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c) Kirche als Volk Gottes

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Volk Gottes – ein epochemachender ekklesiologischer Leitbegriff

Das zweite Kapitel des Konzilsdekretes „Lumen gentium“ steht unter der Überschrift „De populo Dei“. Den Begriff „Volk Gottes“ benutzt das Konzil nach der Beschreibung des Wesens der Kirche im ersten Kapitel von Lumen gentium zur Beschreibung der Sozialform der Kirche. Die Rezeption des Begriffes war so stürmisch positiv, dass er für Jahrzehnte in den Mittelpunkt des katholischen ekklesiologischen Denkens rückte. Bis in die achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts stand hinter dem Begriff „Volk Gottes“ die ekklesiologische Wesensbeschreibung aus Kapitel 1 des Konzilsdekretes zurück. Die stürmisch positive Rezeption der Lehre des Konzils von der Kirche als Volk Gottes hat wohl ihre Ursache darin, dass der Begriff des Volkes nach der Fixiertheit des Kirchendenkens im 19. Jahrhundert auf den Begriff der societas und das Analogon des Staates als wohltuend „weit“ empfunden wurde.

Innerhalb des funktionalen Kirchendenkens wurde der Begriff des „Volkes Gottes“ zunächst vom Grundwort „Volk“ her verstanden. Es dauerte einige Zeit bis der Rezeptionssschwerpunkt vom Grundwort Volk auf das spezifizierende Bestimmungswort „Gottes“ fiel und damit die Tür zum Verständnis der Kirche als communio und als Sakrament wieder aufgeschlossen wurde. Gegenüber den Analogien „Institution/institutio“ und „societas“ sowie gegenüber dem Modell des modernen Staates impliziert der analog verwendete Begriff „Volk“ Entwicklungsoffenheit, Flexibiliät und Geschichtlichkeit: Völker verändern geschichtlich ihre Staats- und Gesellschaftsformen in einer nach vorne unabgeschlossenen Geschichte. Ihre Identität hängt nicht an bestimmten Strukturen und Organisationsformen, sondern an einer kulturellen Einheit.

Volk Gottes für die Welt

Der Begriff „Volk Gottes“ ist ein Konkretionsbegriff, der die institutionalistische Konkretion verweigert. Das entspricht der messianisch-pneumatologischen Konkretion, die das Konzil mit dem Begriff vom Gottesvolk verbindet: Die Kirche ist „messianisches Volk“ der „Kinder Gottes, in deren Herzen der Heilige Geist wie in einem Tempel wohnt“. Sein Gesetz ist die Liebe, sein Ziel ist das Reich Gottes, das in ihm grundgelegt ist auf Erden und das vollendet wird bei der Wiederkunft Christi (Lumen gentium, 9). Kirche wird vom Ende her gedacht als Volk, das eben nicht perfekte Gesellschaft ist, sondern das seiner Vollendung durch Gottes eschatologisches Handeln entgegengeht. Nicht das Institutionelle überwiegt in ihr, sondern der inspirierende Geist Gottes, der in den Herzen der Kinder Gottes wohnt und sie verwandelt.

In diesem Kontext greift das Konzil zustimmend auf die biblische Metapher vom „königlichen Priestertum“ (regale sacerdotium: 1 Petr 2,9) zurück. Dieses allgemeine Priestertum aller Gläubigen ist im Kontext des ersten Kapitels von Lumen gentium zu verstehen als eine Metapher für das heiligende, menschheitsvereinende, gottvermittelnde Wirken der Kirche für die Welt: Die Kirche als ganze in allen ihren Gliedern vollzieht den priesterlichen Heiligungsdienst an der ganzen Welt, den das Konzil beschreibt als Werkzeugsein für die innige Vereinigung der Menschen untereinander und mit Gott. Diesen für die Kirche wesentlichen Dienst an der Welt verrichten alle Glieder der Kirche. Alle sind so Priester im sakramentalen Heiligungsamt an der Welt als ganzer. Die Formel vom allgemeinen Priestertum aller Gläubigen präjudiziert nichts in der Frage der Möglichkeit eines speziellen Amtspriestertums in der Kirche, die Martin Luther anhand von 1 Petr 2,9 verhandelte (Goertz/137:78; Globig/135:144). Das allgemeine Priestertum der Gläubigen betont allerdings die Teilhabe des Kirchenvolkes insgesamt am sakramentalen Dienst der Kirche an der Welt und wirft damit die theologische Frage nach neuen aktiven Partizipationsmöglichkeiten in gewandelten gesellschaftlichen Kontexten auf. Es kann auch zum Argumentationsgrund der Kritik an bestehenden kirchlichen Strukturen werden (Globig/135:150f.).

