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Vertrauen

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In den nächsten Tagen hat Radulf täglich mindestens zehn Stunden geschlafen, wenn er wach war, verfiel er in eine depressive Stimmung, er hatte das Gefühl, vollkommen gelähmt zu sein, deshalb ließ er sich wegen angeblicher Magen-Darm Probleme einige Tage krankschreiben.

Wohin soll ich mich wenden, wenn Gram und Schmerz mich drücken?

Wem künd‘ ich mein Entzücken, wenn freudig pocht mein Herz?

Zum ersten Mal wurde ihm bewusst, dass er keine Freunde hatte; Familie, Bekannte, Kollegen, aber keine wirklichen Freunde, mit denen er sich austauschen konnte, bei denen er sicher sein konnte, dass sie seine intimsten Probleme auch wirklich für sich behielten und sie nicht schon am nächsten Tag weiter erzählten.

Ein Kollege hatte ihm mal erzählt, dass er einen Freund habe, dem er nicht nur alles erzählen könne, der nicht nur alles für sich behielt, sondern der ihm auch in jeder Notsituation so sehr helfen würde, dass er nach jedem Gespräch mit ihm deutlich spürte, wie erleichtert er anschließend war. Dieser Freund sei absolut vertrauenswürdig und auch Radulf könne sich an ihn wenden, denn er sei für alle Menschen da; sein Name sei Jesus und dieser Jesus sei Gottes Sohn, er habe alle Schuld auf sich geladen und er sei für die Sünden aller Menschen gestorben, aber drei Tage nach seinem Tod sei er wieder von den Toten auferstanden und zu seinem Vater im Himmel aufgefahren. Bis zu seiner Wiederkehr habe er den Menschen Gottes Heiligen Geist geschickt und dieser Heilige Geist bewahre die Menschen, die an ihn glauben, vor allem Übel in der Welt.

Radulfs Eltern waren in der DDR aufgewachsen und hatten keinerlei Kontakt zu irgendwelchen religiösen Kreisen gehabt, deshalb hatte in seiner Familie auch das Thema „Gott“ fast nie eine Rolle gespielt. Wenn dieses Wort überhaupt fiel, dann wurde auch sofort versichert, dass es sich dabei nur um ein Instrument der Mächtigen handle, um das Volk auf den Sankt Nimmerleinstag zu vertrösten, damit sie ihre berechtigten Interessen gegenüber ihren Ausbeutern nicht erkennen oder gar gewaltsam durchsetzen würden.

Diese Gedanken hatten sich so sehr in Radulfs Kopf festgesetzt, dass er seinen Kollegen bat, ihn doch mit diesen dummen Faseleien in Ruhe zu lassen, für ihn sei das alles gequirlte Scheiße. Er war kein Sünder, was war das überhaupt für ein unsinniger Begriff, was sollte das denn bedeuten? Radulf war ein Mensch und Menschen machen Fehler, Menschen dürfen Fehler machen; jeder Mensch hat Fähigkeiten und Schwächen, Begabungen und Begrenzungen, aber das alles hat absolut nichts mit Schuld oder Sünde zu tun. Und schon gar nicht wollte Radulf, dass irgendein Mensch für ihn stirbt; er wollte leben und glücklich sein und er glaubte, dass alle Menschen das Recht haben, glücklich zu sein.

Andererseits spürte er, dass ihm im Moment etwas fehlte, das ihm Halt geben konnte, irgendein Mantra, ein Ritual, das ihm Ruhe und Zufriedenheit gegeben hätte. Deshalb beschäftigte er sich in den nächsten Wochen mit dem Buddhismus, dem Judentum, dem Christentum und dem Islam. Überall fand er Dinge, die ihn begeisterten und überall fand er Dinge, die ihn abstießen. Alle drei westlichen Religionen behaupteten zum Beispiel, dass es nur einen einzigen Gott gebe und dass ihr Gott der einzig wahre sei. Diese beiden Aussagen passten jedoch nicht zusammen, sie schlossen sich sogar gegenseitig aus; wenn es nur einen einzigen Gott gibt, was ja alle drei Religionen behaupteten, dann folgte zwangsläufig daraus, dass alle Religionen an ein und denselben Gott glauben und zu ein und demselben Gott beten. Es waren nach Meinung von Radulf also nicht die Religionen, die so viel Elend über die Menschen gebracht hatten, sondern es waren deren Institutionen, deren von Menschen festgelegten Ideologien.

