Читать книгу endlich pleite - Ralf During - Страница 6
Mehr Monat als Geld
ОглавлениеDie nächsten Tage trugen nicht gerade zur Beruhigung meiner übermüdeten Nerven bei. Unvorsichtigerweise hatte ich auf Amazon nach Büchern zur drohenden Wirtschaftskrise gesucht und war zu meiner Bestürzung fündig geworden. Dutzende Untergangspropheten sagten wenig subtil das Ende der Welt voraus und boten nun ihre Überlebensstrategien zu Preisen an, die mich an eine Hyperinflation glauben ließen. Der Strohhalm, an den ich mich mit meiner Buchbestellung klammerte, kostete mich das Monatseinkommen eines ostanatolischen Dorfes und füllte mein Büroregal oberhalb der Schreibtischablage. Doch die Zukunft meiner ungeborenen Kinder war es mir wert.
Rückblickend kann ich niemandem empfehlen, sich mit den Mechanismen globalisierter Finanzströme und den Folgen so genannter billiger Geldpolitik zu beschäftigen. Das verursacht neben Kopfschmerzen auch Schlafstörungen und unruhigen Stuhlgang. Das größte Übel unserer Zeit scheint dabei der Zins zu sein, die Idee, Geld gebiert Geld, auch wenn keiner dafür arbeitet. Dieser Unsinn gliche, schrieben Berufenere als ich, einem Pyramidenspiel, bei dem solange oben Geld verdient wird, solange unten ein Dummer aufsteht und brav seinen Lohn zur Bank trägt. Der ist es am Ende aber auch, der vor verschlossener Banktür steht und sich wundert, wieso das Schild mit den Öffnungszeiten verschwunden ist.
Ich hingegen wunderte mich, wieso meine Kollegen angesichts der beunruhigenden Vorzeichen nicht schreiend durch den Tag liefen. Stattdessen saßen sie unberührt an ihren Schreibtischen. Emotionslose Gesichter, die nur vom flackernden Schein der Bildschirme erhellt wurden. Sie taten mir leid, wie sie ahnungslos an ihrem eigenen Ast sägten, sich in ihrer Reihenhaussiedlung mit Hund, Frau und Kleinwagen sicher wähnten und deren größte Sorge es war, den günstigen Damenradsattel mit Gelpolster bei Tchibo zu verpassen.
Doch bevor auch ich zu Tchibo ging, um Tessa einen neuen Fahrradsattel zu kaufen, erstellte ich ein Positionspapier, das meine Kollegen wachrütteln und über die einzelnen Stufen des von langer Hand geplanten Systemcrashs aufklären sollte. Wir befanden uns gegenwärtig auf Stufe vier der acht Endzeitszenarien, nämlich unmittelbar vor dem Zusammenbruch der auf Stufe drei künstlich erzeugten Einheitswährung, dem Euro. Danke Theo Waigel, Blumen für Helmut Kohl, einen Sarg für Deutschland. Letzterer prangte als Eyecatcher am Ende meines Achtpunkteprogramms und sollte mein Anliegen unterstreichen. Doch als ich aus der Mittagspause zurückkehrte und kleine Dankgeschenke für meine Weitsicht erwartete, rief mich Holthausen, mein Chef, in sein Büro.
Holthausen, 41jähriger Ex-Hiwi vom Bürgermeister, war Abteilungsleiter in unserem Referat, Sozialdemokrat und der geborene Radfahrer. Angefangen als Assistent der Geschäftsleitung war er innerhalb von nur fünf Jahren in so viele Ärsche dieser Behörde gekrochen, dass er ungeachtet der üblichen Wartezeiten an sämtlichen Kollegen vorbei befördert wurde. Entsprechend beliebt war er unter den Zurückgebliebenen, abgesehen von denen, die sich eine ähnliche Blitzkarriere von einem guten Kontakt zum Chef versprachen. Ich gehörte nicht dazu.
Kaum hatte ich sein Büro betreten, hielt er mir meine Kampfschrift wider den Zins entgegen.
»Ist das auf Ihrem Mist gewachsen, Kuhn?«, waren seine ersten Worte und ich nickte hoffnungsfroh.
