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Оглавление1. Das Phänomen Kirche
a) Kirche als Größe in der Geschichte
Kirche und Geschichte
Das Phänomen Kirche ist eine geschichtsprägende Kraft ersten Ranges. Sie ließe sich sogar weiten zu der Frage, ob es ohne den Fortbestand der Kirche einen Fortbestand der Geschichte gäbe.
Die Kirche entwickelt sich als Abspaltung vom Judentum. Aus der jüdisch-israelitischen Glaubensüberzeugung übernimmt sie die Verknüpfung zweier auf den ersten Blick nicht zusammenpassender Grundüberzeugungen: (1) Gott ist gegenüber der Welt unendlich erhaben und transzendent. (2) Als dieser Transzendente agiert Gott geschichtlich. Geschichte wird so überhaupt erst denkbar als Ereignisabfolge, die mehr ist als unberechenbare Zufälligkeit oder mythisch erahnbare Wiederkehr des im Grunde genommen bei allem scheinbaren Wechsel doch immer Gleichen. Geschichte wird als Heilsgeschichte entdeckt. Ihre Anamnese wird zur religiösen Pflicht.
Kirche erscheint in diesem Prozess als die Aktantin jenes Tradierungsprozesses, durch den die Überzeugung universal verbreitet wurde, in den Ereignissen verberge sich ein absoluter Sinn, sie fügten sich zusammen zu einer einzigen Geschichte. Wo sich die Aufklärung auflehnt gegen den Anspruch der Kirche, als souveräne Sachwalterin dieses Geschichtssinns auftreten zu können, vollzieht sie gegen den aus ihrer Sicht überzogenen Verfügungsanspruch kirchlicher Obrigkeit eine alternative Sinndeutung der Geschichte, an deren Einheit und Sinn sie gleichwohl festhält. Alle Geschichte hat ihren Sinn, ihre Mitte und ihr Ziel in einem Selbstverwirklichungsprozess der menschlichen Vernunft.
Gegen die Überlegitimierung der Geschichte
Erst am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts verbreitet sich zuletzt und am klarsten in den Thesen des Postmodernismus die Einsicht, dass mit der Ersetzung Gottes als des Geschichtssinns durch die menschliche Vernunft die Einheit des Geschichtssinnes und mithin auch die Einheit einer Menschheit überhaupt aufgegeben wird. Die eine Menschheitsvernunft zerfällt in die vielen partikulare Rationalitäten, die in ihrer Endlichkeit und Vergänglichkeit mit ihren Einsichten und Sinnstiftungsoperationen dem Vergessen anheimfallen.
Die Tatsache, dass insbesondere jüdische Autoren zu Vertretern postmodernen Denkens wurden, gibt allerdings zu denken. Ausgerechnet Vertreter jener religiösen Tradition, die den göttlichen Sinn in der Geschichte denkbar machte, wehren sich nun gegen die Behauptung des Geschichtssinnes. Erfüllen sie darin möglicherweise gerade eine heilsgeschichtlich bleibend wichtige jüdische Funktion gegenüber der Kirche? Die kirchliche Behauptung der Inkarnation Gottes in der Geschichte nämlich radikalisiert und überbietet die jüdische Vorstellung von der Geschichtsmächtigkeit Gottes. Die Gefahr ist, dass sich damit jedoch eine Überlegitimierung der faktischen Geschichte als selbst schon theologischer Größe verbindet. Die Hegel’sche Hypostasierung der Geschichte zu einem göttlichen Prozess zeugt von einem entsprechenden Missverständnis, das so wohl nur im Kulturraum des christlichen Inkarnationsdenkens entstehen konnte. Steht hier der jüdische Einspruch gegen die selbstbewussten Sinnbehauptungen der christlichen Tradition für die Unverfügbarkeit des messianischen Handelns Gottes? Kann es eine angemessene Deutung der Inkarnation Gottes als des Offenbarwerdens des Sinns aller Geschichte geben, das der Tatsache der Verhülltheit göttlicher Herrschaft im inkarnierten Christus gerecht wird? Die Herrschaft des inkarnierten Gottes, der alle Menschheitsgeschichte zu einer Einheit zusammenbindet und universalen Sinn von Geschichte so überhaupt erst denkbar macht, ist Herrschaft des Gekreuzigten, deren Herrlichkeit immer quer liegt zu dem, was Menschen von sich aus mit den Begriffen des Sinnes und einer universalen Verbundenheit aller miteinander assoziieren.
Diese Grundeinsicht begründet die Ambivalenz der kirchlichen Geschichtsbedeutsamkeit.
Fasziniert stehen Menschen heute vor dem mittelalterlichen Siena: Die rotlehmigen Häuser drängen sich dicht aneinander, einander Schatten und Kühle gewährend den Stadthügel hinan. Von oben her aber krönt die mit weißem Marmor verkleidete Fassade des Domes den ganzen Hügel und fasst die darunter liegenden Häuser unter dem weit ausspannenden Dach der Kirche zusammen. Die Aufwändigkeit des riesig wirkenden Baus lässt erahnen, welchen Wert die Menschen dem Symbol zumaßen, das sie zu einer engen Gemeinschaft zusammenfügte, das ihnen gemeinsamen Sinn gab und eine Mitte, die bis heute erlebbar ist im Gesamtbild der Stadt. Der Machtzuwachs, der sich automatisch mit dieser Wertschätzung verbindet, begründet aber immer wieder die Gefahr, dass die Ursprungsintuition Jesu, des Gekreuzigten, übertönt wird durch den sich verselbständigenden Jubel der Christen über Gottes Leben erweckendes Handeln an dem, der selber, statt Macht und Sinn zu verkörpern, Ohnmacht und Unsinn auf sich nahm.
Wo dies geschieht, würde die Erfahrung der Stärke in Gemeinschaft zum Zweck der Kirche, die sich aber doch beruft auf den Menschen, der in der Ausstoßung aus der Gemeinschaft seine Einheit mit dem Gott Israels erlebte. Kirche schwebt immer in der Gefahr des Triumphalismus. Ihre Geburtsstunde ist der Ostermorgen des machtvollen Handelns Gottes gegen den Zynismus der Macht. Aber dieser österliche Triumph darf seine Herkunft nicht verleugnen, seine Herkunft vom Karfreitag dessen, der nicht in die Welt gekommen ist, um sich bedienen zu lassen (Mk 10, 45).
Die Kirche wächst in ihrer Orientierung auf den Gekreuzigten und auf Gottes an ihm auch in ihr offenbar werdenden Macht in der Geschichte zu einer machtvollen Größe, die ihre Identität nur bewahren kann, indem sie immer neu ihr Wesen darin vollzieht, nicht aus ihrer Geschichtsmächtigkeit und für sie zu leben, sondern aus der eigenen Hinwendung zu dem gekreuzigten und auferstandenen Ursprung der Kirche.
Kirche als die Wirklichkeit, die in der Weltgeschichte für alle Menschen einen universalen Geschichtssinn behauptet, ist nicht aufspaltbar in Kirchen. In der gläubigen Bindung an den Gott Israels, in der Überzeugung, Gott habe sich in Jesus Christus unlösbar selbst mit der Welt verbunden und er wirke in ihr inspirierend und motivierend auf das Ende hin, das er dieser Welt eschatologisch bereiten will, sind alle Orts- und Teilkirchen der Welt geeint, aber auch alle Kirchen, die sich untereinander die volle Anerkennung als christliche Kirchen verweigern. In diesem Grundbekenntnis und seiner innergeschichtlichen Wirklichkeit wird das Dasein der Kirche weltgeschichtlich faktisch als wirksame Einheit erfahrbar.