Das kulturelle Gedächtnis als Identität des Volkes

Das Konzil selbst entfaltet seine Beschreibung des Gottesvolkes narrativanamnetisch: Wer wissen will, was ein Volk ist, der muss seine Geschichte erzählen. Ein Volk wird zusammengehalten durch sein „kulturelles Gedächtnis“. Mit dem Begriff des „kulturellen Gedächtnisses“ beschreibt der Ägyptologe Jan Assmann im Anschluss an den französischen Soziologen Maurice Halbwachs „die soziale Konstruktion der Vergangenheit“ (Assmann/230:34–48): Das Gedächtnis der Vergangenheit ist nicht eine Funktion des erinnernden Menschen, sondern der kommunizierenden Gruppe: „Vergangenheit ist […] eine kulturelle Schöpfung“ (Assmann/230:48).

Man kann drei Gestalten von kulturellem Gedächtnis unterscheiden: (1) Das mündliche Gedächtnis der individuellen Alltagsbelange, die oral history, überdauert 80 bis 100 Jahre maximal (Assmann/231:28–34). (2) Schriftlose Gesellschaften tradieren die wesentlichen Inhalte ihres kulturellen Gedächtnisses über zyklisch wiederkehrende Rituale, in denen fundamentale Sinngehalte nachgespielt und immer neu bekräftigt werden (ebd., 54f.). (3) Mit dem Übergang zur Schriftkultur werden die fundamentalen Inhalte des kulturellen Gedächtnisses aus dem Bereich der ausschließlichen kultischen Rezitation und Affirmation in die Sphäre der intellektuellen Interpretierbarkeit überführt (ebd., S. 55 ff.). Einerseits erhebt die Schriftkultur zentrale Inhalte des kulturellen Gedächtnis in die Sphäre der universalen Verbindlichkeit. Andererseits ermöglicht gerade diese Kanonisierung den interpretierenden und aktualisierenden Umgang mit dem kulturellen Gedächtnis. Zu diesem Zweck entstehen in den Schriftgesellschaften eigene Deutungseliten (ebd., S. 58). In den Schriftkulturen wird erstmals ein kulturelles Gedächtnis möglich, das mit einer gewissen Flexibilität selbst zu einer geschichtsprägenden und verändernden Größe wird. In der Gestalt der schriftlich fixierten Erinnerung greift das kulturelle Gedächtnis in die Formung und Veränderung der Gegenwart ein. Es ist nicht mehr nur kultische Affirmation der ausgeübten königlichen Macht, sondern ersteht als ein zweiter lebendiger Pol sozialer Wirklichkeit.

Am Beispiel des Deuteronomiums führt Assmann vor, wie angesichts der Gefährdung religiöser Bedeutungsgehalte als Inhalte des kulturellen Gedächtnisses die Josianische Reform als Mittel der gezielten Neubelebung des kollektiven Gedenkens eingesetzt wird (Assmann/230:217 ff.): Mit der Bewusstmachung der Heilsgeschichte, ihrer programmatischen Weitergabe an die folgenden Generationen, ihrer symbolischen Sichtbarmachung in Zeichen und Ritualen, schließlich in ihrer Verschriftlichung legt das Deuteronomium mit einer kulturbezogenen Mnemotechnik den Grundstein eines Jahrhunderte überdauernden kulturellen Gedächtnisses (Assmann/ 231:28–34). Die sinnenfällige Gestalt dieser Gedächtniskultur ist die deuteronomistische Sohnesfrage als Grundmuster familialer Katechese (Ex 13,14; Dtn 6,20).

