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2. Enter my dreams

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»Schön, daß du da bist, Thomas.« Utas Stimme, ich liebe sie. Sie kniff mir in die Wange.

Ein Ober mit einem Tablett voller Gläser drängte sich an uns vorbei und sagte: »Pardon.«

»Bin ich zu spät?«

»Oh, nein.« Sie nahm meine Hand und zog mich hinter sich her. »Mal sehen, ob ich in diesem wooling Michael finde. Wir haben uns schon sehr auf dich gefreut.«

»Ich mich auch auf euch.«

Ungefähr achtzig Leute hielten sich in den beiden vorderen Räumen auf, wo auch das Buffet aufgebaut werden sollte, das angemietete Personal war gerade damit beschäftigt. Draußen auf der Terrasse und im Garten trabte sicherlich noch einmal die gleiche Anzahl von Gästen auf und ab.

Eine Frau zupfte Uta an ihrer Seidenbluse und wollte ihr etwas ins Ohr flüstern.

»Momentchen, Marion. Aber ich muß erst unseren Gast zu Michael bringen. Ach, Entschuldigung. Kennt ihr euch? Thomas Herbst. Marion von Witzhave.«

»Oh, hallo,«

»Hallo.«

»Nett hier.«

»Ja, sehr«, sagte ich.

»Wir sehen uns noch, Marion«, sagte Uta.

»Oh, ja unbedingt«, sagte Marion.

»Du, ich schlag’ mich auch allein durch«, sagte ich leise. -

»Uuh, bloß nicht.« Uta zog mich weiter. Als wir auf die Terrasse hinaustraten, drückte mir einer der Ober ein Glas Champagner in die Hand. Hinter den Bäumen schimmerte Abendlicht, und die Luft roch nach Parfüm. Die Gespräche vermischten sich zu einer Geräuschkulisse, untermalt von Musik, die zurückhaltend aus den an verschiedenen Punkten aufgestellten Lautsprechern kam. Wenn ich die Augen geschlossen gehabt hätte, als ich Michaels Lachen hörte, wäre es bestimmt für einen Moment wie früher gewesen. Aber so war es eben nicht. Vielleicht hätte mich die Tonlage seiner Stimme täuschen können, aber ich sah ihn dabei. Er warf den Kopf dabei ein bißchen in den Nacken, er lachte, weil er lachen wollte, nicht weil er lachen mußte. Wir sahen uns in die Augen und grinsten. Er stand in einer Gruppe von Männern, die sich über weiß Gott was unterhielten und dabei amüsierten. Michael verschwand für einen Moment aus meinem Blickfeld und tauchte dann vor der Gruppe wieder auf.

»Bin gleich wieder zurück«, rief er über die Schulter und kam auf mich zu. Er goß sein Glas auf dem Rasen aus und umarmte mich. »Alter, du machst dich zu rar.«

Vorsichtig legte ich ihm meinen linken Arm um die Schulter und versuchte, seine Herzlichkeit zu erwidern. Das Glas in meiner rechten Hand hielt ich fest. Er löste sich von mir, schob mich leicht von sich weg, ließ aber seine Hände auf meinen Schultern liegen und betrachtete mich.

»Wo sind bloß die Jahre, Thomas?« sagte er leise.

»Hast du das irgendwo gelesen, Michael?«

»Nein, mir ist so.«

Ich sah ihn an. Er sah gut aus, aber irgend etwas an ihm war verändert. An seinen Augenbrauen wuchsen drahtige Haare, dicker und widerspenstiger als die anderen. Der Bartschatten war intensiver geworden. Wenn wir älter werden, verändert sich die Behaarung.

»Ich werf’ mich dann mal wieder ins Getümmel«, sagte Uta.

»Tu das.« Michael sah sie an.

»In zwanzig Minuten Buffeteröffnung, ist das okay?«

»Ja, Uta. Ich sag’ vorher ein paar Worte.«

»Vergiß es nicht.« Damit war sie verschwunden.

Ein Mann löste sich von der Gruppe, in der Michael zuvor gestanden hatte, und kam auf uns zu.

»Dr. Thomsen, kommen Sie doch mal rüber. Der Dr. Bresler erzählt die Supergranaten über die Lamm AG. Da lachen Sie sich scheckig.«

»Ich komme sofort.«

Michael zuckte mit den Schultern und sah mich an.

