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Effata

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Ralf Lothar Knop


Akbash


Roman



Für Catherina, Verena, Simon und Roman



DCLXVI

Sescenti Sexaginta Sex



Du bist würdig, das Buch zu nehmen

und seine Siegel aufzubrechen,

denn du wurdest als Opfer geschlachtet!

Offb 5,9


Nachdem Akbash am Vormittag zwei Stunden lang auf dem Polizeiposten von Bad Herrenalb vernommen worden war, saß er zunächst eine Weile im Kurpark, bevor er über den Rehteichweg und den Pfahlwaldweg nach Bernbach wanderte und dort weiter bis in die Talblickstraße, wo er eine kleine Wohnung hatte, die ihm einen wunderbaren Blick auf den Schwarzwald erlaubte. Er war froh, als er endlich wieder alleine in seinem Wohnzimmer saß.

Die Polizeibeamten waren sehr freundlich gewesen, trotzdem war Akbash vollkommen verstört, weil er noch nie mit der Polizei zu tun hatte und weil es für ihn unfassbar war, dass Radulf nicht mehr lebte und noch unfassbarer war es für ihn, dass die Polizei ihn, seinen besten Freund, für seinen Mörder hielt.

Sie waren sehr gute Freunde und sie hatten gemeinsam eine neue Gruppe gegründet, die sie Effata nannten. Sie wollten das Leben miteinander teilen und das konnte nur gelingen, wenn sie bedingungslos ehrlich zueinander waren und keinerlei Geheimnisse voreinander hatten.

Effata sollte offen sein für alle Menschen, die bereit waren, sich vollkommen zu öffnen, unabhängig ob Mann oder Frau und was noch viel wichtiger war, sowohl die religiöse als auch die politische Überzeugung sollte keinerlei Rolle spielen; genauer gesagt, jeder durfte seine religiöse und seine politische Überzeugung frei äußern, ohne dass irgendjemand versuchte, ihn in irgendeiner Weise darin zu beeinflussen. Dieses Grundprinzip des gegenseitigen Respekts, davon waren Radulf und Akbash fest überzeugt, würde nicht nur dazu führen, dass schließlich alle Mitglieder der Gruppe in bedingungsloser Liebe miteinander verbunden wären, sondern diese Liebe würde auch weit über die Gruppe hinaus fruchtbar werden.

Radulf war von Anfang an derjenige, der die geistigen Grundlagen für diese Gruppe schuf. Solange wir unser Innerstes verschlossen halten, sagte er immer wieder, werden wir allmählich immer mehr vertrocknen und das Leben geht an uns vorbei. Nur wenn wir unser Leben mit unseren Mitmenschen teilen, können wir wirklich glücklich werden. Diese Welt ist kein Jammertal, in dem es für uns nur Not und Leid gibt. Als erstes schrieb Radulf eine Präambel für Effata:

Ich nehme mich an. Ich nehme mich in die Hand. Alles an mir darf so sein, wie es ist.

Ich versuche dankbar zu sein für mich und für mein Leben, für meine Begabung und für meine Begrenzung, für meine Fähigkeiten und für meine Schwächen. Ich bin so wie ich bin und dafür bin ich dankbar.

Des Lebens heilende Gegenwart hüllt mich ein. In ihr finde ich Frieden und Erfüllung. Ich bin voller Dankbarkeit, weil ich wertvoll bin, weil ich ein einmaliger und einzigartiger Mensch bin.

Vor jedem Gruppentreffen wurde diese Präambel verlesen, genauso wie die zwölf Weisen der Effata, die Radulf ebenfalls verfasst hatte.

1 Wir alle sind geschaffen durch die Sehnsucht des Lebens nach sich selbst und deshalb dürfen wir geschwisterlich miteinander umgehen als Schwestern und Brüder, die sich gegenseitig den Durst des Lebens nach sich selbst stillen.

