Читать книгу Das Labyrinth erwacht - Rainer Wekwerth - Страница 15

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9.

Jeb blickte in die Runde, holte tief Luft und begann, leise zu erzählen. Die Jungen und Mädchen hingen gebannt an seinen Lippen. Seine Geschichte unterschied sich nicht wesentlich von den Erlebnissen der anderen. Bis auf die Botschaft, die er in seinem Rucksack gefunden hatte:

»Hier steht, dass wir zurückkehren müssen. Und dass es nur einen Weg zurück ins eigene Leben gibt.« Nun las er: »›Du musst diese und alle anderen Welten durchlaufen, wenn du heimkehren willst. Viele Prüfungen warten auf dich, aber du wirst nicht allein sein. Gehe in Richtung der Sonne, viele Stunden von hier entfernt. Auf einer weiten Ebene wirst du andere finden. Menschen, die wie du im Labyrinth gefangen sind.‹«

Jeb sah auf, als er das Wort »Labyrinth« aussprach. Auf ihren Gesichtern spiegelte sich blankes Entsetzen, als sie sich in dem Geschriebenen wiedererkannten. Die Gruppe wurde unruhig, jeder versuchte auf seine Weise, diese unglaublichen Worte zu verdauen.

»Wartet, es geht noch weiter. Denn dieses Labyrinth besteht aus sechs Welten. Das hier ist die erste, die erste von sechs Prüfungen. Hier steht: ›In jeder Welt gibt es Tore, Portale, die euch in die nächste bringen, am Ende des Weges liegt die Freiheit. Derjenige von euch, der alle Welten durchlaufen hat, gewinnt den Preis des Lebens.‹«

Jeb zögerte, sah die anderen an. Diesmal unterbrach ihn niemand. Sein Auge begann, wieder zu zucken, und er zwang sich auszuatmen. Was er ihnen als Nächstes mitteilen würde, musste er in aller Ruhe verkünden.

»›Wenn du alle Menschen gefunden hast, wird um Mitternacht ein Stern am Himmel erscheinen, der euch den Weg zu den Toren weist. Ihr habt drei Tage, zweiundsiebzig Stunden, um die Tore zu erreichen. Schafft ihr es nicht, die Tore zu durchschreiten, verschwinden sie und ihr seid bis in alle Ewigkeit in dieser Welt gefangen.‹«

Ein Ast knackte im Feuer. Jeb schloss kurz die Augen, dann schlug er die Lider wieder auf und sprach weiter. »Aber es kommt noch schlimmer.«

Kathy räusperte sich heiser. »Nun sag schon.«

León brummte zustimmend.

»›Fürchtet euch vor euren Ängsten. Nur die Kraft der Sonne und die Hitze des Feuers können euch vor den Jägern schützen, denn sie vertreibt das wärmende Licht. Wen seine Ängste überwältigen, wird zurückbleiben. Ihr seid sieben Suchende, doch es gibt nur sechs Tore zur nächsten Welt. So wird es in jeder Welt sein, immer werdet ihr ein Tor weniger finden, als ihr Suchende seid. Einer von euch wird stets zurückbleiben, einer wird allein seinen Ängsten gehören. Wer leben will, muss kämpfen. Gegen andere, gegen sich selbst. Am Ende wird nur einer von euch überleben. Weil ihr im Labyrinth seid. Weil ihr verloren seid.‹« Jeb sah auf. Sechs Augenpaare starrten ihn an. »Ich konnte es nicht glauben, aber ich wusste eins: Wenn ich wirklich sechs Menschen finde, dann steht auf dem Zettel die Wahrheit.«

»Und du hast uns gefunden«, sagte Jenna leise.

Die anderen schwiegen. Es war schließlich León, der das Wort ergriff. »Ich glaube den ganzen Scheiß nicht. Eine Botschaft. Von wem ist denn diese beschissene Nachricht? Tore. Welten. Der Preis des Lebens… das klingt alles nach einer ziemlich dämlichen Abenteuergeschichte, wenn ihr mich fragt. Eine, mit der man Kindern Angst einjagt.« Er riss die Augen auf und verzog sein Gesicht zu einer Grimasse. »Uhhhhh, jetzt hab ich aber Angst!« Er schüttelte den Kopf. »Alles Bullshit.«

»Und was sagst du zu der Tatsache, dass uns Jeb gefunden hat, dass wir sechs Leute sind, genau wie es dort steht?«, fragte Jenna bissig, riss Jeb den Zettel aus der Hand, warf einen Blick darauf und hielt ihn León unter die Nase. »Hier! Lies selbst! Da steht es. Schwarz auf weiß.«