»Mein Gott, Junge. So ist das jetzt.«

»Wirst du sentimental?«

»Ja, Thomas. Ja, ich glaube wirklich. Lauf nicht weg, hörst du. Bitte nicht. Er will dich noch sprechen …«

»Er?«

»Wirst schon sehen.«

»Spinnst du, wer denn?«

»Sand. Axel Sand.«

»Der Minister?«

»Ja, der.«

»Ist das ein Freund von dir?«

»Ein Bekannter, sagen wir mal so. Ist noch nicht da. Kommt aber ganz bestimmt. Er hat jetzt noch eine Fraktionssitzung, die sich ein bißchen hinziehen kann …«, er sah auf seine Uhr, »… aber danach kommt er. Und dann wollen wir doch auch noch ein bißchen miteinander reden …«

»Von alten Zeiten …?«

»War’ doch schön. Thomas, versorg dich erst mal mit allem, was du brauchst. Und iß schön vom Buffet. Schmeckt bestimmt lecker.«

»Ich hab’schon gegessen.«

»Blödmann.«

»Dr. Thomsen …«

»Bin schon auf dem Weg. Bis dann, Thomas.«

»Bis dann, Michael.«

Michael hob sein Glas auf und ging zu der Gruppe zurück, die schon auf ihn wartete.

Ich trank den Rest Champagner aus meinem Glas und sah mich um.

Ein Mann mit der Figur eines Springballs machte sich gerade bei einer Clique Frauen, die sich lieber untereinander unterhalten hätte, unbeliebt. Er riß das ganze Gespräch an sich, aber das war es nicht allein. In regelmäßigen Abständen schnappte er sich eine der Frauen und preßte sie fest an sich. Nachdem er sie rechts und links abgeküßt hatte, entließ er sie aus seinen Armen, um mit der nächsten, noch wilderen und lauteren Geschichte zu beginnen. Die Frauen warfen sich Blicke zu, zwei von ihnen drehten sich um und gingen. Nun standen nur noch drei da, um dem Mann zu lauschen. Ich schlenderte zu der aufgebauten Bar und besorgte mir eine Cola mit Eis.

Das Haus gefiel mir immer wieder. Uta hatte die Einrichtung sparsam angelegt. Nichts Überladenes. Obgleich sie sicherlich die Gesetze des Designs rauf und runter brabbeln konnte, hatte alles eine persönliche Note. In gewisser Weise wirkte das Haus, trotz seiner Größe, bescheiden auf mich. So, als hätten seine Besitzer begriffen, daß man den Bogen nicht überspannen sollte.

»Möchten Sie noch Cola?«

Die Hand des Obers machte eine Bewegung auf mein Glas zu, das ich, als ich meinen Gedanken nachhing, leergetrunken hatte.

»Vielen Dank, ja.«

Über den Rand des frischgefüllten Glases sah ich die Besitzerin einer Boutiquen-Kette, die mir im vorletzten Jahr vorgestellt worden war. Wir hatten uns ein wenig unterhalten, hauptsächlich über ihr Geschäft. Es machte ihr absolut keinen Spaß mehr, sich dermaßen abzurackern, wo die ganze Welt doch nur noch ihren Vergnügungen nachlief. Ihre Sorgen mit dem Personal, das nur faul und aufsässig war, brachte sie an den Rand des Wahnsinns. Ich sagte ihr damals, daß ich für ihre enorme Kraft und ihre Willensstärke tiefe Bewunderung hege. Daraufhin legte sie ihre warme Hand auf meine und sah mich aus traurigen Augen an, irgendwo klingelten Kassen.

Wir begrüßten uns durch ein Winken, sie stand mit sieben Leuten zusammen, alle recht flott gekleidet. Ich setzte mich in ihre Richtung in Bewegung. Es wurde etwas kühler. Von Ferne hörte man eine Polizeisirene gellen.

»Wie geht es Ihnen?« fragte die Frau.

»Oh, danke«, sagte ich.

»Das sind Bekannte von mir. Und das ist ein Freund von Michael. Studienkollege, nicht wahr?«

»Richtig. Was machen die Boutiquen?«

»Fragen Sie mich nicht.«

Also schwieg ich.