»Dann haben Sie damit nicht nur den Kopierer verstopft, sondern auch die Postfächer Ihrer Kollegen?«
Das Nicken fiel mir schon schwerer.
»Der Aushang am schwarzen Brett und die Rundmail stammen dann wohl ebenfalls von Ihnen?«
Irgendetwas in seiner Stimme ließ mich auf ein weiteres Nicken verzichten und Ausschau nach einem Stuhl halten. Es drohte ein längeres Gespräch zu werden, doch ich irrte.
»Mensch Kuhn, sind Sie noch ganz bei Trost? Machen hier die Pferde scheu mit Ihrem Verschwörungsgedöns und halten die Leute von der Arbeit ab? Von der Material-verschwendung mal ganz abgesehen. Haben Sie gerade geistigen Leerlauf oder sind Sie unterbeschäftigt? Ich hätte da noch eine vakante Stelle im Archiv, wenn Sie mit der Hälfte Ihres Gehaltes auskämen. Scheint ja eh nicht mehr lange was wert zu sein.«
Ohne meine Erwiderung abzuwarten, wies mich der Imperator mit einem stummen Wink seiner rechten Hand aus seinem Büro und knüllte meinen vergeblichen Versuch, Deutschland vorm Untergang zu retten, zusammen. Ich warf ihm noch einen letzten aufrüttelnden Blick zu und flüsterte beim Verlassen des Raumes, dass es noch nicht zu spät sei, ahnte aber, auch hier zu irren.
Auf dem Weg zurück an meinen Schreibtisch fühlte ich die Ohnmacht derer, die in der Geschichte der Menschheit die Mauer der Unwissenheit niederreißen wollten und dahinter den Felsen der Ignoranz vorfanden. Doch anders als Galileo würde ich nicht widerrufen. Mein Chef hatte gut lachen. Zwei Häuser, mehrere Wohnungen und eine vorzügliche Pensionsregelung, da kann man ein paar Jahre Geldentwertung leicht wegstecken. Doch meine Kollegen sahen das sicher anders und würden meine Warnungen zu schätzen wissen.
Noch heute sehe ich diese grinsende Judasbande vor mir, als ich unser Großraumbüro betrat. Papierflieger meiner Ausdrucke drehten sanfte Runden unterhalb der Deckenlampe, der Rest füllte die Papierkörbe oder stapelte sich mit wenig schmeichelhaften Aufschriften auf meinem Tisch. Keiner kam, um mir zu danken oder gemeinsam zu überlegen, wie wir uns vor dem Untergang des Abendlandes schützen konnten. Wieder war ich auf mich allein gestellt und wusste, dass ich bessere Argumente brauchte als mein Achtthesenpapier.
»Hey Ben«, sprach mich plötzlich Kollege Rubenbauer vom Schreibtisch gegenüber an. »Weißt du, wie man die Letten seit dem EU Beitritt nennt?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Euro-Paletten«, wieherte Rubenbauer los und bekam sich fast nicht mehr ein. »Verstehst du? Europa Letten. Kapiert?«
Natürlich hatte ich den Witz verstanden, nur war mir nicht nach Lachen zumute.
»Sehr lustig. Noch so ein Staat, für den ich Steuern zahle.«
»Na ja, so schlimm wie in deinem Papier hier, wird’s schon nicht werden«, grinste mich Rubenbauer an und hielt mein Achtthesenpapier hoch.
»Oder schlimmer. Weißt du, was 1923 hier in Deutschland los war? Inflation war ein Krieg zwischen zwei Kriegen, nur dass jeder gegen jeden kämpfte«, widersprach ich meinem Kollegen. Doch der lachte nur.