2 Wir dürfen einander dasselbe gütige Vertrauen schenken, das das Leben in uns hat.

3 Wir dürfen darauf vertrauen, dass wir liebenswerte Menschen sind, so wie das Leben uns geschaffen hat.

4 Wir dürfen uns gegenseitig als Kinder annehmen, die noch nicht fertig sind, aber voller Hoffnung, die noch nicht vollkommen sind, aber doch wahr und lebendig.

5 Wir dürfen uns gegenseitig ein Ort der Geborgenheit sein.

6 Wir dürfen in unserer Seele alles gelten lassen, was leben möchte, auch dann, wenn es noch nicht fertig, klein, unausgebildet und unreif ist.

7 Wir dürfen darauf vertrauen, dass wir das Recht besitzen, so zu existieren, wie das Leben uns geschaffen hat.

8 Wir dürfen die verborgene Größe erkennen in dem, was uns oft so klein vorkommt und wir dürfen in allem den Willen des Lebens annehmen.

9 Wir dürfen unser Leben als einen Weinberg betrachten, dessen Früchte zur Vollendung heranreifen und die der Verherrlichung des Lebens dienen.

10 Wir dürfen die Worte, die wir miteinander tauschen, so sanft sein lassen wie der Sommerwind.

11 Wir dürfen unsere Augen so warm und hell scheinen lassen wie die Sonne am Himmel.

12 Wir dürfen das Tun unserer Hände so befruchtend sein lassen wie der Morgenregen und so erfrischend wie der Tau auf den Blättern,

In jeder Woche setzte Radulf eine Einladung zu dieser Gruppe in die Zeitung, aber es kam monatelang niemand hinzu, sodass Radulf und Akbash alleine in der Wohnung von Akbash saßen. Nicht dass sie sich gelangweilt hätten, im Gegenteil, ihre Gespräche waren jede Woche spannend und aufregend und sie waren glücklich, dass sie sich gefunden hatten.

Manchmal kam jemand ein- oder zweimal, blieb dann aber wieder fort. Erst nach einem halben Jahr stieß Miriam zu ihnen und kam dann auch jede Woche wieder. Miriam war eine korpulente Frau mit langem schwarzen Haar, und sie war immer ganz in schwarz gekleidet, schwarzer Pullover, schwarze Hose und schwarze Schuhe, manchmal auch hohe schwarze Stiefel. Miriam war fünf Jahre älter als Radulf und Akbash, die beide genau gleich alt waren.

Radulf wollte einen Artikel schreiben über „1200 Jahre Dorfgeschichte – Au am Rhein“; nachdem er einige Interviews im Rathaus und mit einigen Bürgern, die er auf der Straße traf, geführt hatte, fuhr er noch zum Rhein, um dort ein wenig spazieren zu gehen. Als er Miriam das erste Mal sah, stand sie dort am Ufer des Rheins und starrte in die Ferne. Aus irgendeinem Grund fühlte sich Radulf von ihr angezogen, stellte sich neben sie und schaute ebenfalls in die Ferne. Es dauerte sehr lange bis Miriam sagte:

Was willst du?

Leben!

Miriam drehte sich zu ihm hin und schaute ihn an, Tränen liefen über ihre Wangen. Radulf legte seine Arme um sie, doch Miriam war zu schwach, diese Umarmung zu erwidern; ihre Arme hingen kraftlos herunter und ihre Tränen liefen nun, als sei ein Staudamm gebrochen. Dabei gab sie keinen Laut von sich, es herrschte vollkommene Stille, Totenstille, selbst die Zeit war gestorben. So hätte keiner von beiden sagen können, wie lange sie dort standen, bis Radulf sagte:

Es wird kalt, wollen wir nicht irgendwo einen heißen Tee trinken und uns ein wenig unterhalten?

Wir können zu mir gehen, ich wohne in Au in der Kapellenstraße, aber ich habe nur grünen Tee.