León wich zurück und wehrte Jennas Hand ab. »Das muss nichts zu bedeuten haben. Jeder könnte den Zettel geschrieben haben. Sogar Jeb selbst.«

Jenna hielt inne. Sie fixierte León mit ihren Blicken. »Warum liest du nicht?«

»Sag mir nicht, was ich zu tun habe. Oder was ich zu glauben habe. Es muss eine andere Erklärung geben.«

»Ach ja? Und Mischas Verletzung? Diese… diese Monster, die ihn gejagt haben?«

»Vielleicht war er nach dem Aufwachen noch so benebelt, dass er Schiss vor seinem eigenen Schatten hatte und dann gestolpert ist. Abgesehen davon: Wir haben unsere Verfolger nicht gesehen, nur ein Schreien gehört, das auch von irgendwelchen Tieren stammen könnte.«

»Ich hab sie gesehen«, warf Mischa ein.

León wandte sich ihm zu. Er lächelte verächtlich. »Vorhin hast du etwas anderes gesagt. Außerdem bist du sofort weggelaufen, wie willst du da wissen, was dich angegriffen hat? Es hätte auch ein Wolf oder ein Bär sein können.«

»Hätte ich stehen bleiben und anschauen sollen, was es auf mich abgesehen hat? Schon mein Arm wäre fast draufgegangen, nur weil es mich berührt hat!«

»Wie auch immer, aber ich hätte mir nicht gleich in die Hose gemacht, bloß weil ein paar wilde Hunde herumkläffen und du in einen Kaninchenbau stolperst.«

Mischa sprang auf. Blitzschnell war auch León auf den Füßen, doch da hatte ihn der blonde Junge mit seinem gesunden Arm schon am Kragen gepackt.

»Und? Wo ist deine große Klappe jetzt?«, zischte Mischa.

León lächelte kalt. Er machte eine leichte Kopfbewegung zu seiner rechten Hand. Die Schneide seines Messers schwebte vor Mischas Hals.

»Der Einzige, der eine große Klappe hat, bist du. Ich hätte versucht, es zu töten. Vielleicht blutet es ja. Und wenn es blutet, kann man es auch töten.«

»Ich hatte kein Messer.«

»Lass mich los, Kleiner.«

»Nimm erst dein beschissenes Messer weg.«

Mit einem Klicken ließ León die Klinge einschnappen. Dann drehte er sich um und setzte sich auf seine Jacke.

»Haben wir uns dann alle wieder beruhigt?«, fragte Jeb in die entstandene Stille hinein. Niemand antwortete.

»Was ist dein Problem?«, wandte sich Jeb an León.

»Alles, diese ganzen Märchen, die du uns erzählst, dieser komische Zettel. Das ist doch nichts als eine große beschissene Lügengeschichte.«

»Hast du denn eine andere Erklärung für das, was passiert ist?«

»Nein.«

»Wir alle spüren doch, dass hier etwas nicht stimmt. Dass wir hier nicht hergehören, dass wir diesem… Ort hier ausgeliefert sind. Bis vor Kurzem hatte ich wohl zumindest ein Leben, in dem ich anscheinend Motorrad gefahren bin. Und das war bestimmt nicht hier.«

»Das bedeutet nicht, dass ich das erstbeste Schauermärchen glaube«, erwiderte León.

»Wir werden ja sehen, ob um Mitternacht der Stern aufgeht, von dem auf dem Zettel die Rede war«, mischte sich jetzt Kathy ein. Sie schwenkte das abgegriffene Blatt Papier in der Hand, das inzwischen die Runde gemacht hatte. »Natürlich klingt das alles selten dämlich, aber der Stern wäre doch der Beweis, dass alles stimmt, was Jeb gesagt hat, oder?«

»Ich kann auf diesem beschissenen Stück Papier kaum etwas entziffern«, knurrte Tian.

