Читать книгу Das Labyrinth erwacht - Rainer Wekwerth - Страница 18

Оглавление

12.

Die Sonne brannte bereits heiß vom wolkenlosen Himmel herab, als sie die Ebene erreichten. Durch die Helligkeit mussten sie sich keine Gedanken darum machen, was dort auf der Jagd war.

Jenna hob den Kopf, blinzelte in die Sonne und fragte sich, ob es nicht doch besser gewesen wäre, durch den Wald zu marschieren. Die Hitze hier draußen war schon jetzt am Morgen nahezu unerträglich. Ein heißer Wind strich über die endlose Graslandschaft und trocknete die letzten feuchten Stellen aus, die der Regen hinterlassen hatte.

Zum Glück hatten sie im Wald einige tiefere Pfützen entdeckt, mit deren braunem Wasser sie notgedrungen ihre Flaschen aufgefüllt hatten. Auch die großen Blätter der Farne hatten neue Wasservorräte für sie bereitgehalten. Doch Jenna wusste, dass dieses Wasser wohl kaum für den ganzen Tag reichen würde.

León war bei ihrer Gruppe geblieben. Nachdem sie gemeinsam den Wald verlassen hatten, sahen auch die anderen ihn zum ersten Mal: Deutlich sichtbar, rechts von der Sonne stand ein Stern am Himmel und funkelte gegen das strahlende Blau an. Während sie Stunde um Stunde auf ihn zumarschierten, änderte er seine Position nicht, sondern hing wie festgenagelt am Firmament.

Vor ihr ging Jeb, hinter ihr folgte der Rest der Gruppe, nur Mary war etwas zurückgefallen und trottete ihnen allein hinterher.

Zweimal hatten sie bereits Rast gemacht, einen Teil ihrer Vorräte gegessen und fast ihr ganzes Wasser verbraucht. Nun lief ihnen der Schweiß über das Gesicht. Der Schatten und Wasser spendende Wald lag längst weit hinter ihnen und war bereits nicht mehr auszumachen. Um sie herum war nichts als weite öde Steppe.

Während sie stumm marschierten, dachte Jenna darüber nach, was sie in der Nacht zuvor gesehen hatte. Oder was sie glaubte, gesehen zu haben, denn ganz sicher war sie sich nicht.

Jeb hatte Kathy geküsst. Lang und innig. So hatte es ausgesehen, als sie nach oben ins Geäst geblickt hatte. Oder war das eine Täuschung gewesen? Waren sie nur dicht beieinandergestanden und hatten leise miteinander gesprochen, um die anderen nicht zu wecken?

Jenna wollte das Bild verdrängen, aber es gelang ihr nicht. Mal sah sie, wie Jeb Kathy küsste, dann wiederum wirkte die Szene ganz harmlos.

Es hatte wehgetan, die beiden zu beobachten. Jenna glaubte zu spüren, dass Jeb sie mochte, dass da eine Verbindung zwischen ihnen war. Aber woher sollte diese Verbindung kommen, sie kannte Jeb doch kaum. Kathy hingegen traute sie nicht über den Weg. Sie war eingebildet, herrisch und arrogant. Kathy wollte Jeb nur benutzen, zumindest vermutete Jenna das. Die Rothaarige umgarnte ihn, weil sie sich einen Vorteil davon erhoffte, aber wenn es um ihr eigenes Überleben ginge, würde sie ihn bedenkenlos opfern.

Trotzdem. Sie hatten sich geküsst.

Sie konnte es sich noch hundertmal einreden, dass ihr das nichts bedeuten sollte.

Und dennoch versetzte ihr der Gedanke einen Stich, den sie sich nicht erklären konnte.

Mischa hatte sich zu Tian gesellt. Der Asiate schien im Gegensatz zu ihm hitzeresistent zu sein. Tians Gesicht war trocken und wirkte geradezu entspannt.

»Du scheinst dir keine Sorgen zu machen«, sprach Mischa ihn an und passte sein Tempo an.

