Читать книгу KLOSTER DER FINSTERNIS - Ralf Feldvoß - Страница 14
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ОглавлениеLondon
Mittwoch, 29. September
Trotz der Dringlichkeit der Angelegenheit fuhr Gorham zunächst nach Hause. Er wollte den Koffer, der ihn doch mehr behinderte, als er dachte, wegbringen und sich frische Sachen anziehen. Außerdem seine Post der letzten Tage durchsehen und vor Allem ein Bad nehmen.
Es war noch früher Vormittag, aber die Straßen waren so voll, wie immer. Genau wie in Paris, nur nicht so penetrant laut. Gorham fühlte sich wohl wieder in seiner Heimat zu sein.
Auf dem Flug hatte er sich die Akte Bouvois durchgelesen, wie er es vorgehabt hatte. Chavalier hatte ihn nochmals eindringlich gebeten sich wirklich zu melden, wenn er seine Hilfe brauche. Gorham hatte seine Zusage vom Vorabend wiederholt.
Die Akte Bouvois hielt allerdings keine nennenswerten Neuigkeiten für Gorham bereit. Nichts, was er nicht schon wusste. Der Todeszeitpunkt konnte von den Pathologen ziemlich genau auf Mitternacht eingegrenzt werden. Die Todesursache war die durchtrennte Kehle. Es gab keine Zeugen, nicht einen Einzigen. Das machte die Sache natürlich umso schwieriger, da dadurch selbst die kleinsten Anhaltspunkte verloren gingen.
Gorham stand vor seiner Haustür und öffnete diese. Er wohnte in einem kleinen Reihenhausgebiet, etwas außerhalb. Er brauchte seine Ruhe zu Hause, da wollte und konnte er nicht in der City wohnen. Außerdem war es günstiger und mit den öffentlichen Verkehrsmitteln war er dann doch meistens verhältnismäßig schnell an seinem gewünschten Ziel.
Ein Auto besaß er nicht. Gorham fuhr lieber Rad in der Freizeit, oder eben Bus und Bahn, wenn er beruflich unterwegs war.
Sein Haus stach etwas hervor im Vergleich zu den Nachbarhäusern. Er hatte sich erdreistet seine Haustür schwarz zu streichen, in seiner Lieblingsfarbe und mit einem großen D und M in weiß zu verzieren. Dies war ein Zeichen seiner Huldigung an seine Lieblingsband Depeche Mode.
Nachdem er Mantel und Sakko an die Garderobe gehangen und seinen Koffer ins Schlafzimmer gebracht hatte war dann auch sein erster Weg zu seiner Surroundanlage. Er schaltete sie ein wählte das Album Songs of faith and devotion und drehte die Lautstärke auf Maximum. Er hatte sein Haus soweit isolieren lassen, das die laute Musik niemanden in der Nachbarschaft stören konnte, weil nichts nach außen drang.
So konnte er auch ungestört und lauthals mitsingen, was die Nachbarn im Zweifel mehr gestört hätte, als die Musik an sich, denn Gorham konnte absolut keinen Ton treffen. Und das Schönste an seiner Anlage war, das er im Zuge der Isolierung sich gleich im ganzen Haus hat Lautsprecher einbauen lassen, so dass er, egal wo er sich aufhielt, überall die gleiche Lautstärke genießen konnte.
Er ging ins Bad, ließ heißes Wasser in die Wanne laufen, rasierte sich in der Zeit bis die Wanne voll genug war und legte sich dann hinein. Es war ein entspannendes Gefühl, als sich das heiße Wasser langsam um seinen Körper ausbreitete. Gorham schloss die Augen und genoss einfach diesen Moment der totalen Ruhe.
Nach einer Stunde stieg er aus der Wanne, zog sich an und machte sich etwas zu essen. Gorham saß in seiner Küche, das Album war mittlerweile zu Ende und das Haus völlig ruhig. Gedankenverloren blickte er aus dem Fenster auf die herbstliche Straße. Hier in England war von dem nahenden Herbst deutlich mehr zu spüren, als es in Hamburg, oder Paris der Fall gewesen war.
Er räumte Teller und Besteck in die Spüle, zog sich sein Sakko über und machte sich auf den Weg zur Polizei, um Informationen über den Mord an Roberto Borno in Erfahrung zu bringen. Hier in London war Gorham durchaus bekannter, als in anderen Städten. Der zuständige Kommissar in diesem Fall war Jack Myers, ein mürrischer Mensch von vierundfünfzig Jahren mit dem Hang alles besser zu wissen. Er machte auch keinen Halt vor höheren Instanzen. Bei Gorham jedoch war Myers friedlich. Woran das lag konnte keiner sagen.
Gorham fuhr mit dem Bus, die Akte Bouvois unter dem Arm. Alles hätte er sich nicht merken können, so wollte er diese Akte bei sich haben, um gegebenenfalls direkt nach Ähnlichkeiten Ausschau halten und Vergleiche ziehen zu können.