An diese biblische Technik knüpft auch das Konzil an, indem es die heilsgeschichtliche Erzählung von der Erwählung der Kirche in den Vordergrund rückt. Der Begriff des Volkes Gottes weist dabei von selber die Bahn über die Grenzen der neutestamentlichen Anfänge der Kirche hinaus: Volk Gottes nämlich ist zunächst das Volk Israel: Gott hat das israelitische Volk erwählt und mit ihm seinen Bund geschlossen. Dieser Bund wurde „zur Vorbereitung und zum Vorbild des neuen und vollkommenen Bundes“ (Lumen gentium, 9). „Volk Gottes“ wird vom Konzil wahrgenommen als der Begriff, der Israel und die Kirche verbindet.

Mit Jan Assmanns Kategorien lässt sich die Kirche als Volk Gottes beschreiben als eine Erinnerungs- und Interpretationsbewegung, die zusammengehalten wird durch die prägende Kraft eines bestimmten kulturellen Gedächtnisses, das in ihr aber nicht präsent ist in der Gestalt der ausschließlich kultischen Affirmation, sondern zugleich in der Gestalt des kanonischen Textes, der zur Interpretation und Aktualisierung herausfordert. Anders als der Begriff der „societas“ rekurriert der Begriff des Volkes nicht auf institutionelle Wirklichkeiten der Machtausübung, um Kirche als staatsähnliche Körperschaft verstehbar zu machen. Kirche wird im Kern nicht durch Macht zusammengehalten, sondern ist eine kulturelle Größe, die durch ihr gemeinsames Gedächtnis und dessen kulturelle Reproduktion lebt.

So verstanden wird der Begriff des Volkes Gottes zu einem Appellbegriff, der zur aktiven Partizipation am kulturellen Tradierungsprozess einlädt. Diese Deutung macht nachvollziehbar, warum die Programmatik des „Volkes Gottes“ in den ersten Jahrzehnten nach dem Konzil als ekklesiologischer Durchbruch empfunden wurde.

Die Kirche und Israel

Anders als das Modell der Gesellschaft und des Staates hat der Begriff des Gottesvolkes eine biblische Verankerung. Die neutestamentliche Verwendung des Begriffes Gottesvolk im Hinblick auf die Kirche eröffnet einerseits verheißungsvolle Perspektiven. Ernst Käsemann hat dies in Bezug auf die Metapher des wandernden Gottesvolkes im Hebräerbrief betont: Die Kirche ist das Volk des andauernden Exodus (Kertelge/:57). Bereits in dieser Metaphorik jedoch tritt die Kirche in eine gewisse Konkurrenz zum Gottesvolk Israel. Paulus problematisiert das Verhältnis der Kirche als Gottesvolk zu Israel als dem Volk Gottes (Röm 9–11): Die Kirche ist das Volk Gottes aus Juden und Heiden.

Neuer Bund und Alter Bund

Die Rezeption des Volk-Gottes-Begriffes im Kontext der Ekklesiologie wirft zwangsläufig das Problem der Verhältnisbestimmung von Kirche und Israel auf (Weinrich/213:190ff.). Die Theologiegeschichte ist hier bis in die sechziger Jahre häufig dominiert worden durch Verwerfungs- und Ablösungstheorien: Israel habe durch die Ablehnung Jesu seine heilsgeschichtliche Rolle ausgespielt. Der Alte Bund werde nun vom Neuen Bund verdrängt. Dieser Gedanke beherrscht bereits die klassische Kirchengeschichte des Eusebius von Cäsarea (Eusebius von Cäsarea, Kirchengeschichte, II, 6. 19. 26; III, 5, 3). In der Liturgie ist diese Theorie der Bundablösung als Erbe der Hochscholastik präsent, wenn zu Fronleichnam mit Thomas von Aquin gesungen wird: „Tantum ergo sacramentum/veneremur cernui/et antiquum documentum/novo cedat ritui.“ (Das Alte Testament muss dem neuen Ritus weichen: Gotteslob, Nr. 543). Die gebräuchliche Übertragung des Textes von Marie Luise Thurmair verschlimmert das Missverständnis: „Das Gesetz der Furcht muss weichen, da der Neue Bund begann.“ (Gotteslob, Nr. 544).

