Читать книгу Das Labyrinth erwacht - Rainer Wekwerth - Страница 17

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11.

Tian erwachte als Erster. Graues Morgenlicht schimmerte durch das Blätterdach der Bäume. Ein kühler Nebel war während der Nacht aufgezogen und hing über dem feuchten Boden. Tian blickte zum Feuer. Es war abgebrannt und erloschen. Nicht einmal mehr Glut war darin zu entdecken. Sie würden also aufbrechen, ohne sich davor aufwärmen zu können.

Er streckte die steifen Glieder und beobachtete, wie die anderen sich müde erhoben, mit den Händen durch die Haare fuhren und sich den Schlaf aus den Augen rieben. Jeb sah übernächtigt aus. Kein Wunder, hatte er doch die halbe Nacht Wache geschoben. Kathy hingegen wirkte frisch und energiegeladen. Ihre roten Haare fielen auf ihre schmalen Schultern herab. In einer sinnlichen Bewegung fuhr sie mit der Hand durchs Haar und ließ sie wieder fallen. Kathy schien einfach nicht hierher zu gehören.

Wie jemand, der sich auf eine Party vorbereitet und jeden Augenblick von seinem Date abgeholt wird.

Mary hingegen war nur ein blasser Schatten. Tian hatte das Gefühl, durch sie hindurchschauen zu können, so wenig Präsenz zeigte sie. Ihr makelloses Gesicht, die schwarzen Haare und die vollen roten Lippen. Sie war schön. Aber durch ihre Blässe verschwamm sie fast mit dem Nebel.

Jenna stand etwas abseits bei Mischa und unterhielt sich leise mit ihm. León war nirgends zu sehen.

Plötzlich fiel Tian ein, dass er gar nicht wusste, ob Jeb in der Nacht den Stern entdeckt hatte. Rasch ging er zu ihm hinüber.

»Und? Hast du ihn gesehen?«

Jebs braune Augen waren unergründlich. Er rief in die Runde und die Jungs und Mädchen traten sofort heran. León erschien wie aus dem Nichts.

Verdammt, dachte Tian. Der Typ ist eine Schlange. Eben war er noch nicht zu sehen und jetzt taucht er so schnell auf, dass man sich fragt, ob er sich unsichtbar machen kann.

Grinsend nahm der tätowierte Junge seinen Platz in der Runde ein.

»Ich bin heute Nacht auf den Baum gestiegen. Kathy hat mir geholfen. Der Stern war da.« Das war deutlich und unmissverständlich.

»Ihr wisst, was das bedeutet?«, sprach Jeb weiter.

Alle bis auf León nickten. Seine Lippen umspielte ein geheimnisvolles Lächeln, so als wüsste er etwas, was den anderen verborgen war.

»Was machen wir nun?«, fragte Mischa.

Spätestens jetzt war allen klar, dass ihnen Jeb am Abend zuvor die Wahrheit gesagt hatte. Auch wenn dieser Wandel ganz schön schnell gegangen war, fand Tian. Sie durften sich nichts vormachen. Irgendetwas stimmte hier ganz gewaltig nicht. Jebs Worte schienen ihnen die einzige Hoffnung zu sein, die ihnen geblieben war. Sie hatten fast nichts, kannten nur wenig mehr als ihre Namen und sollten sich nun durch fremdes Land schlagen. Gejagt und verfolgt. Und immer einer musste zurückbleiben.

Werde ich derjenige sein?

Die anderen Jungs sahen stärker aus als er, durchtrainierter, mit mehr Muskeln. Er versuchte, sich vergeblich an die Zeit vor dieser unmöglichen Situation zu erinnern, aber es wollte ihm nicht gelingen. Er spürte allerdings instinktiv, dass er solche Abenteuer in der Wildnis noch nie erlebt hatte. Selbst die Mädchen machten bis auf Mary einen robusteren Eindruck auf ihn.

Ja, Mary war das wahrscheinlichste Opfer. Sie war geistig kaum anwesend und versprühte keinerlei Energie. Wahrscheinlich würde sie schon bald zusammenklappen, wenn sie erst einmal losmarschiert waren.

Werde ich ihr helfen…?

Seine Gedanken wurden von Jeb unterbrochen.

»Der Stern leuchtete in der Richtung, den die Sonne am gestrigen Tag bei ihrem höchsten Stand einnahm. Dort müssen wir hin. Vielleicht kann man ihn auch bei Tag sehen, er war ziemlich hell. Das heißt aber, wir müssen wieder aus dem Wald raus. Hier drinnen kommen wir nur langsam voran und wir sehen den Himmel nicht.«

»Du willst wieder raus auf die Ebene?«, fragte Jenna. »Du weißt, was dort auf uns lauert. Diese… Viecher, die Mischa angefallen haben.« Sie wandte sich an die anderen und Tian staunte über ihre Sicherheit. »Jeb glaubt, dass unsere Ängste Gestalt angenommen haben und Jagd auf uns machen. Immer wenn sie uns sehr nahe kommen, hören wir ihr Kreischen.«

»Unsere Ängste? Ich will ja nichts sagen, aber das klingt reichlich bescheuert. Wisst ihr, was ich glaube? Ihr habt sie nicht mehr alle.« León lachte spöttisch.