»Ehrlich gesagt, weiß ich immer noch nicht, was ich von der ganzen Sache halten soll.«

»Dann glaubst du nicht an die Geschichte mit den sechs Welten und den Toren? Und dass in jeder Welt einer von uns zurückbleiben muss?«

»Na ja, irgendwie schon, aber im Augenblick ist alles noch weit weg. So weit, dass es unreal wirkt. Es dauert ja noch zweiundsiebzig Stunden, bevor es richtig brenzlig wird.«

Mischa sah ihn verblüfft an. »Weniger, ein paar Stunden sind ja bereits um. Aber meinst du nicht, man sollte auf alles vorbereitet sein?«

Tian blinzelte ihm zu. »Wer sagt, dass ich das nicht bin?«

»Aber wie kannst du auf so was wie das hier vorbereitet sein? Echt, aus dir werde ich einfach nicht schlau: Auf der einen Seite wirkst du wie ein Träumer, andererseits habe ich das Gefühl, du hast schon eine Menge erlebt.«

»An das ich mich nicht erinnern kann.«

Mischa lachte. »Richtig.«

Eine Weile gingen sie schweigend nebeneinander her, dann sagte Tian: »Kannst du dich an irgendetwas erinnern?«

Mischa zögerte. »Ja und nein. Da spuken Bilder in meinem Kopf herum.«

»Was für Bilder?«

»Autos, schwarze Limousinen, ein greller Blitz, Staub und Nebel, Chaos. Dann nichts mehr.« Wieder ein Zögern. »Manchmal glaube ich, ein Gesicht zu erkennen, das sich über mich beugt und mir etwas Unverständliches zuflüstert. Es ist ein Mann, zumindest denke ich, dass es ein Mann ist, aber ich kann sein Gesicht nicht erkennen. Er sagt immer wieder dieselben Worte, aber ich kann sie nicht hören, irgendetwas ist mit meinen Ohren passiert.«

»Aber jetzt kannst du hören«, sagt Tian. »Also war es wahrscheinlich nur ein Traum.«

»Hoffentlich. Dabei ist alles so real und doch verschwommen.« Er seufzte laut auf. »Und woran erinnerst du dich?«

»Da ist eigentlich nichts, nur Nebel. Und dann einzelne Bilder.«

Mischa bedeutete ihm weiterzusprechen.

»Es klingt bestimmt total bescheuert, aber ich sehe eine Stadt. Sie ist mir fremd und doch absolut vertraut.«

»Hat die Stadt einen Namen?«

»Keine Ahnung. Ich sehe immer nur Ruinen. Ein mächtiges Tor mit Reitern auf dem Dach. Eine hohe Säule, auf der ein goldener Engel steht. Alte Gebäude neben modernen Hochhäusern aus Glas. Verlassene Schächte im Untergrund und immer wieder Schilder, auf denen Orte und Namen stehen. Aber ich kann sie nicht lesen. Es herrscht immerwährender Schneefall, ewiger Winter. Graue Mauern, zerstört, alles ist verbrannt oder zu Schutt geworden. Der Himmel ist bleigrau. Ebenso grau sind die Flocken, die zur Erde herabfallen und alles bedecken. Es ist kalt. Ich friere, aber ich weiß, dass ich nicht stehen bleiben darf. Überall lauert der Feind. Er jagt mich. Unablässig. Ich habe nur eine Chance, ich muss den goldenen Engel erreichen, der in den Himmel ragt. Dort finde ich Frieden, dort gibt es Erlösung.«

»Das sind ziemlich konkrete Eindrücke.« Mischa blickte ihn an. »Glaubst du, es ist deine Heimat?«

Tian schüttelte energisch den Kopf. »Nein, aber ich war wohl dort, viele Male, und doch fühlt sich alles nicht real an.«

»Vielleicht ist es nur ein immer wiederkehrender Traum.«

»Nein, irgendwie ist es mehr als nur ein Traum. Ich glaube, in diesen Bildern ist die Lösung des Rätsels verborgen.«

»Welches Rätsel?«

»Warum wir hier sind und was das alles zu bedeuten hat.«

León hatte auf Mary gewartet. Aus den Augenwinkeln beobachtete er sie. Sie war zweifelsohne hübsch. Zwar wirkte ihr Gesicht unendlich zart und zerbrechlich, aber der volle rote Mund mit den sinnlichen Lippen sprach da eine ganz andere Sprache. Er sprach von einer Leidenschaft, die Mary bisher erfolgreich verborgen hatte. León fragte sich, warum sie so wenig Ausdauer aufbrachte. Warum sie kraftlos hinter den anderen hertrottete. Ohne zu klagen, ohne zu fragen.

Was ist los mit dir?

León stellte sich diese Frage nicht aus Mitleid oder Neugierde. Es war einfach so, dass Mary die Gruppe aufhielt. Er fühlte sich von ihrer Lethargie geradezu provoziert. Jeder, wirklich jeder schien noch Reserven zu haben. Mary hingegen taumelte nur noch durch die karge Landschaft.