In diesem Moment kam Bewegung in die Gäste. Rufe wurden laut.

»Augenblick mal bitte herhören.« Das war Michaels Stimme.

»Pst, seid doch mal eben ruhig.«

»Vorsicht, Ansprache.«

Und dann wieder Michael: »Liebe Freunde, darf ich euch für einen Moment hineinbitten. Vielen Dank.«

Nun strömte alles in Richtung Terrassentür. Lachen. Dann standen wir verteilt auf die zwei großen Räume. Langsam kehrte Ruhe ein. Die Gäste standen, ihre Gläser in der Hand, die Beine gekreuzt, an die Wände gelehnt, oder hatten sich auf die Sitzmöbel verteilt. Irgend jemand suchte noch nach einem Aschenbecher. Die Ober waren verschwunden, nur ihr Chef stand hinten in einer Ecke, um mitzubekommen, wann das Startzeichen für das Buffet gegeben würde. Die Musik, zur Untermalung gedacht, war jetzt zu laut.

»Mach’ doch mal jemand die Musik leiser, man hört Dr. Thomsen gar nicht.«

Gelächter.

»Hab’ ja noch nichts gesagt.« Das war wieder Michael.

»Lauter«, rief eine Frau.

Gelächter.

»Pst. Nun aber mal Ruhe, Kinder.«

»Ja, Pappi.«

Gelächter.

»Liebe Freunde, Uta und ich …«, Michael räusperte sich, »… sind dankbar, daß …«

»Paß auf, das Glas … Scheiße.«

Michael verstummte, Gelächter kam auf. Der Oberkellner stürmte los, wohl um einen Lappen zu besorgen.

»Tut mir leid, Michael«, meldete sich irgendein Freund.

»Macht doch nichts«, sagte Michael, »ich fang’ noch mal an.«

Die Ansprache war kurz und schmerzlos, er dankte uns für unser Kommen, ließ einen Witz los, wünschte viel Spaß und gab das Buffet frei.

»Sie essen nichts?« Eine Frau von vierzig Jahren setzte sich neben mich in die Couchecke.

»Nein.«

»Diät?«

»Nein, ich hab’ schon gegessen.«

»Das ist aber sträflich, schmeckt ausgezeichnet.«

»Stört Sie das?« Ich zeigte auf meine Zigarette.

»Ih, bewahre, ich bin eine leidenschaftliche Raucherin.«

Sie schloß ihre Knie, faltete die Serviette auf und legte sie zum Schutz auf das hochrutschende Saumende ihres Hirschleder-Kostüms. Dann plazierte sie ihren Teller und begann zu essen. Ihrem Körper entströmte ein angenehmer Parfümgeruch. Ihre Finger waren mit Ringen überladen, ihre vielen Armreifen klangen aneinander, als sie begann, das Fleisch zu zerteilen. Ihr Weinglas hatte sie auf dem Tisch abgestellt, ab und zu nahm sie einen Schluck.

»Interessieren Sie sich für Ballett?« fragte sie.

»Nicht die Bohne«, sagte ich.

»Ich habe gestern Garette tanzen sehen. Wie ein Gott, sage ich Ihnen. Wie ein Gott.«

»Da kann sich seine Frau aber freuen.« Ich drückte meine Zigarette im Aschenbecher aus.

»Er ist schwul.«

»Ärgerlich, für seine Frau, meine ich.«

»Er ist nicht verheiratet.« Die Frau wischte sich die Lippen.

Ich stand auf, um mir noch etwas zu trinken zu holen: »Bin gleich zurück.« Die Frau lächelte. Als ich mit meinem frischen Glas Cola zurückkam, saß eine Frau auf meinem Platz und unterhielt sich angeregt mit der Ballettliebhaberin, über eben dies.

»Gehen Sie nicht, bleiben sie bei uns«, sagte die Esserin, »wir rücken ein bißchen zusammen.«

»Danke«, sagte ich, »es geht schon so.« Ich schob den Tisch ein wenig zur Seite und setzte mich auf den Boden.

»Veronika Wamm«, sagte die Neuhinzugekommene und lächelte mich mit einem Riesengebiß an.

»Thomas Herbst«, sagte ich und erhob mich wieder.

»Bleiben Sie doch sitzen«, sagte das Gebiß.