»Jetzt mach mal halblang. Schau in die Zeitung. Wir haben die geringste Teuerung seit Jahren und du redest von Inflation.«
»Ja, wenn ich Herrenhüte und Damenstrümpfe mit Billigcomputern aus Fernost vergleiche. Aber geh doch mal essen. Da zahlst du locker Preise in Euro, die früher in Mark unverschämt gewesen wären.«
»Mann, keiner zwingt dich, essen zu gehen. Die haben halt auch ihre Ausgaben, Lohnkosten und so weiter, und Fleisch ist nun mal teuer.«
»Fleisch? Ich rede von Pizza für neun Euro? Hey, das waren mal 18 Mark. Kein Mensch hätte das damals bezahlt und heute tun alle so, als hätte sich auch ihr Gehalt verdoppelt.«
»Deins nicht?«, grinste Rubenbauer und begann wieder in seine Tastatur zu hacken.
»Nee, dafür meine Miete, Heizöl, Strom, Kino, Pfisterbrot und tausend andere Dinge, die wir täglich brauchen.«
»Also, ich kauf meine Semmeln im Supermarkt. Die kosten dort nur die Hälfte und schmecken genauso. Da kannst du sagen, was du willst, wer teuer kauft, ist selber schuld.«
Mir fehlten die Worte, wohl auch, weil mein Telefon schrillte und mein Lieblingskunde wissen wollte, wann ich ihm nun endlich den »scheiß Garagenneubau« bewilligen würde. Originalton und genau das, was ich im Augenblick brauchte.
»Stecken Sie sich doch Ihre beschissene Garage an den Hut. In ein paar Wochen können Sie sich das Benzin für den Wagen darin eh nicht mehr leisten.«
Danach legte ich auf. Rubenbauer sah mich überrascht an und drehte mit seinem rechten Zeigefinger einen Kreis an seiner Schläfe. »Hey Kollege, nimm dir mal frei. Sonst geht dir tatsächlich bald das Geld aus, wenn der sich da oben beschwert.« Dabei blickte Rubenbauer demonstrativ zur Decke, wo im 5. Stock die Amtsleitung residierte.
Missmutig folgte ich seinem Rat, nahm meine Tasche und hielt wenige Minuten später meine Karte an das Zeiterfassungsterminal. Draußen hatte es wieder zu schneien begonnen, Schirmträger huschten an mir vorüber, eine Katze duckte sich unter das Dach der Firmeneinfahrt und in zwei Wochen war Frühlingsanfang. Ich fror.
So mies hatte ich mich zuletzt vor knapp zwanzig Stunden gefühlt, als ich dem Strategie-Finanzberater gegenüber saß und wir meine Einkünfte mit den Ausgaben verglichen. Es galt, eine krisensichere Anlage zu finden, die mich nachts wieder ruhig schlafen ließ.
Gefunden hatten wir eine Deckungslücke, in der ganze Hollywoodproduktionen von Alpträumen Platz gefunden hätten. Ich schien chronisch unterversorgt und bat meinen Berater, mir das schriftlich für die nächste Gehaltsverhandlung zu geben. Es war ein Wunder, dass ich mir bei meinem Gehalt überhaupt ein Leben in München leisten konnte, ohne am Monatsende bei der städtischen Tafel zu landen. Mir fehlten monatlich gut 300 Euro, um meine laufenden Kosten zu bedienen. Hätte ich ihm sagen sollen, dass ich mir das Haushaltsgeld mit meiner Freundin teilte? Doch seinen mitleidigen Blick ersparte ich mir. Glücklicherweise hatte mein kaum volljähriger Berater wohl seine Ansprüche zu Grunde gelegt, als er monatlich 750 Euro für persönliche Lebensführung veranschlagte. Geschmeichelt, als Yuppie durchzugehen, widersprach ich ihm nicht. Auch die angesetzten 200 Euro für Handy und Telefonanschluss ließ ich unkommentiert, dachte ich doch an Tessas Gesprächsbedarf. Mich hingegen rief niemand an, mit wem also hätte ich telefonieren sollen? Dass ich kein Auto fuhr und die entsprechenden Aufwendungen von meinen gerade ermittelten Schulden abziehen konnte, behielt ich als stille Reserve im Hinterkopf. Dennoch blieb mir mehr Monat als Geld übrig und meine Hoffnung schwand, eine krisensichere Anlage empfohlen zu bekommen.