Dabei schien sie keine Angst zu verspüren. Und es war genau dieser Umstand, der ihn so wütend machte. Hier ging es ums nackte Überleben, aber Mary tappte neben ihm her, ohne den Kopf zu heben. Es fehlte nur noch, dass sie vor sich hin summte.

León hielt es nicht mehr aus.

»Warum strengst du dich nicht an?«, platzte es aus ihm heraus.

Mary blieb stehen und sah ihn ernst an.

»Was meinst du?« Ihre Stimme war kaum lauter als das Rauschen des Windes im hohen Gras. León verfluchte sich augenblicklich dafür, dass er sie angesprochen hatte.

»Falls du es noch nicht begriffen hast: Wir müssen so schnell wie möglich diese Tore erreichen oder wir werden sterben. Und selbst wenn wir die Tore erreichen, heißt das noch lange nicht, dass alle von uns überleben. Nur die Schnellsten werden es schaffen. Wer zuletzt kommt, hat Pech gehabt, die Arschkarte gezogen. Und du spazierst durch die Gegend, als hättest du alle Zeit der Welt.«

Sie sah ihn an. Aus diesen sanftmütigen braunen Augen. Wie dunkle Teiche, in denen man versinken konnte. León fluchte innerlich.

»Ich denke, es spielt keine Rolle, ob wir schnell oder langsam gehen, die Frage ist doch zunächst mal, ob wir die Tore erreichen. Und selbst wenn, werden wir trotzdem alle sterben.«

León schaute sie verdutzt an.

»Wer ein Rennen zu schnell beginnt, wird bald außer Atem sein. Dass hier ist kein Sprint, sondern ein Marathonlauf.«

Dieses Mädchen war unfassbar. »Und du glaubst, ausgerechnet du hast die Kraft, das durchzustehen?«

Mary zuckte mit den Schultern. »Vielleicht nicht, aber jemand wird mir helfen.«

León war nun vollkommen fassungslos. »Das glaubst du wirklich?«

Mary sah ihn ernst an. »Ja, das glaube ich. So war es schon immer. Ich kann mich zwar nur an meinen Namen erinnern, aber ich weiß einfach, dass es so ist. So sein muss.«

»Du spinnst.«

»Vielleicht bist ja du derjenige, der mir hilft.«

León hatte Mühe, nicht die Fassung zu verlieren. Er starrte Mary kalt an. »Vergiss es.«

Kathy ging stur hinter Jenna her, vor ihnen lief Jeb, der immer wieder nach dem Stern blickte. Aufgereiht wie Perlen auf einer Schnur zogen sie über die Ebene. Kathy starrte auf Jennas Rücken und ihre Abneigung gegen dieses Mädchen wurde immer größer. Nicht dass sie sagen konnte, warum das so war, aber sie fühlte einfach Zorn in sich, wenn sie Jenna ansah. Wie sie mit gleichmäßigen Schritten, scheinbar ohne zu ermüden, Jeb folgte.

Kathy hatte das Gefühl, Mädchen wie Jenna zu kennen. Mädchen, die sich für was Besseres hielten. Mädchen, die die netten Jungs abbekamen, während für sie nur die Arschlöcher oder irgendwelche Trottel übrig blieben.

So einen Scheiß weiß ich noch.

Insgeheim bewunderte sie Jenna ein wenig für ihre Stärke. Und gleichzeitig blitzte Neid in ihr auf. Jenna war attraktiv, ohne Zweifel, aber das war sie selbst auch. Allerdings strahlte Jenna eine Gelassenheit aus, die sie in sich selbst nicht spürte. In regelmäßigen Abständen drehte sich Jeb nach der Gruppe um. Kathy konnte sehen, dass er jedes Mal Jenna anlächelte. Bestimmt grinste Jenna dämlich zurück.

Jeb.

Der Gedanke an Jeb jagte Kathy eine heiße Flamme durch ihren Körper. Es war kein Feuer der Leidenschaft, schon gar nicht Liebe oder so was. Mehr ein Verlangen, die Lust, ihn zu erobern – aber dazu musste sie ihn von Jenna ablenken.

Diese blonde Kuh mit ihren großen Augen macht ihn noch ganz verrückt, wenn ich nicht aufpasse.