»Und ich bin Bettina Schrader«, sagte meine erste Gesprächspartnerin.

»Na, bitte«, sagte ich, »dann kennen wir uns jetzt ja.«

»Herr Herbst ist etwas sperrig in der Unterhaltung«, sagte Frau Schrader zu ihrer Freundin, »und außerdem hat er nichts für Ballett übrig.«

»Ach nein, Herr Herbst«, sagte das Gebiß, »jeder ästhetisch empfindende Mensch, jeder Mensen mit Feingefühl kann vom Ballett nicht unberührt bleiben. Gestern abend beispielsweise, dieser Garette, der Franzose, er tanzte, sage ich Ihnen, begnadet, wirklich begnadet. Diese totale Beherrschung des Körpers, dieses Gleiten, das Spiel der Muskeln unter der Haut, das tiefe Empfinden, die Trauer über seine getötete Geliebte, ihre verlorene Liebe, die erst im Tanz ihre letzte Bedeutung für uns freigab …«

Ich war mir sicher, daß sie durchfeuchtete.

»Dieser Mann«, hob das Gebiß wieder an, »gibt der Liebe Flügel und entführt sie in die Ewigkeit. Sein letzter Tanz setzt ein Denkmal für seine nie endende Liebe zu seiner getöteten Geliebten …«

»Ich denke, er ist schwul«, sagte ich.

»Was hat das denn damit zu tun?«

»Weiß ich auch nicht …«

»Ein Mann wie Garette meint das Universelle in der Liebe. Er meint die Liebe schlechthin, das Transzendente …«

»Genau«, sagte Bettina Schrader und stellte ihren Teller auf den Tisch. »Garette gibt durch seinen Tanz der Liebe ihre ursprüngliche Bedeutung zurück.«

»Ehrlich, das habe ich nicht gewußt«, sagte ich.

»Thomas Herbst«, sagte eine Männerstimme hinter mir. »Wie geht es Ihnen, mein Lieber?«

Ich schaute hoch und erkannte Walter Flex, einen Freund und Kollegen meines verstorbenen Vaters. Ich stand auf, und wir schüttelten uns die Hände.

»Danke, mir geht es gut. Und Ihnen?«

Er sah gut aus mit seinen siebzig Jahren. Das Haar schlohweiß, die Haut gebräunt. Die Lachfältchen um seine hellblauen Augen hatte er immer noch.

»Kommen Sie, Junge, lassen Sie uns ein ruhiges Plätzchen suchen, wo wir ungestört von dem Trubel fünf Minuten plauschen können.«

»Mia«, sagte er zu einer aparten Frau, Mitte Fünfzig, die hinter ihm stand, »das ist übrigens Thomas Herbst …«

»Oh, hallo, Herr Herbst.« Sie reichte mir eine kräftige Hand mit kurzgeschnittenen Fingernägeln.

»Thomas, das ist Mia, meine Frau.«

»Frau Flex«, sagte ich und drückte ihre Hand.

»Du entschuldigst uns, Mia?«

»Bis nachher, Walter.«

Wir stellten uns an den Kamin, die ersten Gäste begannen zu tanzen. »Es ist ein Glück, daß ich Mia fand. Sie wissen, daß meine erste Frau vor drei Jahren gestorben ist?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Es war hart, Thomas. Du siehst ihr Sterben, und du kannst nichts tun. Ich glaube, Gerda hat mir mehr geholfen, als ich ihr geholfen habe. Sie war tapferer und zeigte mehr, viel mehr Format als ich.«

Walter Flex strich mit seiner Hand über das Glas und sah mich an: »Es stirbt viel mehr als nur ein Mensch«, sagte er leise.