Eine solche antijudaistische Ekklesiologie stützte sich auf Jesu Verwerfungsworte, insbesondere gegen „dieses Geschlecht (aùte he geneà)“ (bes. Lk 11,29–32. 49–51) und auf die vor allem zum Ende des Matthäusevangeliums hin zu findenden Verwerfungsgleichnisse von den bösen Winzern (21,33–46) und dem königlichen Hochzeitsmahl (22,1–14), die in der Selbstverfluchung des ganzen Volkes innerhalb der matthäischen Passionsgeschichte kulminieren: „Sein Blut komme über uns und unsere Kinder.“ (27,25) (Lohfink/7:54f.).

Die Gerichts- und Drohworte Jesu müssen allerdings vor dem Hintergrund des Bewusstseins Jesu von seiner exklusiven Israelmission als Mittel der prophetisch-missionarischen Rede verstanden werden. Insbesondere die Verwerfungsworte gegen dieses Geschlecht knüpfen an einen Topos prophetischer Rede überhaupt an. Auch Matthäus liefert keine Geschichtstheologie der Offenbarung, sondern verfasst seine Texte in den Kontext der innerjüdischen Auseinandersetzung über die Bedeutung des Gekreuzigten hinein. In diesem Kontext propagiert er seine gläubige Einsicht: Dem Gottesvolk ist das Bekenntnis zum Gekreuzigten um seiner eigenen Erwählung willen abverlangt. Im Bekenntnis zum Gekreuzigten findet die Heilsgeschichte Israels ihre Fortsetzung. Matthäus verkündet keine Ablösungstheorie, sondern propagiert Jesus den Juden als die authentische Fortsetzung des Bundes Israels mit JHWH (Lohfink/7:30–35).

Der Prozess des Auseinandertretens von Synagoge und Ekklesia war mit wechselseitigen Infragestellungen und Angriffen verbunden, die durchaus seit den ersten Jahrhunderten als Verletzungen nachgewirkt haben (Theißen/116:535–553).

Insbesondere die Shoah hat den Christen zu einer veränderten Sichtweise Israels verholfen. Bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts wurden die Evangeliumstexte gegen die Juden noch als Aussagen über einen heilsgeschichtlichen Ist-Zustand gelesen. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg veränderte sich die Wahrnehmung des Judentums (F. Mußner/113:234–247). Die Erkenntnis setzte sich durch, dass Gott den Bund mit seinem Volk niemals gekündigt hat (Lohfink/112). Diese einleuchtende Formulierung wird auch von Papst Johannes Paul II. aufgenommen (Johannes Paul II., Ansprache vor dem Zentralrat der Juden in Deutschland und die Rabbinerkonferenz. Mainz 17. November 1980). Sie prägt auch die Darstellung der Juden im Katechismus der Katholischen Kirche: Israel ist „das Volk der ,älteren Brüder‘ im Glauben Abrahams“ (KKK, Nr. 63), „das Volk derer, zu denen Gott zuerst gesprochen hat“, wie es nach dem Römischen Messbuch auch in der sechsten Großen Fürbitte des Karfreitags heißt.

Die neutestamentlichen Texte sind nunmehr vor dem Hintergrund der kommunikativen Absicht ihrer Verfasser zu deuten als innerjüdische Auseinandersetzung darum, wie es mit der Bundesgeschichte weitergeht. Die alttestamentliche Exegese lieferte das Material zu der neuen Einschätzung, dass der im Alten Testament, etwa in Jer 31,31–34, angekündigte „neue Bund“ nicht das Ende des Bundes zwischen Gott und Israel meinte, sondern, vielmehr seine Erneuerung (Zenger/117).