Kathy biss sich auf die Unterlippe und erhöhte ihr Schritttempo, um sich zwischen Jenna und Jeb zu schieben. Während sie durch die Hitze marschierte, ihre Augen wegen der flirrenden Hitze gesenkt hielt, kamen ihr bekannte Bilder in den Sinn. Zunächst konnte sie nichts davon einordnen, aber dann spielte sich eine klare Szene vor ihren Augen ab. Sie sah sich selbst nackt vor einem Spiegel stehen. Sie hatte die Haare angehoben und bewunderte ihr makelloses Aussehen. Plötzlich schoben sich zwei Hände von hinten über ihre Brüste. Ein junger Mann, kaum mehr als ein Schatten im Spiegel, beugte sich herab und küsste ihren Nacken.

»Du bist so schön.« Seine Stimme war heiser vor Erregung.

Sie formte mit ihren Lippen einen perfekten Kussmund und lächelte dann gespielt unschuldig.

»Findest du?«

»Du bist eine Göttin.«

»Du weißt, dass meine Schwester nichts von dieser Sache erfahren darf.«

»Ja, unsere Hochzeit könnte ich dann vergessen. Sie würde mir niemals verzeihen.«

»Wohl kaum. All das hat natürlich seinen Preis, das weißt du?«

»Du bekommst von mir, was du willst.« Seine Stimme wurde brüchig. »Und jetzt komm zurück ins Bett.«

Kathy lächelte ihr Spiegelbild an. Sie hatte gewonnen.

Wieder einmal.

Die Erinnerung war so greifbar, dass trotz der Hitze ein leichtes Zittern über ihren Körper lief. Sie fühlte sich gut.

Du warst ein böses Mädchen, dachte sie. Und es ist an der Zeit, noch viel böser zu werden.

Es musste inzwischen mindestens Mittag sein. Sie waren ohne Unterbrechung unterwegs, die Sonne brannte ihnen unbarmherzig auf die Köpfe. Das Wasser war lange verbraucht, ihre Kehlen trocken, als Jeb endlich stehen blieb. Er wartete, bis die anderen zu ihnen aufgeschlossen hatten, dann deutete er nach links auf eine kleine Baumgruppe in der Ferne.

»Ich glaube, dort gibt es Wasser«, sagte er.

»Das liegt nicht in unserer Richtung«, meinte Mischa.

»Wir müssen unsere Flaschen auffüllen. Bei der Hitze kippen uns bald die Ersten aus den Latschen.«

»Wieso glaubst du, dass wir dort Wasser finden?«

»Sieh dich um. Gras, nichts als trockenes Gras, aber dort stehen Bäume. Es muss dort Wasser geben.«

Er wandte sich an die anderen. »Seid ihr einverstanden, wenn wir einen Umweg machen und versuchen, bei der Baumgruppe dort drüben nach Wasser zu suchen? Der Marsch kostet uns Zeit, wir verlieren allerdings den Stern nicht aus den Augen. Uns allen würde eine Pause im Schatten guttun.«

Einige brummten ihre Zustimmung, andere nickten nur. Sie marschierten seit Tagesanbruch und waren dem Stern scheinbar noch kein Stück näher gekommen.

Die Bäume entpuppten sich als hochgewachsene Ulmen. Woher Jeb das Wort kannte, wusste er selbst nicht und es schien auch niemanden zu interessieren. Auf jeden Fall gab es hier Schatten, es war kühler und sie fanden einen kleinen Bach, der sich munter zwischen Bäumen und niedrigem Buschwerk hindurchschlängelte.

Alle bis auf Mary, die noch weit zurückhing, stürmten zum Bach, warfen sich zu Boden und tranken ausgiebig von dem erfrischenden Wasser.

Kathy, Mischa und Tian bespritzten sich gegenseitig, während Jenna und Jeb am Ufer saßen und das Treiben beobachteten. León hatte sich abgesondert. Im Unterholz hatte er einen fast zwei Meter langen Ast abgebrochen, den er jetzt mit seinem Messer bearbeitete.

»Was wird das?«, fragte Jeb.

León sah nicht mal auf. »Ein Wanderstab und ein Speer.«

Jeb starrte ihn an. Während ein Teil der Gruppe ausgelassen herumtobte und der Rest versuchte, sich zu erholen, war León schon wieder einen Schritt weiter und schnitzte sich eine Waffe.

Vor diesem Jungen musste man einfach Respekt haben.