Doch das jugendliche Finanzgenie überraschte mich. Er traute mir eine Gehaltsentwicklung in den nächsten Jahren zu, die Balsam für meine geschundene Seele war, wenn auch unrealistisch. Doch damit ließen sich komfortablere Anlageszenarien spinnen, die eine kurzfristige Inflation ebenso überstehen würden wie einen weiteren Finanzcrash, vorausgesetzt der deutsche Steuerzahler würde wieder Milliarden in das weltweite Bankenmonopoly pumpen. Doch davon war auszugehen. Munter schoben wir die Euros von einem Steuersparmodell in ein anderes, kauften probeweise Schifffonds und Rohstoffderivate und legten die Dividenden auf karibischen Inseln an. Es wurde ein lustiger Nachmittag, bis mir Unterlagen vom Umfang des Giesinger Telefonbuches zur Unterschrift vorgelegt wurden. Da fiel mir meine gegenwärtige Finanzlücke wieder ein und ich gab vor, mir die Unterlagen nochmals zuhause durchlesen zu wollen. Wir vereinbarten einen zweiten Termin, den ich beim Verlassen der Finanzagentur bereits vergessen hatte.
Also, dieser Weg schien vorerst verschlossen, denn trotz deutlich sparsamerer Lebensführung würde ich das zu Grunde gelegte Gehalt in zehn Jahren nicht verdienen. Zumindest nicht, solange ich unverbeamtet beim Staat arbeitete. Doch wenn die Vorhersagen meiner Internetrecherchen eintrafen, wäre Deutschland spätestens in fünf Jahren am Ende, kurz nachdem neben Griechenland auch Portugal, Irland und der ganze Ostblock Konkurs beim IWF angemeldet hatten. Dann wäre auch die städtische Bauverwaltung überflüssig, mit ihr mein Arbeitsplatz und der Traum von einem höheren Gehalt.
Ich musste daher einen anderen Weg finden, die kommenden Jahre zu überleben. Was hatte der Finanzkasper noch mal gesagt? Schulden braucht man bei Inflation und Immobilien in Krisenzeiten. Wieso nicht beides? Immerhin träumte Tessa von einer eigenen Wohnung, das hieße Schulden und Immobilie in einem. München war voller Häuser, da musste doch irgendwo etwas frei sein, das sich sogar ein kleiner städtischer Angestellter leisten konnte. Immerhin gab es von meiner Sorte nicht gerade wenige in der Stadt, auch wenn immer mehr aus sozialen Nischen wie Augsburg, Rosenheim oder Landshut kamen.
Tessa war noch in der Galerie und mochte es nicht, wenn ich sie dort besuchte. Die Künstler seien sensibel und wünschten keine Gäste vor dem offiziellen Ausstellungsstart. So zumindest ihre stereotype Antwort, wenn ich anbot, sie von der Arbeit abzuholen. Also fuhr ich mit der Tram zum Max-Weber-Platz und setzte mich in eine der Fensternischen im Wiener Café. Dort breitete ich die Süddeutsche Zeitung aus und schlug den Immobilienteil auf. Die Bedienung schien mich zu ignorieren, ich fühlte mich zuhause und sagte mir, dass mich jeder gesparte Euro ein paar Quadratzentimeter näher an die gewünschte Traumimmobilie brächte. Bei den Münchener Cappuccino-Preisen stand ich damit schon fast vor der Haustür.
Doch zuerst hieß es, ein Gespür für die drei wichtigsten Kriterien beim Wohnungskauf zu entwickeln. Das waren Lage, Lage und Lage. Wo also lag meine zukünftige Altersvorsorge? Schwabing, Haidhausen und das Glockenbachviertel schieden rasch aus, ebenso Solln, Isarvorstadt und Nymphenburg. Aber auch Neuhausen, Gern und das Maxviertel schienen unerschwinglich. Es war frustrierend. Tessa hatte während ihres Studiums im Westend gewohnt, eine damals üble Gegend. An solchen Erinnerungen merkt man, dass man älter wird. Fanden sich doch in dieser Ausgabe der Süddeutschen im ganzen Westend nichts unter „100 Quadratmeter Loft“ oder Penthäuser zu Preisen, von denen man außerhalb Münchens Häuser abzahlen konnte. Die Gegend schien beliebt zu sein und aus einst üblen Ecken wurden Anlageobjekte. Nur nicht für mich. Und so ahnte ich, aus Giesing nicht raus zu kommen.