Gemeinsam gingen sie zurück zum Parkplatz, Miriam fuhr mit ihrem Auto voraus und Radulf fuhr hinterher. Sie hatte eine schöne kleine Einliegerwohnung in der Kapellenstraße in Au am Rhein, nur wenige Minuten vom Rhein entfernt. Miriam machte einen Tee und dann saßen sich beide einander gegenüber. Wieder herrschte vollkommene Stille bis Miriam anfing zu sprechen, leise, ganz leise, damit niemand sie hören konnte.

Ich hatte eine kleine Tochter, sie hieß Annelie und sie ist mit fünf Jahren an Leukämie gestorben. Tagelang saß ich an ihrem Bett und schließlich, an ihrem letzten Tag, schaute sie mich an und fragte: „Mama, muss ich sterben?“ und ich antwortete: „Aber nein, mein Engelchen, was redest du denn da. Du wirst nicht sterben, du wirst wieder gesund, dann kannst du wieder mit deinen Freundinnen spielen und nächstes Jahr kommst du in die Schule.“

Annelie schaute mich mit einem traurigen Blick an, sie wusste, dass ich gelogen hatte. Erst später, zu spät, begriff ich, was da in meinem kleinen Engel vor sich ging. Sie hatte keine Angst vor dem Tod, sie hatte keine Angst, weil sie nie mehr mit ihren Freundinnen spielen würde und sie war nicht traurig, dass sie nie erfahren würde, wie es ist, in die Schule zu gehen. Sie wollte sich von ihrer Mama verabschieden, aber das ging ja jetzt nicht mehr, weil sie merkte, dass sie ihrer Mama damit sehr weh getan hätte.

Annelie war ein sehr braves Mädchen, sie liebte ihre Mama und sie tat immer alles so, wie ihre Mama es wollte, damit auch ihre Mama sie lieb hatte. Aber warum log ihre Mama sie dann jetzt an, hatte sie Annelie denn nicht mehr lieb? Warum nahm sie Annelie denn nicht in die Arme und sagte, dass alle Engel in den Himmel kommen und dass es dort sehr schön sein wird? Das erste Mal in ihrem Leben konnte sie den Wunsch ihrer Mama nicht erfüllen und deshalb hatte ihre Mama sie nicht mehr lieb, weil sie kein braves Mädchen mehr war.

Aber was sollte ich denn jetzt machen, ich konnte ihr doch nicht sagen, dass sie wohl doch sterben würde. Das ging einfach über meine Kräfte. Annelie wurde immer blasser und sie schlief immer häufiger ein. Noch am selben Abend ist sie gestorben. Ich habe sie lange in meinen Armen gehalten und habe immer wieder gesagt: „Bitte verzeih mir, bitte verzeih mir, mein kleiner Engel.“

Nach Annelies Tod hat Miriam nie wieder gesprochen, in ihrer Firma hatte man zunächst Verständnis für sie, doch nach einer Weile ließ man sie einfach vollkommen unbeachtet. Ihr Mann akzeptierte ihr Verhalten am Anfang als ihre Form der Trauer, doch nach einigen Monaten bat er sie, einen Therapeuten aufzusuchen. Nach einem Jahr war diese Situation für ihn nicht länger erträglich; er suchte sich eine andere Wohnung und ließ sich scheiden. Das war vor fünf Jahren.

Niemand hätte sagen können, was es wirklich war, das Miriams Zunge bei der Begegnung mit Radulf gelöst hatte. Aber nun saßen sie sich gegenüber, Miriams Tränen waren getrocknet und in ihrem Gesicht zeigte sich ein schwaches Lächeln, das die Peinlichkeit ihrer Beichte mildern sollte.

Von Anfang an herrschte zwischen Akbash, Radulf und Miriam ein so harmonisches Verhältnis als würden sie sich seit ewigen Zeiten kennen, auch in ihren politischen und religiösen Ansichten herrschte eine Übereinstimmung, die keiner von ihnen für möglich gehalten hätte. Natürlich waren alle drei enttäuscht, dass die Gruppe einfach nicht wachsen wollte, dass niemand Interesse an dieser Gruppe hatte, obwohl Radulf inzwischen sowohl die Präambel als auch die zwölf Weisen in der Presse veröffentlicht hatte. Aber mit der Zeit waren die drei so glücklich miteinander, dass sie sich vollkommen genügten und nicht mehr das Verlangen hatten, dass noch jemand zur Gruppe hinzustoße. Im Gegenteil, Radulf veröffentlichte die Termine der Gruppentreffen nicht mehr, da er befürchtete, ihr Dreierbündnis könnte durch eine weitere Person in seinem Zusammenhalt gestört werden.