»Mir geht’s genauso«, stimmte Mischa ihm zu. »Blasse Buchstaben, die nur wenig Sinn ergeben.«

Kathy schüttelte den Kopf. »Ihr müsst nur richtig hinschauen, ihr Trottel. Da steht alles klar und deutlich. Um Mitternacht wird ein Stern erscheinen…«

»Aber wir sind mitten im Wald. Wie willst du da den Himmel sehen?«, unterbrach sie Tian. »Und außerdem, was bedeutet es schon, einen Stern am Himmel zu sehen? Gar nichts!«

Kathy fuhr herum. »Hast du etwa eine bessere Idee?«

»Ruhe«, sagte Jeb leise, aber bestimmt. »Hört auf, euch zu streiten. Wir haben gerade echt andere Probleme.« Er sah León an. »Ich finde Kathys Idee gut. Oder hat jemand einen anderen Plan? Wo sollen wir hingehen? Was sollen wir tun?«

»Wir könnten versuchen, andere Menschen zu finden, vielleicht hilft uns ja jemand weiter«, sagte Mischa.

»Ich habe nicht das Gefühl, dass hier Menschen leben, und falls doch, werden wir sie früher oder später finden. Und wer weiß, ob sie uns freundlich gesinnt sind. Also noch mal, hat jemand einen anderen Vorschlag?«

Alle schüttelten den Kopf.

»Dann können wir ebenso gut dem Stern folgen und nachschauen, ob die Tore existieren. Sind sie da, wissen wir, dass wir die Wahrheit kennen. Gibt es sie nicht, sitzen wir tief in der Scheiße.«

Tian lachte auf. »Tief in der Scheiße? Oh Mann, wir sitzen sowieso bis zum Hals in der Scheiße, wenn es stimmt, was Jeb sagt. Habt ihr euch mal klargemacht, was es bedeutet, wenn das alles stimmt?«

»Eben hast du noch gesagt, du glaubst ihm nicht«, zischte Kathy.

»Tue ich ja auch nicht, aber falls, nur mal so angenommen, alles so stimmt, dann geht es um unser Leben.« Er wandte sich an Jeb. »Wie war das mit den Toren? Wir sollen darum kämpfen? Sechs Welten und jedes Mal ein Tor zu wenig? Nur einer wird überleben? Mann, wenn das die Wahrheit ist, dann sieht es düster für uns aus.« Er zögerte einen Moment. »Das darf einfach nicht wahr sein. Ich weiß nicht, wie es euch geht, aber meine Fantasie übersteigt das bei Weitem.«

Es herrschte betroffenes Schweigen, einige nickten. León verschränkte die Arme vor der Brust. »Ist das alles, was du uns sagen kannst?«, wandte sich León an Jeb. »Woher sollen wir wissen, dass du nicht plötzlich noch so eine Nachricht herzauberst?«

Sieh an, dachte Jeb. Obwohl er mir nicht glaubt, will er doch sicher sein, alle Informationen zu haben, die er zum Überleben braucht.

»Nein, das ist alles, was ich weiß.«

Schweigen legte sich über die Gruppe. Sie alle waren verwirrt, verängstigt und erschöpft. Sie mussten ausruhen. In wenigen Stunden würde der Stern aufgehen, dann hatten sie zweiundsiebzig Stunden Zeit, die Tore zu erreichen. Niemand wusste, wie weit sie entfernt und wie beschwerlich der Weg dahin war. Außerdem machte etwas Jagd auf sie – die Botschaft, die Anwesenheit der anderen sechs und Mischas Zustand, als er auf die Lichtung stolperte, waren Jeb Beweis genug. Und er wusste, sie würden alle ihre Kraft benötigen.

»Ich denke, wir sollten versuchen zu schlafen. In der Nacht klettere ich auf den Baum und suche nach dem Stern.«

»Schlafen? Du glaubst tatsächlich, nach allem, was geschehen ist, kann jemand schlafen?«, rief Kathy.

»Wir müssen uns ausruhen, morgen liegt ein anstrengender Tag vor uns. Zum Glück haben wir das Feuer. Wenn man der Botschaft glaubt, dann werden sie uns hier nicht heimsuchen. Wir sollten also in Sicherheit sein, solange wir uns nicht zu weit vom Feuer entfernen. Außerdem haben wir seit Stunden nichts mehr gehört, kein Schreien, kein Heulen. Das, was Jagd auf uns macht, hat vielleicht im Regen unsere Spur verloren.«

»›Vielleicht‹ ist ein wenig dürftig«, warf Mischa ein, der bereits in seinen Schlafsack kroch.

»Ich werde Wache halten, bis ich den Stern gesehen habe. Dann wecke ich einen von euch, um mich abzulösen. Wenigstens lässt der Regen nach. Wir können nur hoffen, dass der Himmel aufreißt und ich überhaupt etwas sehe.«

»Ganz schön optimistisch.« León hatte sich seine Jacke übergelegt, als notdürftigen Schutz vor der kühlen Nachtluft.

