Читать книгу Pirmasens - Rainer Wieczorek - Страница 10

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MIT EINEM KLEINEN HAMMER haut Amrein Nägel in einen Rahmen, in immer gleichem Abstand. Immer gleich? Nichts ist immer gleich.

»Dr. Wajaroff – wie klingt das?«, fragt Danski.

»Habe ich mir schon öfter überlegt. An den Briefkasten würde ich’s wohl nicht schreiben. Bei der Wohnungssuche dagegen wäre es hilfreich.«

»Wie gehst du vor?«

»Ich ordne alles in Gegensätzen an. Den bürgerlichen Wandervögeln aus den Berliner Gymnasien, deren Wanderleben von den Eltern genehmigt und beantragt werden musste, stelle ich die Wanderflegel gegenüber, deren Naturerlebnis ohne den Besuch eines Bierlokals unvollkommen gewesen sei, wie ein Zeitgenosse schrieb. Eine Gruppe ohne pädagogische Ziele, jeder Provokation zugeneigt.«

»Wanderflegel. – Nicht schlecht.«

»Ich versuche, den Charakter unterschiedlicher Jugendbewegungen herauszuarbeiten. Die jugendlichen Arbeiter werden eine große Rolle spielen. Allen Gruppierungen gemeinsam aber ist der Versuch, zwischen der Knute des Elternhauses und der sich ankündigenden Vereinnahmung durch das Militär eine neu entstandene Lücke zu nutzen, eine Lücke, die man Jugend nennt – zur Selbstvergewisserung, zum Protest. – ›Jugendstil‹, ›Jugendbewegung‹, ›Arbeiterjugend‹ – wenn du über diese Zeit schreibst, kannst du das Wort ›Jugend‹ bald nicht mehr ertragen.«

»Weil mit der Industrialisierung auf einmal die Werte und Verhaltensnormen der Alten keine Orientierung mehr boten«, sagte Danski. »Im Jazz wurde das Verdrängen traditioneller Spielweisen durch Newcomer zum Dauerzustand! Als dies nicht mehr gelang, weil das musikalische Material von nahezu allem Befreibaren befreit war, verloren die Jazzmusiker ihren Kompass. Der Jazz lebte von der Umwälzung.«

Als Wajaroff nichts sagte, fuhr Danski fort:

»In Deutschland galt der Jazz – das wird dich interessieren – bis in die Siebzigerjahre hinein als Jugendmusik. Als künstlerische Ausdrucksform wurde er vom Establishment nicht ernst genommen. Ein Jazz-Musiker, der in kommunalem Auftrag spielte, erhielt seine Gage vom Jugendamt, nicht etwa vom Kulturamt.«

»Und die Jugendlichen in Pirmasens?«, fragte Wajaroff nach einer Pause.

»Die kamen nicht zu Jazzkonzerten. Die wurden in den Schuhfabriken gebraucht. Nach der achten, spätestens nach der neunten Klasse bot man ihnen ein nagelneues Mofa an, mit dem man am Wochenende bis Kaiserslautern fahren konnte – um Pirmasens zu entkommen –, und dann wurden sie ohne jede Berufsausbildung Arbeiter in einer Schuhfabrik. Es erfordert viel Geschick, Schuhe zu formen – das lernte man hier, ohne später davon profitieren zu können.«

»Pirmasens entkommen«, sagte Wajaroff leise.

Hinten hämmerte Amrein.

Pirmasens

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