Er ließ seinen Blick umherschweifen. Mary hatte es endlich auch geschafft. Mit hängendem Kopf und erschöpftem Blick stand sie neben León, der vor ihr auf dem Boden hockte. Sie zog ihren Rucksack herunter, öffnete ihn und nahm die leere Flasche heraus. Mit einer hilflosen Geste hielt sie ihm die Flasche hin. Ohne aufzusehen, fragte er: »Was soll das?«

»Holst du mir Wasser?«, sagte sie leise.

Nun hob er doch den Kopf an. Kurz sah er ihr in die Augen, dann nahm er ihr die Flasche aus der Hand und warf sie in hohem Bogen in Richtung Bach.

»Hol’s dir doch selber«, knurrte er und wandte sich wieder seinem Speer zu.

Jeb sah, wie Mary völlig entkräftet zu weinen begann. Er wollte aufspringen, zu ihr gehen, ihr Wasser holen oder sie zumindest trösten, aber eine Hand legte sich auf seinen Arm.

Jenna.

»Lass sie«, sagte Jenna ruhig. »Sie muss begreifen, dass sie es allein schaffen kann. Sie ist es offenbar gewohnt, dass Leute ihr jeden Wunsch von den Augen ablesen. Aber sie ist zäher, als sie aussieht.«

»Woher willst du das wissen?«

Jenna nickte in Richtung Mary. »Ich weiß es einfach. Schau!«

Tatsächlich, Marys hilfloses Gesicht hatte einen entschlossenen Zug angenommen. Sie drängte die Tränen zurück. Sie sagte etwas zu León, der zu grinsen begann. Dann schritt sie an ihm vorbei, ohne ihn eines weiteren Blickes zu würdigen. Kurz darauf beobachteten sie, wie Mary ihre Flasche aufhob und zum Bach ging.

Jenna hatte in Bezug auf Mary recht gehabt. Mary saß wenig später bei den anderen und wirkte erholt. Ihr Gesicht hatte wieder Farbe bekommen und sie plauderte mit Tian und Mischa. León schnitzte noch immer an seinem Speer, während Kathy im Schatten eines Baumes döste.

Jeb sah zum Himmel. Am Stand der Sonne konnte er ablesen, dass es früher Nachmittag sein musste. Sie könnten noch viele Stunden bei Tageslicht weitermarschieren, aber das nächste Nachtlager bereitete ihm Sorgen. Auf der weiten Grasebene zu schlafen, hielt er für keine gute Idee. Niemals konnten sie hier am Bach so viel Holz sammeln und mitschleppen, dass ein Feuer die ganze Nacht brennen würde.

Jeb schützte seine Augen mit der flachen Hand gegen die Sonne und blickte in die Richtung, in die sie weiterziehen mussten. Ein dunkler Fleck zeichnete sich am Horizont ab. Dahinter musste es einen weiteren Wald geben. Jeb versuchte, einen Blick auf den Stern zu erhaschen. Er lief zum Saum der kleinen Baumgruppe. Da, da war er. Der Stern stand hell und klar über einer weiteren Bergkette, die sich in weiter Ferne aus der Ebene erhob. Der dunkle Baumgürtel, den er soeben entdeckt hatte, verlief in einiger Entfernung fast parallel zu ihrem Weg über die Ebene. Wenn sie sich beeilten, konnten sie den Wald vielleicht in der Dämmerung erreichen und am nächsten Tag ihren Marsch durch die Ebene fortsetzen.

Was für eine seltsame Landschaft: Nichts als Gras und Wald und Berge. Wie weit ist der Wald wohl entfernt?

Zwar würde es kein Problem sein, den Wald zu erreichen, aber sie würden viel Zeit verlieren, denn am nächsten Tag mussten sie denselben Weg wieder zurückgehen. Oder den mühsamen Weg durch den Wald nehmen. Insgesamt ein großer Zeitaufwand, von der damit verbundenen Kraft ganz zu schweigen. Die Ersten würden schon erschöpft sein, bevor sie den Bach am nächsten Tag erneut erreichten. Und selbst dann wäre der Stern noch einen guten Tagesmarsch entfernt. Wenn die Botschaft mit ihrem Ultimatum von zweiundsiebzig Stunden recht hatte.

Jeb blickte zum Stern hinauf. Weit entfernt funkelte er ihm zu, als höhnte er: Du erreichst mich nicht.

Doch, das werde ich.