Radulf wollte etwas Neues schaffen, etwas, das den Menschen keinerlei Vorschriften machte und ihnen keine Bedingungen stellte, wie das in allen Religionen der Fall war; nur wenn man ganz bestimmte Bedingungen erfüllte, nur wenn man exakt das glaubte, was einige wenige Männer festgelegt hatten, durfte man zu der jeweiligen Gemeinschaft gehören. Das war ein weiterer wichtiger Punkt, in allen Religionen waren es Männer, die über alles bestimmten, in allen Religionen waren die Frauen Wesen zweiter Klasse, im Judentum und im Islam waren sie beim Gebet sogar räumlich voneinander getrennt.

Im Islam glaubten die Männer, über die Frauen bestimmen zu können und gleichzeitig waren sie doch so schwach und ängstlich, dass sie ihre Frauen verhüllten, damit ihre Reize nicht von anderen Männern gesehen wurden. Sie vertrauen also weder anderen Männern noch ihren eigenen Frauen, die sie als persönlichen Besitz betrachten, über den sie wie über ein Objekt verfügen können. Nur aus dieser angemaßten Vormachtstellung gewinnen sie ihr Selbstbewusstsein, doch mit Selbstsicherheit hatte das überhaupt nichts zu tun, im Gegenteil, ihre Sicherheit war ständig bedroht.

Aber auch im Christentum sind die Frauen nicht mit den Männern gleichberechtigt. „Die Frau schweige in der Gemeinde“ heißt es da in ihrem heiligen Buch und sie „sollen sich unterordnen“ und „wenn sie etwas wissen wollen, sollen sie zu Hause ihren Ehemann fragen“. Auch hier ist es ausschließlich der Mann, der über alles bestimmen kann und dem sich die Frau unterzuordnen hat. In dieser Frage gab es also so gut wie keinen Unterschied zwischen den Religionen.

Gleichzeitig spielte angeblich die Liebe eine große Rolle in diesen Religionen, aber was war denn das für eine Liebe? In dem Verhältnis zwischen Mann und Frau ging es doch wohl eher um Befehl und Gehorsam, wie beim Militär. Liebe kann ja niemals in einem solchen Verhältnis gedeihen, zur Liebe gehört jedenfalls wesentlich mehr. Da fand Radulf seine Vorstellungen doch eher bei einem so sensitiven Geist wie Heinrich von Kleist:

Vertrauen und Achtung, das sind die beiden unzertrennlichen Grundpfeiler der Liebe, ohne welche sie nicht bestehen kann, denn ohne Achtung hat die Liebe keinen Wert und ohne Vertrauen keine Freude.

Doch so sensitive Geister wie Heinrich von Kleist finden keine Anerkennung in der Gesellschaft, selbst Goethe äußerte Verwunderung und Unverständnis über Penthesilea, eines von Kleists großen Werken. Durch das Unverständnis, das mit dem Aufführungsverbot eines anderen Werkes, Prinz Friedrich von Homburg, verbunden ist, fühlt Kleist sich so „wund“, dass erste Suizidgedanken in ihm auftauchen. Mit gerade einmal vierunddreißig Jahren teilt Heinrich von Kleist dann seiner Schwester mit, dass ihm „auf Erden nicht zu helfen war“ und dass er mit „Freude“ und „Heiterkeit“ in den Tod geht, begleitet von Henriette Vogel, deren Körper von einem Karzinom so zerfressen ist wie die Seele von Heinrich von Kleist.

Doch Radulf wollte es nicht wahr haben, dass Liebe erst im Tod möglich sein sollte, nein, er war fest davon überzeugt, dass die Menschen zu Liebe, Vertrauen und Achtung fähig waren. Der erste Schritt auf diesem Weg musste seiner Meinung nach darin bestehen, dass die Menschen aufhörten, sich gegenseitig Vorschriften zu machen. Doch wie konnte das erreicht werden?