Nach einer Fahrt von einer knappen Stunde kam er an dem Kommissariat an, ging die Stufen zum Eingang hinauf und betrat die Dienststelle.
Der Beamte am Empfang begrüßte ihn freundlich. Gorham trug sein Anliegen vor, woraufhin der Beamte telefonierte, um Kommissar Myers Bescheid zu geben.
„Er kommt sofort Agent Gorham.“
Gorham nahm auf einem der Stühle im Wartebereich Platz und nahm sich eine Zeitung, die dort auf dem kleinen alten Beistelltisch stand. Es war die Times. Er suchte nach einem Artikel über den Fall in Hamburg, fand aber nichts.
Nach ein paar Minuten kam Myers und holte Gorham in sein Büro. „Andrew! Schön dich zu sehen. Was kann ich für dich tun? Was führt dich hierher?“ Myers ließ sich in seinen Sessel fallen und zündete sich eine Zigarre an. Gorham war der Einzige den Myers duzte, alle anderen, mit denen der Kommissar beruflich zu tun hatte, wurden von ihm gesiezt. Allerdings erwiderte Gorham dies nicht.
„Ich bin hier wegen dem Mordfall an diesem Borno. Ich würde gerne mehr in Erfahrung bringen, als die wenigen Details, die bislang an die Öffentlichkeit gedrungen sind.“
„Und wie kommt es dazu?“ Myers war von Natur aus ein misstrauischer Mensch und vermutete hinter allem eine Machenschaft gegen seine Person. So war jetzt auch diese Nachfrage zu verstehen, da war sich Gorham sicher.
„Ich bin von einem entfernten Bekannten darauf aufmerksam gemacht worden. Und da habe ich mich entschieden, mich um den Fall zu kümmern. Allerdings kann ich meine Quelle nicht nennen. Eine offizielle Anfrage bei meinen Vorgesetzten habe ich auch schon gestellt, da sollte ich heute Bescheid bekommen.“
„Aha, eine unbekannte Quelle. Naja, wie du meinst. Ich hole dir die Akte. Warte einen Moment hier, ich bin gleich wieder da.“ Mit diesen Worten verschwand Myers aus seinem Büro. Seine Zigarre qualmte im Aschenbecher vor sich hin. Gorham versuchte mühselig den Rauch beiseite zu wedeln, machte es damit aber eigentlich nur noch schlimmer.
Nach wenigen Minuten kam Myers mit der Akte Borno zurück und legte sie vor Gorham auf den Tisch. „Du kannst ins Vernehmungszimmer drei gehen, da ist gerade frei und du hast deine Ruhe.“
„Danke.“ Gorham griff nach der Akte, die für sein Empfinden erstaunlich dünn war und klemmte sie sich unter den Arm.
Er schritt auf den Gang hinaus und ging in Richtung der Vernehmungszimmer. Nummer drei war der kleinste, aber für ihn alleine absolut ausreichend. Die Isolierung der Vernehmungszimmer brachte ihm auch die notwendige Ruhe, um sich mit den Fakten zu beschäftigen ohne ständig durch irgendwelches Gebrüll der Insassen gestört zu werden.
Gorham setzte sich, legte die Akte Borno auf den Tisch vor sich, holte aus seiner Aktentasche die Kopie der Akte Bouvois heraus und legte diese daneben.
Zunächst wollte er sich aber mit Borno und den Umständen seines Ablebens beschäftigen bevor er daran ging nach Gemeinsamkeiten zu suchen zwischen den beiden Fällen aus Paris und London.
Er hing sein Sakko über die Stuhllehne und begann zu lesen. Es war warm hier drinnen. Es dauerte nicht lange und Gorham langte zu dem Mikrofon und bat um ein Glas Wasser, welches ihm von einem Beamten kurz darauf gebracht wurde.
Der Fall Borno gestaltete sich völlig anders, als der von Mademoiselle Bouvois. Zumindest auf den ersten Blick. Die bisherigen Recherchen haben aufgedeckt, dass Borno am Abend des 18. September sich in der Nähe der St. Pauls Kathedrale aufgehalten hatte. Allerdings konnte niemand sagen warum. Sein Bezirk grenzte zwar hieran, aber der Bereich um die Kathedrale herum gehörte nicht dazu.
Ein Treffen mit Unterhändlern oder „Kollegen“ schien es auch nicht gegeben zu haben. Jedenfalls haben alle relevanten Personen dies verneint.
Zuletzt gesehen wurde er in einem „seiner“ Restaurants, welches mit den Raten relativ weit im Rückstand war. Hier kam der Verdacht auf, dass dort eventuell ein möglicher Täter gesucht werden könnte. Doch diese Spur erwies sich als haltlos, da alle Bediensteten und auch der Chef wasserdichte Alibis hatten, was auch die wenigen Gäste des Abends, die ausfindig gemacht werden konnten, als auch die Familien bestätigen konnten.