Neben ihm tauchte Mischa auf. Bisher hatte Jeb kaum eine Gelegenheit gehabt, mit ihm zu reden, daher betrachtete er ihn neugierig. Mischa war fast so groß wie er selbst, vielleicht einen halben Kopf kleiner. Sein kurzes Haar erinnerte an ein goldgelbes Weizenfeld. Sein Gesicht hatte klare Züge, eine gerade Nase und schmale Lippen. Das Auffälligste an ihm aber waren seine strahlend blauen Augen. Intensiv und klar blickten sie ihn an.

Neben Mischa sehen wir anderen wie grobe Klötze aus, dachte Jeb. Es dürfte nur eine Frage der Zeit sein, bis sich eines der Mädchen für ihn interessierte. Mischa versprühte Charme, selbst hier in der Hitze der Ebene konnte man sich ihm kaum entziehen.

Ob Jenna sich…

Er verbot sich den Gedanken sofort. Er rief sich ins Gedächtnis, dass sie alle ums Überleben kämpften. Wenn man der Botschaft glauben konnte, würden die meisten von ihnen sogar mit Sicherheit sterben. Weil ihr verloren seid.

»Worüber denkst du nach?«, fragte Mischa ihn.

Jeb sah, dass eine winzige weiße Narbe Mischas rechte Augenbraue teilte. Mischa war doch nicht so perfekt, wie er auf den ersten Blick wirkte.

»Ich überlege, ob wir hier unser Nachtlager aufschlagen sollen. Wir sind lange marschiert und die meisten von uns sind erschöpft. Außerdem gibt es nur wenige Alternativen: entweder eine Nacht im Freien verbringen oder bis zum Wald dort hinten weitermarschieren.«

»Zu dem Wald dahinten? Zu weit weg. Ich denke nicht, dass Tian und Mary es dorthin schaffen.«

Jeb spürte, dass er schon die ganze Zeit angestrengt die Stirn runzelte. Vielleicht war es eine Angewohnheit aus seinem früheren Leben. Wie war das, mein früheres Leben?

»Was ist mit Tian?«

»Hat sich eine Blase gelaufen. Ziemlich großes blutiges Ding an der Ferse. Sie muss aufgestochen werden, sonst platzt sie und dann holt er sich womöglich eine Infektion, mit der er niemals weiterlaufen könnte.«

Infektion? Wieder so ein Wort, dessen Bedeutung er sofort kannte, aber das sich zuvor nicht in seinem Gedächtnis befunden hatte.

»Woher weißt du das alles?«

Mischa grinste. »Ehrliche Antwort? Ich hab keinen blassen Schimmer.«

»Okay, dann bleiben wir hier und kümmern uns um Tians Fuß, außerdem hat wahrscheinlich sowieso niemand Lust, heute noch weiterzugehen. Hier ist ein guter Platz und wir können ein Feuer machen.«

»Ich werde einen Dorn besorgen und Tians Blase aufstechen. Wenn mir Mary etwas von ihrem Verbandsmaterial gibt, kann ich seinen Fuß verbinden, sodass er sich nicht entzündet.«

Jeb begriff, dass auch Mischa verstanden hatte, dass jeder in dieser Wildnis auf den anderen angewiesen war. Schnell warf er einen Blick zu León hinüber. Der hatte die einzige Waffe und das effektivste Werkzeug der Gruppe. Es durfte nicht sein, dass er das Messer für sich allein beanspruchte. Es gehörte ihnen allen. Aber wie sollte er León das klarmachen? So wie er ihn einschätzte, würde er das Messer niemals freiwillig hergeben.

Während er noch über León nachdachte, hatte Mischa den anderen mitgeteilt, dass sie hier übernachten würden. Wie es aussah, setzte dem niemand etwas entgegen, sie alle waren froh, der Hitze fürs Erste entkommen zu sein.

Wirklich alle?

Jeb stieß einen stummen Seufzer aus, als er sah, dass sich León erhob und auf ihn zukam.

Er hielt den Speer, der ihn um eine Kopflänge überragte, locker in der Hand und Jeb sah, dass ein Ende des Stabs gefährlich zugespitzt war. León kam sofort zur Sache.