»Und Ihnen? Wie ist es Ihnen ergangen, Thomas?«

»Keine besonderen Vorkommnisse, kann man sagen …«

,»Was machen Sie denn so?«

»Ich arbeite als Journalist.«

»Richtig, habe mal was von Ihnen gelesen. In einer Illustrierten, aber es waren irgendwie mehrere Folgen. Kann das sein?«

»Ja, ich schreibe nur Serien, über Kriminalität.«

»Aha.«

»Hat sich eben so ergeben.«

»Damals, als der Konzern an die Amerikaner verkauft wurde und Ihr Vater starb, habe ich noch zwei Jahre weitergearbeitet. Das war kein Zuckerschlecken. Dann passierte die Sache mit Gerda. Ich hörte auf und pflegte sie bis zu ihrem Tode. Danach war Leere.«

»Wie haben Sie Ihre Frau Mia kennengelernt?«

»Ach, Mia, ja das war eine Sache für sich. So kommt es wohl gerade, wenn man es nicht will. Nach Gerdas Tod vergrub ich mich. Ich verkaufte unser Haus, eigentlich alles, was wir hatten. Zum Schluß hatte ich nur noch meine Kleidung und Geld auf der Bank. Ich fuhr auf eine Insel, mietete mich in einem Hotel ein, damit ich mich um nichts mehr kümmern mußte. Ich verbrachte die Tage mit Spazierengehen, nach drei Monaten kannte ich jede Muschel und jeden Strauch auf der Insel. Ich dachte, ich könnte das Vergangene ablaufen, aber es lief immer mit …«

»Und auf einem dieser Spaziergänge lernten Sie dann Mia kennen?«

»Nein, sie lernte ich schon am ersten Tag kennen. Ihr gehört das Hotel, in dem ich mich einquartierte. Sie war schon seit Jahren geschieden, das Hotel stammt aus ihrer Familie. Heute behauptet sie, sie hätte mir das Zimmer auch umsonst gegeben, wenn ich es mir nicht hätte leisten können, nur um mich im Auge behalten zu können. Sie sagt, sie hätte sofort gespürt, daß ich gefährdet sei. Eben eine Frau.«

Er nahm den letzten Schluck aus seinem Glas. »Sie sollten nicht so viel rauchen, Thomas. Es macht Spaß, alt zu werden.«

Hinter seinem Rücken tauchte eine Frau auf. Spanierin oder Südamerikanerin. Sie warf mir einen Blick zu, und ich wartete auf das Klappern von Kastagnetten.

»Besuchen Sie uns doch mal, Thomas. Würde uns freuen«, sagte Walter Flex.

Die Frau hinter ihm warf immer noch Blicke auf mich.

»Ich mache wenig Urlaub«, sagte ich, »es fehlt mir der Sinn dafür. Manchmal denke ich, ich müßte los. Aber schon nach wenigen Tagen ist die Luft raus.«

»Muß ja nicht für Wochen sein, ein Wochenende. Wir lassen Sie auch in Ruhe. Sie sind Ihr eigener Herr.«

Die Frau trank ihren Champagner und betrachtete mich über den Glasrand hinweg.

»Ich komme gern mal«, sagte ich, »wenn’s nicht gleich morgen sein muß.«

»Lassen Sie sich Zeit, Thomas. Wir sind fast immer da.« Er zog eine Visitenkarte aus seiner Jackettasche und drückte sie mir in die Hand. »Würde mich wirklich freuen, Thomas, wenn Sie kämen. Ich mochte Ihren Vater sehr gern. Kein leichter Kopf, aber er hatte was an sich, das ich noch bei keinem anderen Menschen wiedergefunden habe. Ich weiß nicht, ob man damit glücklich sein kann. Aber Glück ist auch nicht alles.«

Ich nickte. Die Frau fuhr sich mit der Zunge über die Lippen.

»Wiedersehen, Thomas. Lassen Sie von sich hören. Abgemacht?«

»Abgemacht. Und grüßen Sie Mia. Ich mag sie, schon allein durch das, was Sie erzählt haben.«

»Das sage ich ihr.« Er drückte mir nochmals kurz die Hand und war verschwunden. Die Frau stand mir gegenüber. »Einsam?« fragte sie.

»Ja, sehr«, sagte ich.

»Dann sollten wir uns wohl Gesellschaft leisten, ich bin Paola Rocca.«

»Thomas Herbst.«

»Wir haben nichts mehr zu trinken, Thomas. Holen Sie uns etwas?«

»Sicher.«

»Aber Champagner. Für uns beide. Nicht dieses Zeugs, das Sie da haben. Auch nicht für Sie.«

»Wie Sie wünschen.«

»Ja, ich wünsch’ mir das. Das Zeugs macht doch nur impotent.«

Ihre Augen hatte sie auf Tiefe getrimmt, und ich verlor mich in ihnen. Ich brauchte gar nicht loszugehen, ein Ober kam mit einem frischen Tablett vorbei. Ich schnappte mir zwei Gläser. Als ich ihr ein Glas reichte, berührten sich unsere Finger. Sie ließ sich viel Zeit, um das Glas richtig in die Hand zu nehmen. Solange spürte ich ihre Finger, ein angenehmes Gefühl, das sich im Bauch fortsetzte. Sie kam noch ein Stück näher. Ihr Gesicht war jetzt ziemlich dicht an dem meinen. Ihre Augen machten mich kribbelig.