Eine Gegend mit Potential hatte unser Vermieter die damalige Mieterhöhung anlässlich unseres Einzuges begründet. Vermutlich war das auch der Grund, weshalb seit dem Freiwerden der Schmidt’schen Wohnung das ganze Haus eine einzige Baustelle war. Vollwärmeschutz hieß das Zauberwort, das mir die nächsten Monate den letzten Nerv rauben sollte und uns oft am Frühstückstisch das zweifelhafte Vergnügen eines winkenden Bauarbeiters auf dem Gerüst vor unserem Küchenfenster bescherte. Das war meist der gleiche Bauarbeiter, der Tessa zuvor beim Umziehen im Schlafzimmer begrüßt hatte. Zum ersten Mal war ich froh, dass unser Bad kein Fenster besaß. Kein Geld für hohe Mieten zu haben, hat manchmal auch Vorteile, man muss sie nur erkennen.
Jetzt aber galt es eine bezahlbare Bleibe zu finden, bei der sich Zins und Tilgung in akzeptablen Grenzen hielten und dennoch ausreichend Schulden anfielen, um die kommenden Jahre der Geldentwertung zu überstehen. An Schulden sollte es in München nicht mangeln, musste ich nach nochmaligem Studium der Wohnungsanzeigen feststellen. Insgesamt brächten Tessa und ich als Eigenanteil kaum zwanzig Prozent der ortsüblichen Wohnungspreise auf, vorausgesetzt, ihre Eltern würden einiges beisteuern. Über Renovierung, Hausgeld und Einrichtung dachte ich damals zum Glück noch gar nicht nach.
»Wollen Sie was, oder kann ich Feierabend machen?«, hörte ich plötzlich eine Stimme hinter mir. Erschrocken drehte ich mich um und war begeistert. Nicht von dem typischen Münchener Dienstleistungston, den kannte ich bereits aus meiner Behörde. Nein, von dem sicher erst achtzehnjährigen Mädchen in Top, Minirock und Springerstiefeln, das hier anscheinend bediente.
Ein gestammeltes »nen Kaffee bitte« später suchte ich krampfhaft nach einem unverbindlichen Thema, um mit ihr ins Gespräch zu kommen. Als sie mir aber den Kaffee mit einem barschen »drei Euro« hinknallte, fiel mir nichts Besseres ein, als sie nach dem Unterschied zwischen Käse- und Quarkkuchen zu fragen.
»Quark ist aus«, antwortete sie mit einem Gesichtsausdruck, der mich ahnen ließ, dass andere Männer schon mit originelleren Sprüchen gescheitert waren.
Von dem fahrig hingehaltenen Fünfeuroschein sah ich nichts mehr, ebenso wenig von der Bedienung selbst, egal wie oft ich die nächsten Wochen im Wiener Café vorbeischaute. Tessa glaubte mich derweil beim Kieser Training, fand aber angesichts meiner gleich bleibend undefinierten Oberarme, dass das rausgeschmissenes Geld wäre.
So richtig rausschmeißen konnte man sein Geld aber auch für Dachterrassen, hohe Decken, sanierten Altbau oder fünf Quadratmeter Rasenfläche zur freien Gartennutzung, wenn man schon im Souterrain wohnen wollte. Tessa wollte nicht, sie wollte ganz ins Grüne, am besten mit S-Bahnanschluss und Seenähe. Ja, das waren auch meine Bilder, wenn ich an all das dachte, was wir uns nicht leisten konnten. So schlug ich eine 65 qm Wohnung im vierten Stock ohne Aufzug vor.
»Die hat ja gar keinen Balkon«, waren Tessas erste Worte beim Besichtigungstermin.
»Davon stand auch nichts in der Anzeige«, versuchte ich diplomatisch zu sein, erntete aber ein genervtes Augenrollen und die Frage, wozu wir dann überhaupt hier wären.
