, sagte Laura.
Ich zündete mir eine weitere Zigarette an und sah, daß der Wirt nur noch halbherzig auf dem Tresen rumputzte.
»Lügen, lügen, wieso lüge ich?«, Heiner entzündete seine Zigarette, »ich hat/ dir gesagt, wie es um mich steht. Ich weiß nicht weiter, ich finde mich nicht zurecht, ich verstehe auch dich nicht mehr, Laura.«
»Du machst mit anderen Frauen rum«, sagte Laura.
»Laß Melanie aus dem Spiel. Sie hat nichts damit zutun.«
»Schwein«, sagte Laura.
»Ha« rief Brigitte.
»Laß doch Melanie da raus«, er nahm einen neuen Anlauf, »das ist doch mein Problem, daß ich auch Lust auf andere habe. Ich kann das doch nicht immer unterdrücken.«
»Das ist wohl eure neue Ideologie in eurer Macho-gruppe, was?«
»Brigitte, das ist keine Machogruppe. Das ist eine Männer-Selbsterfahrungsgruppe. Wir haben uns zusammengefunden, weil wir Probleme haben …«
»Fick-Probleme.« Brigitte keuchte.
Der Wirt hatte das Putzen mittlerweile eingestellt und stützte seinen Kopf auf die Hand, die den Wischlappen hielt. Er hatte die Holzklappe aufgezogen. Ich zeigte auf meine Kaffeetasse und bestellte noch eine.
»Meinetwegen auch das.« Heiner drehte sich eine neue Zigarette.
»Jetzt laß hier bloß nicht den coolen raushängen. Das Bumsen ist doch das einzige, worum es euch geht. Ob Macker oder Softie, gleicher Wein in allen Schläuchen …«
»Wow«, sagte ich laut.
Brigitte drehte sich zu mir um. Ich prostete ihr mit der Kaffeetasse zu: »Das mit den Schläuchen gefällt mir.«
»Arsch«, sagte Brigitte.
»Brigitte, bitte«, jetzt legte Laura ihrer Freundin die Hand auf den Arm.
»Nein«, rief Brigitte, »mir hängen diese Scheiß-Schwänze zum Hals raus …«
»Uuh, ooh«, rief ich.
»Da sitzt es nämlich, Laura …«, sagte Heiner, »diese frustrierte Lesbe löst ihre Scheißprobleme auf deine Kosten.«
»Chauvi!« Brigitte stieß ihr Weinglas um.
Ich legte dreißig Mark auf den Tisch. Als ich am Tisch vorbeikam, sagte Brigitte: »Verpiß dich.«
Ich sah sie an. »’n bißchen mehr Solidarität kann ich schon erwarten, Schwester. Ich bin nämlich auch lesbisch.«
Ich hatte irgendwie erwartet, daß die Luft draußen wie Honig wäre. Aber eigentlich roch sie nach nichts, noch nicht einmal nach Moschus.