Radulfs Vater, Ferdinand, wurde im Alter von zwanzig Jahren bei einem Fluchtversuch aus der DDR so schwer angeschossen, dass es Stunden dauerte, alle Kugeln aus seinem Körper zu entfernen. Nach seiner Genesung, er war für den Rest seines Lebens gehbehindert, kam er nach Hohenschönhausen, wo er die nächsten fünf Jahre verbringen sollte. Täglich holte man ihn aus seiner Zelle zum Verhör; wenn ein anderer Gefangener ihnen entgegen kam, musste er mit dem Gesicht zur Wand stehen bleiben, bis der andere Gefangene an ihnen vorbei war.

Der SED Funktionär wollte ihm einfach nicht glauben, dass Ferdinand seinen Fluchtversuch alleine geplant hatte und dass es keine Mitwisser gab. Was Ferdinand natürlich nicht wusste, war, dass er während der Verhöre mit Röntgenstrahlen bestrahlt wurde, von einem Gerät, das hinter einem Paravent versteckt war. Bei den Verhören saß Ferdinand auf einem Stuhl, dessen „Sitzfläche“ aus lauter spitzen Holzpyramiden bestand, die sich im Laufe des Verhörs immer tiefer in sein Fleisch hineinbohrten.

Eines Tages wurden die Schmerzen, die diese Spitzen verursachten, so unerträglich, dass Ferdinand aufsprang, über den Schreibtisch langte und dem Offizier eine Ohrfeige verpasste. Ferdinand wurde sofort abgeführt, aber er kam nicht in seine Zelle zurück, sondern er verbrachte die nächsten zwei Tage in einer etwa vier Quadratmeter großen Zelle ohne jegliche Einrichtung und ohne Fenster, der Fußboden war etwa zehn Zentimeter hoch mit Wasser bedeckt, sodass Ferdinand sich nicht einmal auf den Fußboden legen konnte. Abwechselnd mit der Stirn oder dem Rücken gegen die Wand gelehnt verbrachte Ferdinand die Zeit, bis er vor Erschöpfung auf die Knie sank und für ein paar Minuten einschlief.

Nach diesen zwei Tagen war Ferdinand physisch und psychisch so am Ende, dass er im nächsten Verhör alles gestand, was man hören wollte. Er hat von sich aus keine Namen genannt, sondern lediglich die Namen als Mittäter bestätigt, die ihm von dem Funktionär genannt wurden, die meisten davon kannte er nicht einmal. Da er nun in vollem Umfang geständig war, wurde er bereits nach fünf Jahren aus Hohenschönhausen entlassen.

Nach seiner Entlassung lernte Ferdinand die spätere Mutter von Radulf, Friederike, kennen, 1985 wurde Radulf geboren und nach dem Fall der Mauer zog die Familie nach Bad Herrenalb in den Westen. Als Radulf alt genug war, erzählte sein Vater ihm von seinen Erlebnissen in Hohenschönhausen und bat ihn, das niemals zu vergessen und immer auf der Seite der Freiheit zu stehen und sich stets für die Menschen einzusetzen. 2005 starb Radulfs Vater an den Spätfolgen der Folter in Hohenschönhausen.

Durch die Erzählungen seines Vaters war Radulf so beeindruckt, dass er sich schwor, niemals einem anderen Menschen irgendeinen Schaden zuzufügen, mehr noch, er wollte einen kleinen bescheidenen Beitrag zum Wohle der Menschen leisten und er war überzeugt davon, dass man den Hass dieser Welt überlieben könnte.


Akbash

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