In diesem Sinne ist auch Jesu Einsetzung der Zwölf zu verstehen: Nach dem griechischen Text des Markusevangeliums „schafft“ (epoiésen: Mk 3,14) Jesus die Zwölf. Gerhard Lohfink hört aus dieser eigenartigen Wortwahl eine Anspielung auf das hebräische „bâra“ aus Gen 1,1 heraus: Die Einsetzung der Zwölf ist Schöpfungshandeln Gottes an Israel, schöpferische Erneuerung des Alten Bundes (Lohfink/63: 202f.).

Nach 2 Kor 3 wird der Neue Bund mithilfe der prophetischen Verheißung des eschatologischen Geistbundes (Ez 11,14–25) gedeutet. Ez 11 ist aber eine Heilsverheißung an Israel: „Ich führe euch aus allen Völkern zusammen, sammle euch aus den Ländern, in denen ihr zerstreut seid […]“ (V. 17*). Der Geistbund ist keine Metapher der Ablösung des Alten Bundes, sondern ein Bild seiner eschatologischen Vollendung (Gräbe/109: 286).

Als neues Grundmodell des Verhältnisses von Kirche und Israel setzt sich die Vorstellung der Kontinuität durch. Sie ist biblisch bezeugt in dem paulinischen Bild vom jüdischen Ölbaum, in den die wilden Zweige der Heiden eingepfropft sind (Röm 11,13–24). Mit diesem Bild verbindet Paulus seine Hoffnung auf eine Rettung ganz Israels (Röm 11,25- 36). Nach der Apokalypse löst die Kirche Israel in seiner heilsgeschichtlichen Bedeutung nicht ab. Die Kirche ist vielmehr die endzeitlich geweitete Gestalt des einen Gottesvolkes, zu dem nun eschatologisch aber auch die Heiden hinzutreten (Nützel/114:458–478).

Das II. Vaticanum schließt sich dem Kontinuitätsmodell für das Verhältnis von Juden und Christen an: Christen und Juden sind „geistlich“ durch ein „Band“ verbunden. Christen begreifen sich als „dem Glauben nach“ „eingeschlossen“ in die Verheißungen Gottes an Abraham (Nostra aetate, 4). Es ist ihnen verwehrt, die Juden als „verworfen oder verflucht“ darzustellen (ebd.).

Wo das II. Vaticanum dennoch die Rede vom „neuen Gottesvolk“ in Konkurrenz zum alten Gottesvolk aufrecht erhält, geschieht dies im Sinne einer vorsichtigen Überbietungstheorie: Lumen gentium, 9 deutet den Bundschluss mit Israel als heilsgeschichtliche Vorbereitung (praeparatio) und als Vorausbild (figura) „des neuen und vollkommenen Bundes“. Das Bild bleibt ambivalent. Man kann eine reine Überbietungstheologie darin sehen. Man kann aber auch bedenken, dass es zum Wesen einer „figura“, eines Urbildes, gehört, bleibende Norm des nach ihm Gebildeten zu sein. In dem durch Lumen gentium, 10 angemahnten messianischen Kontext verliert auch der Begriff der praeparatio den despektierlichen Klang: Im messianisch-eschatologischen Kontext nämlich ist alles göttliche Schaffen an der Welt und an seinem Volk immer praeparatio. Es gibt ein geschichtliches Voranschreiten, aber keine innergeschichtliche Vollendung, von der aus der despektierliche Blick auf die vorausliegenden Anläufe gestattet wäre.