Radulf war der Überzeugung, dass die Angst der Grund für dieses unwürdige Verhalten der Menschen sei, zunächst einmal die Angst, eigene Wünsche und Bedürfnisse bedingungslos zu verwirklichen, und um sich das selbst nicht eingestehen zu müssen, hatten die Menschen so scheinheilige Begründungen wie: das tut man nicht, wenn das jeder machen wollte, das ist verboten, das ist Sünde. Dann stellten sie aber fest, dass andere Menschen durchaus ihre Bedürfnisse befriedigten, Bedürfnisse, die sie ja selbst auch hatten, aber nicht trauten sie zu denken, sie auszusprechen, geschweige denn zu verwirklichen. Wenn sie selbst es nicht durften, dann sollten es aber bitte schön auch die anderen nicht dürfen, das ist schließlich nur gerecht.

Auf diese Weise entsteht die nächste Angst, nämlich die Angst, zu kurz zu kommen, im Mangel zu leben, also ein mangelhaftes Leben zu führen. Diese Angst ist so unerträglich, dass die Menschen im öffentlichen und im privaten Raum einen riesigen Katalog von moralischen und ethischen Vorschriften schaffen und damit diese Vorschriften auch eingehalten werden, ergänzen sie diesen Katalog gleich noch durch einen zweiten, der für die Nichteinhaltung einer Vorschrift auch gleich entsprechende Strafen und Sanktionen enthält.

Die Menschen verfehlen ihren Weg nach Glück und Liebe, indem sie sich selbst Vorschriften machen, die diesen Weg versperren und statt zu erkennen, dass ihr Unglück von ihnen selbst verursacht wird, suchen sie die Ursachen in Äußerlichkeiten, die sie nicht beeinflussen können. Es sind immer andere Menschen und fremde Dinge, die scheinbar ihr Unglück verursachen. Dabei ist die Lösung doch so einfach.

Das Zauberwort heißt „Zufriedenheit“. Zufriedenheit ist vollkommen unabhängig von anderen Menschen und Dingen, also absolut unabhängig von Äußerlichkeiten. Zufriedenheit ist eine innere Einstellung zum Leben, die besagt, ich bin ein liebenswerter Mensch, ich bin berechtigt, ich bin ein guter Mensch, ohne mich würde die Welt im Mangel leben, sie wäre mangelhaft.

Wenn die Menschen auf diese Weise mit sich selbst zufrieden sind, dann brauchen sie auch nicht mehr die anderen Menschen zu fürchten; sie sehen vielmehr einen Spiegel im anderen Menschen, der ihnen zeigt, was ihnen auf ihrem Weg zu Glück und Liebe noch fehlt, dann können sie miteinander wetteifern, aber nicht mehr als Konkurrenten, sondern als Partner, die sich gegenseitig bereichern.

Du willst für deine Liebe ja nichts als wieder Lieb‘ allein;

und Liebe, dankerfüllte Liebe soll meines Lebens Wonne sein, soll meines Lebens Wonne sein.

Zufriedenheit mit sich und dem eigenen Leben führen zu Liebe, Vertrauen und Achtung, bedingungsloser Liebe, die den Anderen nicht kritisiert und vor allem ihn nicht verändern will, die den Anderen genauso bedingungslos akzeptiert wie sich selbst. Aber viele Menschen, davon war Radulf überzeugt, übersahen in ihrer Verliebtheit am Anfang einer Beziehung die Eigenschaften des Partners, die ihnen nicht gefielen oder, was noch schlimmer war, sie glaubten, der Andere würde sich noch verändern, wenn er erst einmal mit ihnen zusammen lebt. Und dann veränderte der andere Mensch sich tatsächlich, aber nicht so wie sie es gewünscht hätten, sondern es wurde ihrer Ansicht nach noch schlimmer, so schlimm, dass sie sich schließlich scheiden ließen, nur um sich einem neuen Partner zuzuwenden, bei dem sie nach einiger Zeit feststellten, dass er ja auch schon wieder nicht so war, wie sie es wünschten. Sie waren einfach nicht in der Lage zu erkennen, dass nicht der Andere, sondern sie selbst das Problem waren.

Radulf wusste natürlich, warum gerade jetzt ihn solche Gedanken so intensiv beschäftigten, seine Erlebnisse in Mali hatten einen so nachhaltigen Eindruck auf ihn gemacht, dass er versuchte, sie irgendwie in sein Leben einzuordnen. Vor allem beschäftigte er sich gedanklich immer wieder mit Aayana. Es war ganz ohne Frage eine wunderbare Zeit mit ihr gewesen, aber er wusste eben nicht, ob man eine solche Beziehung genauso wie eine Reise einfach beenden konnte. Er würde ganz sicher nicht mehr nach Mali reisen, aber er fragte sich, warum Aayana sich so über den Zettel mit seiner Anschrift gefreut hatte, denn er wusste ja, dass sie aus finanziellen Gründen auf keinen Fall in der Lage war, nach Deutschland zu kommen. Es konnte also eigentlich nur bedeuten, dass sie brieflichen Kontakt mit Radulf halten wollte, in der Hoffnung, dass er noch einmal nach Mali kommen würde.