Jenna ließ sich nicht beirren. »Wovor auch immer Mischa Angst hat, es hat ihn gestern auf der Ebene ohne Schwierigkeiten gefunden.«

Kathy drängte sich dazwischen. »Ihr seid alle gnadenlos unbegabt. Könnt ihr euch denn gar nichts merken? Auf dem Zettel stand: ›Fürchtet euch vor euren Ängsten.‹ Ja, klar, die hat ja wohl jeder, aber das ist eine Frage der Kontrolle. Oder glaubt ihr, eure Ängste hüpfen als Monster nachts aus eurem Schlafsack und überfallen euch. Mann, werdet erwachsen.«

»Ich habe sehr wohl zugehört«, meldete sich Mary zu Wort und fing prompt einen bösen Blick von Kathy auf. »Es ging noch weiter: ›Wen seine Ängste überwältigen, wird zurückbleiben.‹«

»Ja, genau«, Tian wollte jetzt auch etwas beitragen. »Vielleicht eine Art Voodoo-Zauber, was Magisches, wisst ihr, wie in solchen verrückten…«

»Tian, krieg dich wieder ein.« Mischa wurde es jetzt zu viel. »Wir haben nur die zwei Möglichkeiten, Wald oder Steppe.«

»Seelentrinker«, flüsterte Mary plötzlich. »Ich weiß nicht, warum mir der Name einfällt, aber er passt zu ihnen. Sie wollen nicht nur unsere Angst, sie wollen alles.«

Das Rauschen des Waldes war das einzige Geräusch in diesem Moment, stellte Tian fest.

Jeb nickte mit zusammengepressten Lippen, ging aber nicht darauf ein. »Wir haben keine Wahl. Im Wald würden wir uns nur hoffungslos verlaufen.«

»Er hat recht«, mischte sich Mischa ein. »Außerdem haben wir vielleicht Glück und die Sonne scheint, dann dürften sie uns in Ruhe lassen.«

»Also?«, fragte Jeb in die Runde. »Wer meint, wir sollten es so machen?«

Alle hoben die Hände. Bis auf León. Er stand gelassen da und blickte Jeb an.

»Was ist mit dir?«

León zuckte die Schultern. »Vorerst gehe ich mit euch mit. Ich will den Stern sehen. Sollte er tatsächlich da sein, werde ich mich entscheiden, ob ich bei euch bleibe oder meinen Weg allein fortsetze.«

»In der Gruppe ist es sicherer«, versuchte Jeb, ihn zu überzeugen, aber Tian ahnte, dass es nichts bringen würde. León ließ sich nicht beeinflussen.

»Du magst das so sehen. Ich denke anders darüber.«

»Und wie?«

»In einer Gruppe ist jeder Einzelne nur so schnell wie das langsamste Mitglied.« Er blickte vielsagend zu Mary hinüber, die das nicht einmal wahrnahm. »Allein bin ich flexibler. Muss auf niemanden Rücksicht nehmen und kann blitzschnell entscheiden, ohne mich mit anderen absprechen zu müssen. Und wenn ihr alle ehrlich zu euch wärt, dann wüsstest ihr, dass es genauso ist und nicht anders.«

Arschloch, dachte Tian. Was ist mit Freundschaft, Kameradschaft, dem Gefühl, nicht allein zu sein, sich gegenseitig zu unterstützen?

»Okay«, sagte Jeb. »Ich akzeptiere das. Gib uns Bescheid, wenn du dich entschieden hast.«

»Geht klar.«

Leóns Worte hatten die Gruppe nachdenklich gemacht. Fast alle sahen betreten zu Boden. Dachten etwa auch noch andere darüber nach, Einzelkämpfer zu sein? Es wurde Zeit, dass jemand die betretene Stille zerschlug.

»Also Leute«, sagte Tian laut. »Wer will meinen Rucksack tragen? Nicht drängeln, bitte nicht drängeln. Bei mehr als einem Bewerber entscheidet das Los.«

Zögerlich lachten die anderen, selbst León. Man merkte, wie sich die angespannte Stimmung wieder löste. Er wollte hier raus und endlich aufbrechen. Zufrieden warf sich Tian den Rucksack über die Schulter. Dann ging er zu Jeb hinüber und klopfte ihm auf den Rücken. Ohne dass die anderen ihn hören konnten, flüsterte er leise: »Lass uns aufbrechen. Im Augenblick ist die Stimmung gut, wer weiß, was in fünf Minuten ist.«

Tian ging an Jeb vorbei und betrat den Trampelpfad, auf dem sie am gestrigen Tag in den Wald gegangen waren. Er drehte sich nach den anderen um. Jeb lächelte ihn dankbar an.

»Boys and girls, hier geht’s lang.«

Das Labyrinth erwacht

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