Zeugen gab es ein paar. Wenigstens in diesem Punkt hatte London im Vergleich zu Paris einen kleinen Vorteil. Doch diese Personen verstrickten sich in Widersprüche. Als man denen Fotos von Roberto Borno zeigte gab es welche dabei, die ihn sofort und ohne Zweifel identifizierten. Andere hingegen waren sich sehr unsicher. Und ein Pärchen sagte, dass sie zwar jemanden zur fraglichen Zeit an diesem Samstagabend dort gesehen hätten, dieser jemand jedoch völlig anders ausgesehen habe. Leider fehlte in der Akte die Personenbeschreibung dieses Unbekannten.
Gorham nahm sich vor dieses Pärchen aufzusuchen und den Punkt zu hinterfragen, um an eine Beschreibung zu gelangen. Warum die Polizei dies nicht weiter verfolgt hatte blieb ihm unverständlich, denn wenn es dort eine zweite Person nahezu zum selben Zeitpunkt gegeben hat, dann könnte es sich hier durchaus um den Täter handeln.
Das Weitere in der Akte beschäftigte sich mit dem Tatort, der Krypta der Kathedrale. Es waren sehr genaue Details, die für Gorham den Tatort sehr bildhaft darstellten und er das Gefühl bekam selber dort gewesen zu sein. Sicherlich auch bedingt dadurch, dass er selber schon einige Male dort unten Führungen mitgemacht hatte.
Er machte sich fleißig Notizen, die er dann zu Hause mit dem Fall Bouvois vergleichen wollte. Er hatte keine Lust noch länger in diesem sterilen und kalten Raum zu sitzen. Zu Hause konnte er sich mit Sicherheit erheblich besser konzentrieren, wenn er seine Musik im Hintergrund hörte. Das war schon zu Schulzeiten so gewesen, was seine Eltern, besonders seine Mutter, nie verstehen konnten.
Er packte seine Notizen zum Fall Borno und die Akte Bouvois in seine Tasche, nahm die Akte Borno in die Hand und ging zurück zum Büro von Kommissar Myers.
Er klopfte. „Herein!“, schallte die kratzige Stimme des Kommissars von drinnen. Gorham öffnete die Tür und trat ein. „Ich wollte die Akte zurück bringen und höflich anfragen, ob ich eine Kopie erhalten kann“, brachte Gorham sogleich sein Anliegen vor.
„Ich weiß nicht“, antwortete Myers. „Ich denke so lange ich keine offizielle Bestätigung seitens der EUSC habe möchte ich das nicht. Nicht das ich hinterher irgendwelche Schwierigkeiten deswegen bekomme, du verstehst?“
Gorham nickte zur Antwort. Er hatte nichts anderes erwartet von diesem eingebildeten Menschen.
„Nun gut, dann gehe ich davon aus, dass ich mir die Kopie morgen abholen werde. Guten Tag noch.“
Gorham schloss die Tür, in dessen Rahmen er die ganze Zeit gestanden hatte. Die Akte legte er auf einen Besucherstuhl gleich neben der Tür.
Wieder zu Hause machte sich Gorham gleich an die Arbeit seine Vergleiche zwischen den beiden Fällen zu ziehen. Er setzte sich an seinen Schreibtisch nachdem er zunächst für etwas Musik gesorgt hatte. Er holte die Akte aus Paris und die Notizen aus seiner Tasche und begann damit, dass er versuchte beide Fälle in eine etwaige zeitliche Reihenfolge zu bringen. Das war nicht so leicht, wenigstens nicht in Bezug auf Paris, da es hier überhaupt keine Zeugen gab. So konnte man sich nur an den wenigen Fakten orientieren. Gorham hatte den Vorteil, dass er lange mit Chavalier gesprochen hatte mit dem Gefühl, dass sein alter Freund ihm gegenüber vielleicht etwas mehr verraten hat, als er es bei der Polizei getan hatte.
In diesem Moment piepste sein Faxgerät. Seine offizielle Bestätigung von der EUSC, dass er nun den Fall übernehmen konnte, flatterte heraus. Prima, dann kann Myers mir jetzt nicht mehr dumm kommen, ging es ihm durch den Kopf während er das Blatt sauber zweimal faltete und in einer der Innentaschen seines Sakkos verschwinden ließ.
Morgen früh würde Gorham zu Myers gehen, sich eine Kopie der Akte geben lassen, als auch die Namen des Pärchens, die überzeugt waren, jemand anderen gesehen zu haben.
Er schaute auf die Uhr – halb acht durch. Feierabend für heute, beschloss Gorham. Ab morgen hatte er uneingeschränkten Zugang zu sämtlichen Informationen, die er benötigte und das würde er natürlich auch ausnutzen.