»Hallo, Paola«, sagte jemand im Vorübergehen.

»Hallo«, sagte Paola, ohne den Blick von mir zu wenden. Jetzt rutschte das Gefühl vom Bauch noch ein bißchen tiefer. Sie lächelte.

»Jetzt werden Sie auf den Geschmack kommen«, sagte sie.

Da bin ich schon längst drauf, dachte ich, und wir stießen an.

»Ich hab’ Sie hier noch nie gesehen, Thomas.« Ihr Atem roch ganz fein, eine Mischung von Pfefferminz und einem Hauch Tabak.

»Ich Sie auch noch nicht, Paola.«

Ihre Brust hob sich unter der Seidenbluse, sie trug keinen BH. Bestimmt wußte sie von Geburt an, wie viele Knöpfe man auflassen muß.

»Wo ist Ihre Frau, Thomas?«

»Hab’ keine. Wo ist Ihr Mann?«

»Im Konsulat.«

»Im Konsulat?«

»Ja, er ist Generalkonsul von Mexiko.«

»Viva«, sagte ich.

Sie lachte, und diesmal klang es ein bißchen wie Kastagnetten. Ihr tief schwarzes Haar war leicht gekraust und gab dem Gesicht etwas Wildes. Sie hatte volle Lippen, einen nicht zu breiten Mund, und das Rot des Lippenstifts stach auffordernd von der Bräune ihrer Haut ab. Ich schätzte, daß sie ungefähr 1,70 Meter groß war, ihr Körper war trainiert und ihre Ausstrahlung ungeheuer animalisch. Sie vermittelte das Gefühl, als würde sie im nächsten Moment zum Sprung ansetzen. Ihre Nerven schienen dicht unter der Haut zu liegen; es war, als vibriere der Körper beständig. Dabei war nichts Unruhiges an ihr, so widersprüchlich es auch klingen mag, nichts Nervöses, nichts Aufgeregtes und nichts Reizbares. Paola Rocca strömte wildes Leben und Weiblichkeit aus. Sie zog feuchte Träume auf sich wie das Licht die Motten. Sie raubte Atem, aber man stand nicht in der Gefahr zu ersticken, dafür gab sie viel zu viel Atem ab. Man schnappte nur schneller danach.

»Träumen Sie?«

»Ja, ein bißchen.«

»Tanzen Sie?«

»Auch, ein bißchen.«

»Haben Sie ein bißchen davon für mich übrig?«

Ich nahm sie bei der Hand, wir stellten unsere Gläser auf dem Kaminsims ab. Wir schmiegten uns aneinander, und vom Duft ihres Parfüms war ich sofort besoffen. Wir klebten aneinander, ein Teil von mir sperrte sich.

»Ich kann Sie spüren«, sagte sie.

Ich vergrub meinen Kopf an ihrem Hals. »So was sagt man nicht«, entgegnete ich.

»Was sagt man dann?«

»Das ist meine Lieblingsplatte, die da gerade spielt, zum Beispiel.«

»So was sagt man?«

»Ja.«

»Wie langweilig, so etwas zu sagen«, antwortete sie.

»Es ist ja auch nicht meine Lieblingsplatte«, sagte ich.

»Na, denn.« Sie küßte meine Wange.

Michael stand auf einmal neben mir und sagte: »Paola, entschuldige bitte, ich muß Thomas entführen, aber nicht für lange.«

Paola ließ mich nicht los, hörte aber auf zu tanzen. Ihre Augen waren noch tiefer.

»Kommst du?« fragte Michael.

»Sofort.«

Er machte zwei, drei Schritte von uns weg und wartete auf mich.

»Sie sollten auf mich warten, Paola«, sagte ich.

»Enter my dreams«, sagte sie.

Schattenjagd

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