»Warum gehen wir nicht weiter? Der Tag ist noch lang.«

Jeb nickte in Richtung der Gruppe. »Sie sind erschöpft. Außerdem ist es nach Anbruch der Nacht auf der Ebene zu gefährlich. Hier können wir wenigstens ein Feuer machen.«

»Solange der Mond scheint, könnten wir auch nachts weitermarschieren.«

Jeb sah ihn verblüfft an. »Du würdest nachts durch die Ebene wandern?«

»Warum nicht?«

»Was ist mit Mischa und dem, was ihm passiert ist?«

»Erstens: Ich glaube immer noch nicht an dieses Schauermärchen. Zweitens: Wir könnten uns Fackeln basteln. Zur Not machen wir ein Feuer.«

Jeb verzichtete darauf, ihn darauf hinzuweisen, dass es in der Graslandschaft kein Holz für ein großes Feuer gab. »Erstens: Mit dem kleinsten herumfliegenden Funken würden wir das trockene Gras anzünden. Das gibt in Sekunden einen Buschbrand, der sich wie ein Orkan durch die Ebene frisst. Zweitens: Wir bleiben über Nacht hier«, imitierte Jeb seinen Tonfall und bestimmte dann: »Und gehen morgen weiter.«

Leóns Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. »Wer hat eigentlich dich zu unserem Anführer bestimmt?«

»Niemand«, antwortete Jeb. »Aber so wie es aussieht, ist niemand sonst scharf auf den Job. Und einer muss ihn schließlich machen.«

Es sollte ein müder Witz sein, mit dem Jeb hoffte, die Spannungen zwischen ihm und León aufzulösen. Er täuschte sich.

»Was, wenn ich beschließe, allein aufzubrechen? Wirst du versuchen, mich aufzuhalten?«, knurrte León.

Jeb erwiderte seinen Blick. Ruhig erwiderte er: »Du kannst gehen, wohin und wann immer du willst. Niemand wird dich aufhalten. Aber…«

»Dann ist es ja gut.«

»...das Messer bleibt hier.« Jeb holte tief Luft. »Es gehört der Gemeinschaft, wie alles, was wir gefunden haben. Wir brauchen diese Dinge, um zu überleben. Genau wie wir einander brauchen, um weiterzukommen. Wer auf die Gemeinschaft verzichtet, verzichtet freiwillig auf jeden Schutz, den sie ihr bietet. Und auch auf die Ausrüstung, die der Gruppe gehört. Es liegt ganz bei dir.«

Alle Muskeln an Leóns Körper spannten sich an. Er war kurz davor, sich auf ihn zu stürzen. Jeb ahnte, dass er aus einem Kampf gegen León nicht zwingend als Sieger käme. Obwohl er León körperlich überlegen war, machte der den Eindruck eines geübten Kämpfers.

»Wenn du es haben willst, musst du es mir schon gewaltsam abnehmen«, zischte León. Die Spitze des Speeres richtete sich auf Jeb, der die Waffe jedoch mit festem Griff beiseitedrückte. »Spar dir deine Drohungen, León.«

Die anderen hatten ihre Auseinandersetzung inzwischen mitbekommen. Mischa hatte sich aufgerichtet und trat zwischen die Kontrahenten.

»Was ist hier los?«

León zog einen Mundwinkel nach oben und stieß hervor: »Nichts. Wir plaudern nur ein wenig.«

Jeb ließ León nicht aus den Augen. »Ja, nur ein kleiner Schwatz unter Männern.« Dann wandte er sich um und ging zum Bach.

Ab sofort würde Jeb León im Auge behalten.

León hatte sich abseits der anderen niedergelassen und schnitzte weiter an seinem Speer. Die Auseinandersetzung mit Jeb hatte ihm gezeigt, dass bedrohliches Potenzial in ihm lauerte. Eine unbändige Wut, die nur darauf wartete, geweckt zu werden. Zorn, der ihn und alles um ihn herum verschlingen konnte. Sein Blut hatte gekocht. Hitze hatte sich in ihm ausgebreitet. Er war bereit gewesen zuzustoßen. Zu verletzen. Zu töten.

Warum bin ich so? Warum nehme ich jede Herausforderung wie einen Kampf? Wieso reagiere ich instinktiv mit Gewalt? Ist Töten so leicht für mich?

Er erschrak über die Antwort, die aus seinem Inneren kam.

Ja, ich habe schon getötet. Wen oder warum? Ich weiß es nicht, aber da ist dieser Junge, den ich immer wieder vor mir sehe. Er ist so alt wie ich. Und dürr. Seine dunklen Augen starren mich angsterfüllt an. In einer Hand hält er eine Pistole, deren Lauf nach unten zeigt. Noch. Ich weiß, dass er gleich den Arm hochreißen wird, um auf mich zu schießen.