Israel als Volk Gottes

Die messianisch-eschatologische Sichtweise des Neuen Bundes erlaubt eine Geschichtstheologie, die die Vorstellung überwindet, die Kirche repräsentiere bereits die Vollendung des göttlichen Heilswirkens in der Welt. Das II. Vaticanum stellt diesem dem Geist der Gegenreformation entsprechenden Denken seine Deutung der Kirche als eines göttlichen Werkzeuges entgegen: Die Kirche ist „Zeichen und Werkzeug“ (Lumen gentium, 1). Die Geschichte dieses Werkzeuges eines Wirkens Gottes für alle Welt reicht an den Anfang der Erwählung Israels zurück. Mit dem Ende der staatlichen Existenz Israels rücken an dem Volk Israels mehr und mehr jene wirksamen Aspekte in den Vordergrund, die dieses Volk wirklich zum „Volk Gottes“ machen. Die Erwählung durch JHWH ist nicht einfach Privilegierung, wie sie beim Durchzug des Schilfmeeres erkennbar wird, als JHWH mit starkem Arm sich sein Volk „erschuf“, indem er „Schrecken und Furcht“ auf die Ägypter warf (Ex 15,16). Der eigentliche Zweck dieser Privilegierung wird im Deuteronomium in der Übergabe der Tora gesehen. Durch die Übergabe des Gesetzes erst wird Israel in einer Art Adoptionsakt zum Volk JHWHs (Dtn 27,9), durch den Gehorsam gegenüber der Tora wächst Israel zu dem Volk heran, das JHWH unter den Völkern „heilig“ ist (Dtn 28,9). Als das Volk der Tora ist Israel Segensmittler für andere Völker, wie dies die Abrahamsberufung verheißt (Gen 12,2). Eigentumsvolk ist Israel nach der exilischen Priesterschrift als das auf die Tora verpflichtete Bundesvolk, das als solches ein „Reich von Priestern und SEIN heiliges Volk“ ist (Ex 19,4–7).

Die Volk-Gottes-Theologie des Alten Testamentes überwindet bereits in vorexilischer Zeit eine partikularistische Enge und erkennt im Volk-Gottes-Sein eine universalistische Beauftragung des Volkes durch Gott. Inhalt dieser universalistischen Beauftragung ist die Tora. Zum Inbegriff der volkstiftenden Größe wird somit ein Inhalt, der von sich aus jede gentische Volktheorie transzendiert, weil der Tora als einem allgemein verstehbaren geistigen Gut eine immanente Dynamik zum Universalismus eigen ist. Die Tora nämlich ist nicht positive, staatliche Satzung. Sie kann nur verstanden und befolgt werden, wo sie innerlich in ihren Absichten bejaht wird. Das innere Band der Gebote aber ist die Anerkenntnis des Anderen als eines Menschen mit eigenem Recht.

Ein Volk auf ein Gesetz zu gründen, das nicht staatliche Satzung ist, sondern in nachexilischer Zeit wesentlich ethische Sensibilisierung des Einzelnen für den Anderen und sein eigenes Recht, verlagert den Volkbegriff in eine Sphäre, der er ursprünglich gerade nicht angehört. Die Zugehörigkeit zum Bundesvolk wird zu einer Sache der inneren Einstellung, der Teilhabe an der spezifischen Segensverheißung JHWHs für dieses Volk, die nicht im Land und nicht in der gentilen Mehrung besteht, sondern die Land und Mehrung in den Dienst des Segnens stellt. Die Zugehörigkeit zum Volk Israel wird zu einer inneren, die personale Entscheidung für die Tora als universales Recht betreffenden individuellen Angelegenheit. Genau das aber ist die Zugehörigkeit zu einem Volk sonst nirgends. Völker als nationale Größen begreifen sich als verbunden durch einen Stammvater. Die Logik der israelitischen Volk-Gottes-Theologie weist über diese Konzeption des Volkseins hinaus. Das Volk Israel ist Volk Gottes aufgrund seiner heilsgeschichtlichen Funktion. Ihr kann auch hinzutreten, wer nicht in diesem Volk geboren wurde.