Als Radulf merkte, dass sich seine depressive Stimmung von Tag zu Tag verschlimmerte, wurde ihm bewusst, dass er professionelle Hilfe brauchte, wenn er nicht riskieren wollte, in eine ausgewachsene Depression zu verfallen. Er schaute also ins Telefonbuch und da die Auswahl in Bad Herrenalb nicht allzu groß war, wurde er schnell fündig:

Dr. Christiane Erlenbaum

Psychologische Psychotherapeutin

Gesprächs- und Konfrontationstherapie

Dieser Name war ihm auf Anhieb sympathisch und er bekam auch einen ersten Termin in vier Wochen, die für ihn rasend schnell vorüber gingen, da er gespannt darauf war, was ihn erwartete.

Frau Dr. Christiane Erlenbaum war eine etwa vierzig Jahre junge Frau mit unglaublich langen und vielen roten Haaren, die sie zu einem Pferdeschwanz zusammen gebunden hatte; ihr rundliches Gesicht mit einer ziemlich kleinen Nase voller Sommersprossen, hell blauen Augen und schmalen Lippen strahlte eine Freundlichkeit aus, wie man sie nur selten findet, sie war etwa ein Meter siebzig groß und die Knöpfe ihrer weißen Bluse waren so weit geöffnet, dass ihrem Gegenüber ein angenehmer Blick auf ihre großen Brüste gewährt wurde. Auch ihr Busen war voller Sommersprossen und sie machte eher den Eindruck eines kleinen frechen Mädchens als den einer vierzigjährigen Frau.

Komm rein, du bist sicherlich Radulf. Ist es in Ordnung, wenn wir uns duzen? Ich bin Christiane, sag einfach Chris zu mir.

Natürlich.

Möchtest du etwas trinken, Wasser, Kaffee?

Kann ich auch einen Espresso haben?

Ja, sicher.

So, dann erzähl mal.

Radulf gab einen ausführlichen Bericht über seine Malireise und die Folgen, wie er sie sah. Am Ende fragte er, wie er sich gegenüber Aayana verhalten sollte.

Das kannst du nur ganz alleine entscheiden. Liebst du sie?

Ich weiß es nicht.

Was fühlst du denn, wenn du an sie denkst?

Dann wird mir ganz warm und ich bekomme eine Erektion.

Hat das für dich nichts mit Liebe zu tun?

Doch schon, aber das geht doch nicht, sie lebt in Mali und ich lebe in Deutschland.

Und wo ist da dein Problem?

Etwa fünftausend Kilometer, eine solche Fernbeziehung hat doch keinen Sinn.

Ich dachte du warst in Mali.

Ja, aber ich will da nicht wieder hin.

Warum nicht?

Ich weiß es nicht.

Hast du schon einmal in einer festen Beziehung gelebt?

Nein.

Möchtest du lieber alleine leben?

Ich weiß es nicht.

Darüber solltest du unbedingt nachdenken. Bevor du dir darüber nicht im Klaren bist, kannst du auch keine echte Beziehung zu einer Frau eingehen.

Die fünfzig Minuten waren so schnell vorüber, dass Radulf es nicht glauben konnte, er hätte gerne noch lange weiter geredet, aber es gab eine klare Vereinbarung, fünfzig Minuten und keine Minute länger. Chris bot ihm an, einmal pro Woche zu ihr zu kommen und bis zur nächsten Woche sollte er einen ausführlichen Lebensbericht schreiben, von Anfang an, soweit er sich erinnern konnte. Falls er früher fertig werden sollte, könnte er ihr den Bericht in den Briefkasten werfen. Radulf war erst einmal erleichtert, dass er eine Frau gefunden hatte, der er alles erzählen konnte und die zur absoluten Verschwiegenheit verpflichtet war.

Als er nach Hause kam, setzte er sich sofort an seinen Schreibtisch, denn er war selbst gespannt, was ihm bei seinem Lebensbericht alles einfallen würde.


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