Diese Frage hörte ich die nächsten Wochen mehrfach, schien ich doch von den elementarsten Ausstattungsmerkmalen einer Wohnung nicht die leiseste Ahnung zu haben. Mal war die Küche zu klein, dann wieder der Flur zu groß, das Bad ohne Wanne oder ungünstig geschnitten. Der Balkon ging nach Norden, das Schlafzimmer zur Straße raus, der Keller war zu schmal und die Waschküche zu weit weg. Kein Parkett ging ebenso wenig wie eine Wohnung im Erdgeschoss. Aber eine Innentreppe zum nächsten Stock fand Tessa todschick, auch wenn dank der Schrägen im Obergeschoss kein einziger Schrank Platz gefunden hätte.
»Wozu brauchen wir da oben Schränke«, fragte sie mit verzücktem Blick beim Durchschreiten der ersten Maisonette, die wir uns ansahen.
»Na, falls das Bett da hoch soll, wären Kleiderschränke vielleicht nicht unpraktisch.«
»Ach was, wenn wir die Sachen in den Flur hängen, ist das wie bei einem begehbaren Kleiderschrank.«
»Du meinst, auf dem Weg von der Treppe zum Bett hängen wir unsere Klamotten an die Wand?«
»Das kann doch originell aussehen. Natürlich müsste ich mir erstmal neue Sachen kaufen, wenn die dann jeder sehen kann.«
»Guter Plan. Wie wär’s mit neuen Schuhen, denn im Flur ist auch kein Platz für einen Schuhschrank.«
»Na siehst du Schatz, endlich verstehst du mich und ja, das ist eine fabelhafte Idee«, lachte Tessa, hakte sich bei mir unter und zog mich in das nächste Zimmer.
Ich blieb ihr kopfschüttelnd eine Antwort schuldig. Letztlich kam aber auch diese Wohnung nicht in Frage, als Tessa unterhalb des Küchenfensters einen Kinderspielplatz entdeckte und ahnte, dass es dann mit unserer Ruhe vorbei wäre.
»Ich dachte, du magst Kinder«, freute ich mich über ihre Entscheidung, doch Tessa winkte ab.
»Vermutlich nur die eigenen.«
Schweigend fuhren wir mit dem Bus zu unserer Mietbaustelle zurück und hingen unseren Gedanken nach. Woran Tessa dachte, wusste ich nicht. Mir jedoch gingen die immer deutlicheren Anzeichen für den Niedergang meiner gesicherten Existenz durch den Kopf. Heute Morgen noch hörte ich von den Plänen der EU, die nationale Bankenkontrolle der Europäischen Zentralbank zu übertragen und die Länderfinanzaufsichten abzuschaffen. Was nach Entbürokratisierung klang, waren genau die Schritte auf dem Weg zur Finanzdiktatur, vor der in meinen neuen Ratgeberbüchern gewarnt wurde. Das nächste wäre eine europäische Transfergemeinschaft, bei der Zahlerstaaten wie wir, die Bankrotteure der EU auffangen müssten. Ein Fass ohne Boden, aber anders könne Deutschland nicht pleite gehen. Das wiederum war die Voraussetzung für ein Niedriglohn-Europa im Wettbewerb mit Asien und ein wichtiger Schritt zur politischen Entmachtung der Nationalstaaten. Brüssel als die neue Hauptstadt Europas ohne lästige Widerstände nationaler Regierungen, Banken oder einzelner Völker. Ein Eldorado der Bürokratie und der ideale Weg, eigene Versorgungslücken zu schließen, sofern man Mitglied der Europabehörden wäre.
»Schatz, was hältst du von einem Häuschen im Grünen?«, unterbrach Tessa plötzlich den Mahlstrom meiner Gedanken.
»Eine Menge. Wieso? Hast du geerbt?«
»Red nicht. Natürlich kein Neubau. Aber so was Kleines, Schnuckliges mit Spitzdach, Garten und einem Wald, wo wir unseren Hund laufen lassen können.«
»Unseren Hund?«
»Na ja, irgendwer muss ja unser Haus bewachen, wenn wir im Geschäft sind«, lächelte sie mich an.