Eine antisemitische Ideologie verkennt dieses Volk-Gottes-Konzept im Sinne des eigenen anachronistischen Gentilismus, der suggeriert, die Einheit des Nationalen über den alten gentilistischen Mythos von Geburt (natio) und Blutsverwandtschaft schaffen zu können. Näher steht das israelitische Volk-Gottes-Konzept da schon der Programmatik eines Verfassungspatriotismus. Allerdings ist die Tora nicht nach dem Vorbild des modernen Konstitutionalismus zu verstehen als eine Verfassung, die als Rahmenordnung das freie Spiel der bürgerlichen Kräfte bändigt. Die Tora enthält die den ganzen Menschen absolut verpflichtende Vision: Ihr Inbegriff ist nicht das Funktionieren dessen, was sie nicht selber ist, sondern ihr Inbegriff ist die teleologische Hinordnung aller menschlichen Ordnung auf Gott selber.

Das gespaltene Gottesvolk

Die Priesterschrift prägt in der Exilszeit die Vorstellung des Eigentumsvolkes JHWHs. Israel ist Gottes „besonderes Eigentum“, wenn es auf JHWHs Stimme hört und seinen Bund hält. Das Eigentumsvolk ist „ein Reich von Priestern und ein heiliges Volk“ (Ex 19,4–7). Israel erfüllt einen weltgeschichtlichen Auftrag Gottes. Die Privilegierung hat eine weltgeschichtliche Teleologie. So soll Israel unter den Völkern „ein Segen sein“ (Gen 12,2).

Vor diesem universalistischen Horizont wäre es ein Rückfall gewesen, wenn sich die Jünger Jesu als eine Art Verein begriffen hätten, der sich vom Judentum als einem anderen Verein abgrenzt. Sie mussten sich in der Nachfolge Jesu vielmehr innerhalb der jüdischen Berufung verstehen. Die ersten christlichen Gemeinden partizipieren auch außerhalb Israels an der Infrastruktur der hellenistisch-jüdischen Gemeinden der Diaspora, die im ersten Jahrhundert 5–6 Millionen Menschen umfassten. Ihre Synagogen sind die selbstverständlichen Anlaufstellen der paulinischen Missionsbewegung in den Städten des Mittelmeerraumes, in denen Juden etwa 10–15% der Gesamtbevölkerung gestellt haben dürften (Meeks/67:74). Das jüdische Glaubenswissen stellt die selbstverständliche Basis der Taufbewerber dar. Gerhard Lohfink beantwortet die Frage, warum die Apostelgeschichte trotz der in späteren Jahren oft langwierigen Taufvorbereitung in sieben Fällen eine Art Ad-hoc-Taufe bezeugt, mit der Hypothese: „Das Judentum war das Katechumenat der Urkirche.“ (Lohfink/63:329): Durch ihr Judesein wussten die ersten Christen alles, was sie für eine christliche Lebensführung wissen mussten. Nahmen sie dann darüber hinaus das Christus-Kerygma an, so konnten sie ohne Umstände sofort getauft werden.

Das Christus-Kerygma wird zum Unterscheidenden zwischen der jüdischen Synagoge und der christlichen Ekklesia. Es macht die entstehende christliche Gemeinde religionsgeschichtlich gesehen zu einer abweichenden, heterodoxen Strömung im Judentum, von denen es allerdings mehrere gab.

Durch die Missionstätigkeit des Paulus verschärft sich die Trennung zwischen Juden und Christen: Paulus, selbst Jude und überzeugt von der bleibenden heilsgeschichtlichen Bedeutung des Judentums (Röm 11), macht das Christusbekenntnis so sehr zum alles umfassenden Glaubenskriterium, dass für ihn ein Christsein ohne Beschneidung und ohne Tora-Observanz möglich wird. Die ethische Funktion der Tora sieht Paulus erfüllt durch das Liebesgebot (Röm 13,8). Dieses konkretisiert er durch Rückgriff auf Elemente populärer hellenistischer Ethik. Als Heilsweg aber hat die Tora überlebt. Heil ist erschlossen in dem, der sich für alle Menschen hat töten lassen und der damit ein für allemal jedes System der Herrschaft von Menschen über Menschen überwunden hat. Trotz dieser Absetzungsbewegung begreift sich Paulus weiterhin als Jude und verlangt auch von den Judenchristen Treue zu ihrem Judesein. Allerdings treten nun auch Heidenchristen zur jüdischen Gruppe der Christen hinzu, die Heiden bleiben und dennoch Christen werden können.