Er ist der Feind. Ich habe gelernt, ihn zu hassen, noch bevor ich das Licht der Welt erblickte. Trotzdem will ich ihn nicht wie einen Hund abknallen. Ich schüttele langsam den Kopf. Versuch es nicht, will ich ihm damit sagen, aber ich lese in seinen Augen, dass er es tun wird. Auch er hat gelernt zu hassen. Mich zu hassen, obwohl er mich bis zu diesem Augenblick nicht kannte. Dann geschieht alles in einem Sekundenbruchteil. Er bewegt sich. Sehr schnell. Aber ich bin schneller. Die Waffe in meiner Faust wiegt schwer, der Rückschlag reißt meine Hand zurück. Eine rote Blume erblüht auf seiner schmalen Brust. Er schaut mich an. Dann sacken unter ihm die Beine weg. Wie eine Marionette, deren Fäden durchschnitten wurden, fällt er in sich zusammen. An seinem Tod ist nichts Glorreiches und ich fühle mich mies. Geradezu erbärmlich im Schmutz meines Lebens.

Verloren.

Ich habe einen Menschen getötet.

Gott hat seinen Blick von mir abgewandt.

Ich bin nicht mehr sein Kind, ich gehöre der Straße.

Bis auch mich eine Kugel trifft.

Plötzlich stand Mischa neben ihm. Als der ihn leicht an der Schulter berührte, zuckte er erschrocken zusammen.

»So in Gedanken?«

León nickte nur. Er wusste nicht, woher die Bilder in seinem Kopf plötzlich kamen, aber er spürte ihre Wahrheit. Wer immer er auch gewesen sein mochte, bevor er hierhergekommen war, er war kein guter Mensch. Man konnte daran zerbrechen oder es einfach akzeptieren. León akzeptierte es.

Er sah Mischa an. Könnte ich dich töten, wenn es so weit ist?

Ja, ohne zu zögern, antwortete eine Stimme tief in seinem Inneren.

León erhob sich und ging hinaus in die anbrechende Dämmerung.

Er musste jetzt allein sein.

Mary saß auf dem Boden, den Rücken gegen einen Baumstamm gelehnt, die Augen geschlossen. In kleinen Schlucken trank sie aus ihrer Wasserflasche. Sie fühlte sich schwach, ihr Herz pochte unruhig in ihrer Brust. Sie versuchte, ruhig zu atmen, aber irgendwie wollte ihr das nicht gelingen.

Ich habe keine Kraft mehr. Dabei ist das erst der Anfang.

Warum bin ich hier?

Diese Frage hämmerte schon den ganzen Tag in ihrem Kopf. Bei jedem Schritt war diese Frage gekommen.

Warum bin ich hier?

Warum bin ich hier?

Warum bin ich hier?

Sie schlug die Augen auf und schaute zu den anderen hinüber. Jenna, Jeb, Mischa, Kathy, Tian und León.

León.

Dieser tätowierte Junge faszinierte sie. Zugleich machte er ihr Angst. All die seltsamen Muster auf seinem Körper und in seinem Gesicht ließen sie schaudern, aber es war mehr als das. Die herablassende Art, mit der er sie behandelte, ließ ihr Gesicht vor Zorn glühen. Erst das merkwürdige Gespräch mit ihm auf der Ebene und vorhin seine Weigerung, ihr zu helfen, obwohl er doch sehen musste, wie erschöpft sie war.

Er hatte gesagt, sie solle sich selbst Wasser holen. Dabei hatte sie sich kaum noch auf den Beinen halten können.

León war gemein. Ein Mensch, der keine Rücksicht auf andere nahm.

Verflucht soll er sein, dachte Mary.

Und doch wanderte ihr Blick immer wieder zu ihm hinüber. Sie konnte nicht anders, als ihn zu beobachten. Als ob man eine giftige Schlange im Auge behielt.

Denn das war er in ihren Augen.

Ein wildes, gefährliches Tier.

Er hatte ihren Blick bemerkt und richtete sich nun zu voller Größe auf. Um seinen Mund lag ein verächtliches Grinsen, als er zu ihr hinüberschaute. In seinen Augen erkannte sie die Respektlosigkeit, mit der er ihr ständig gegenübertrat.

Mary spürte wieder Hitze in ihr Gesicht steigen, sie wollte sich abwenden, zwang sich aber, seinem Blick standzuhalten. Sekunden vergingen, dann lächelte León breit und sandte ihr einen Luftkuss. Mary schnappte nach Luft.

Was für ein Arschloch.

Das Labyrinth erwacht

Подняться наверх