Habe ich eine andere Wahl?

Jenna erhob sich. Sie ging zu ihrem Schlafsack und bereitete ihr Nachtlager vor. Den Rucksack schob sie als Kopfkissen unter ihren Nacken.

Tian, Mary und Kathy machten es ihr nach. Jeder war in Gedanken versunken, schien über das Gehörte nachzugrübeln und versuchte, eine plausible Erklärung zu finden.

Tian legte sich in Mischas Nähe. Mary rückte etwas an Jenna heran. León lag abseits der anderen. Kathy blieb in Jebs Nähe, der seinen Schlafsack vors Feuer gezogen hatte und schweigend in die Flammen starrte. Es dauerte eine Weile, aber dann hörte das Geraschel auf und die Atemzüge der Jugendlichen wurden ruhiger.

Jeb hockte in Gedanken versunken auf seinem Schlafsack und fragte sich, was ihnen der morgige Tag bringen würde. Dabei spürte er, wie Kathy ihn anstarrte. Er wandte sich zu ihr um und ihre grünen Augen funkelten im Widerschein des Feuers. Ein Schauer lief über seinen Rücken.

Jeb wusste, dass er hier und jetzt die Führung übernehmen musste, um aus ihnen eine Gruppe zu formen, die sich gegenseitig unterstützte. Sie brauchten einander, das war ihm sofort klar gewesen. Denn die anderen hatten noch nicht verstanden, dass sie hier in diesem Wald erst am Anfang von etwas Unfassbarem und Gefährlichem standen. Sie hatten noch einen langen Weg vor sich. Jetzt als Gruppe auseinanderzufallen, würde den Tod von ihnen allen bedeuten.

Jeb sah in die Runde. Er wollte nicht ihr Anführer sein. Aber er war derjenige, der momentan die Situation am besten überblickte. Wahrscheinlich würde er die Führung bald an León abgeben können, der am geeignetsten dafür war, auch wenn bei ihm die Gefahr bestand, dass er seinen eigenen Weg gehen würde. In allem, was er sagte oder tat, spürte man Leóns bedingungslosen Egoismus.

Aber auch er braucht die anderen, wenn er überleben will. Hoffentlich begreift er das.

Dann dachte er an Jenna.

Sie wäre ideal. Sie wirkt besonnen, verliert in Gefahrensituationen nicht die Nerven und sorgt sich um andere. Er ließ seinen Blick über die restliche Gruppe wandern.

Sie werden kein Mädchen als Anführerin akzeptieren. Besonders nicht Kathy, es sei denn, sie selbst reißt die Führung an sich.

Über Mischa und Mary konnte er nichts sagen und Tian würde sich seinem Eindruck nach einfach dem stärksten Mitglied der Gruppe unterwerfen.

Kathy lag in ihrem Schlafsack eingemummt und beobachtete Jeb. Ihre Hand wanderte nach unten, sie fühlte das Messer in ihrer Hosentasche, es gab ihr ein beruhigendes Gefühl. Sie hatte es in einer der Seitentaschen ihres Rucksacks gefunden und natürlich nicht im Traum daran gedacht, ihren Fund den anderen preiszugeben. Wahrscheinlich hätte man es ihr weggenommen und einem der Jungs gegeben. Nein, sie würde nicht wehrlos sein, egal, was auf sie zukam, sie würde sich zu verteidigen wissen.

Jeb sieht gut aus, dachte Kathy. Groß und stark, mit markanten Gesichtszügen. Womöglich hat er uns nicht alles verraten, was er weiß. Es würde wichtig sein, in Jebs Nähe zu bleiben. Ihm zu zeigen, dass sie auf seiner Seite war.

Kathy glaubte jedes Wort, das er gesagt hatte. Nein, »glauben« war der falsche Ausdruck, sie spürte, dass er die Wahrheit sagte. Sie musste ihn als Verbündeten gewinnen. Vielleicht noch mehr als das.

In ihrer Körpermitte stieg Hitze auf. Langsam ließ sie den angestauten Atem entweichen. Sie würde überleben, egal, was auf sie zukam.

Wenn es diese Tore gibt, werde ich als Erste hindurchgehen. Ich brauche nur Jeb.

Und wer weiß, vielleicht können wir in dieser beschissenen Welt außerdem noch ein wenig Spaß haben.

Sie starrte zu ihm hinüber.

Du gehörst mir.

Das Labyrinth erwacht

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