»Das würde dann unser Hund übernehmen?«
»Zumindest bis ich wegen Philipp und Marie zuhause bleibe.«
»Wer sind Philipp und Marie?«, fragte ich so laut, dass das uns gegenüber sitzende ältere Paar verwundert aufsah.
»Na, unsere Kinder, du Held, wenn wir da mal zu Potte kommen«, flüsterte sie und schmiegte sie sich an mich.
Haus, Hund und Kinder, drei weitere Sargnägel meiner Lebensplanung und sicher das Letzte, was ich mir im Augenblick wünschte.
»Habe ich das jetzt richtig verstanden? Wir kaufen uns demnächst ein Haus am Waldrand und gehen dort solange mit unserem Hund Gassi, bis wir zwei Kinder haben, die wir Philipp und Marie nennen? Und wie heißt der Hund?«
»Versuchst du komisch zu sein?«, schaute mich Tessa fragend an und wies, ohne meine Antwort abzuwarten, auf eine Werbeanzeige oberhalb unseres Sitzes:
Immobilienbüro Donnersberg
Wir machen Ihr Traumhaus wahr.
»Das ist doch die Idee, andere für uns suchen zu lassen.«
»Und dafür ein paar Tausend Euro Provision abzudrücken«, zeigte ich mich wenig begeistert von Tessas Vorschlag.
»Wer es warm haben will, muss heizen, hat mein Vater immer gesagt«, entschied Tessa für mich mit und notierte sich die Telefonnummer des Immobilienbüros.
»Vielleicht aber steht unsere eigene Wohnung bald zum Verkauf«, erinnerte ich mich an ein vorgestern belauschtes Gespräch zwischen Herrn Riebmann aus Parterre und dem Hausmeister.
»Die olle Bude? Wer will die denn?«
»Na, wenigstens könnten wir uns die eventuell leisten.«
»Du wolltest doch Schulden machen, je mehr desto besser. Was also spricht gegen ein Häuschen?«
»Vielleicht, dass wir uns nicht einmal eine Wohnung leisten können, egal wie viele Schulden wir machen?«
»Was bist du nur für ein Pessimist, Ben. Ich dachte, draußen auf dem Land ist die Welt für Familien noch in Ordnung?«
»Mag sein, doch in Zeiten wie diesen würde ich das mit den Kindern nicht überstürzen.«
»In Zeiten wie diesen?«, sah mich Tessa überrascht an. »Als meine Mutter kurz nach dem Krieg geboren wurde, musste meine Oma mit ihr und meinem Onkel vor den Russen fliehen. Das waren beschissene Zeiten.«
»Ja, klar, aber heute sind die nicht viel besser. Der Russe hockt mittlerweile hinter jeder dritten Wohnungstür, wenn nicht die halbe arabische Unterwelt das Haus besetzt hat.«
»Nur weil du ausländerfeindlich bist, soll ich auf Kinder verzichten?«
»Ich bin nicht ausländerfeindlich, nur inländerfreundlich. Denn auf unsere Kinder warten nicht nur unabzahlbare Staatsschulden, sondern auch die ganze gescheiterte Integrationsfantasterei der Alt-68er mit ihrem Multi-Kulti-Wahn.«
Der Herr mir gegenüber nickte leicht.
»Fängst du schon wieder an? Deine Panikmache nervt langsam. Wer erzählt eigentlich den Schwachsinn, dass wir demnächst pleite sind?«
»Das ist kein Schwachsinn, sondern bittere Realität, vor der ich unsere Kinder gerne bewahren würde.«
»Indem sie gar nicht erst geboren werden, tolle Logik.«
Erschöpft sah ich Tessa in die wütenden Augen und suchte nach einem Funken von Verständnis. Wieso nur stritten wir in letzter Zeit so oft? Natürlich hatte ich nichts gegen Kinder. Aber konnte ich mir diese Verantwortung aufladen? Jetzt, wo Europa zerbrach und kein Wirtschaftswunder wie in den 50er Jahren bevorstand? Ohne ein weiteres Wort gingen wir an diesem Abend früh zu Bett, wo ich erneut lange keinen Schlaf fand.