Entscheidendes Kriterium ist nicht mehr die Beschneidung als der formelle Akt des Sich-Unterwerfens unter die Tora. Entscheidend ist das Bekenntnis zu Jesus Christus als dem Gekreuzigten, den Gott bestätigt hat und eingesetzt hat zum Herrn der Welt, der kommen wird in Herrlichkeit. Die Kirche entsteht also als eine bekenntnishafte, konfessionelle Abspaltung vom Judentum. Um das Bekenntnis im einzelnen Taufbewerber katechetisch-mystagogisch entfalten zu können, bedarf es nun eines längeren Katechumenates, durch das der Taufbewerber lernt, die Texte der Überlieferung in ihrer existentiellen und religiösen Tiefe für sich zu erschließen, durch das er eingeführt wird in die „Geheimnisse des Glaubens“.

Konfliktfall Christologie

Die Mitte des christlichen Bekenntnisses bezeugt die auf einmalige Weise unüberbietbar gelungene Gegenwart Gottes in Jesus von Nazaret. Bereits die Evangelien wenden den Gottestitel „kýrios“ auf Jesus an, nennen ihn „Gottes Sohn“ und verknüpfen diese Deutung der Gestalt Jesu mit der stoischen Logosspekulation (Joh 1): In dem Menschen Jesus Christus ist der Gott Israels selber eschatologisch handelnd, in die Geschichte eingreifend gegenwärtig und offenbart dabei den Sinn allen Seins vom Anfang der Schöpfung an. Diese in den großen Enkomien des Kolosser- und Epheserbriefes (Eph 1,1–14; Kol 1,12–20) kosmisch sich weitende Christozentrik nimmt vor allem in der griechischen Patristik die Gestalt der Inkarnationstheologie an: In Jesus Christus hat sich der ewige göttliche Logos als Gottes schöpferisches Wort, das die Welt werden ließ, in der Welt verleiblicht.

Das Christentum gerät mit dieser theologischen Betonung der Stellung Jesu in den Konflikt mit einer zentralen jüdischen Glaubensüberzeugung. Das Judentum hat wie keine andere Religion ein Wissen um die Transzendenz und Andersartigkeit Gottes ausgebildet. Als der ganz Andere ist Gott die Möglichkeitsbedingung dafür, dass der Mensch zu seiner unmittelbaren Umwelt in jene Distanz treten kann, die die Möglichkeitsbedingung eines bewussten, ethischen Sich-Verhaltens gegenüber der Welt ist. Es gibt im Judentum keine unbefangene Freude an der Welt, kein heiteres Aufgehen im Gegebenen. Göttliche Transzendenz und ethische Orientierung der Religion gehen engstens zusammen (Lévinas/111:21–37). Nur wenn die Welt nicht divinifiziert wird, hat der Mensch ihr gegenüber die Freiheit, die gerade der absolut transzendente Gott ihm erschließt als die Möglichkeitsbedingung, an der Welt ethisch bestimmt zu handeln.

Jede Inkarnationstheologie steht demgegenüber immer in der Gefahr, das Endliche zu vergöttern. Die Christologie hat sich vor dem jüdischen Einspruch zu bewähren, indem sie die Menschwerdung Gottes theologisch so deutet und darstellt, dass Gott durch seine Menschwerdung nicht aufhört, wahrer Gott zu sein. Zugleich aber muss sie die Mitte des christlichen Kerygmas von der Menschwerdung Gottes in Jesus Christus als das Fundament der ganzen Theologie und des Selbstverständnisses der Kirche plausibel machen.

Einführung in die Lehre von der Kirche

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