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b) Kirche als Institution
ОглавлениеInstitutionalität als Kennzeichen der Kirche
Klassische soziologische Institutionentheorien
Mit dem Begriff der „Institution“ wird ein wissenschaftsgeschichtlich vor allem durch die Soziologie vorgeprägter Begriff zur Benennung des Phänomens Kirche herangezogen. Der Begriff ist nicht eigens auf die Kirche hin formuliert und beinhaltet, wo man ihn auf die Kirche anwendet, die Subsumption des Besonderen der Kirche unter einen allgemeinen Begriff menschlicher Institutionen.
Klassisch hat der Soziologe Helmut Schelsky im Anschluss an die Anthropologie Arnold Gehlens Institutionalität als anthropologische Notwendigkeit bestimmt. Gehlen geht davon aus, dass der Mensch in seiner Instinktreduziertheit, Weltoffenheit und Sprunghaftigkeit fester Orientierungsgrößen bedarf, um sich in der Welt nicht auf gefährliche Weise selbst zu verlieren. Das Wesen, das die Natur von der Leine ließ, verknüpft sich selbst durch Bänder mit allen anderen, um sich davor zu bewahren, hoffnungslos verloren zu gehen. Schelsky bestimmt die Institution als organisierte Gruppenunterstützung bei der Befriedigung menschlicher Bedürfnisse.
Niklas Luhmann vertieft den Gedanken der entlastenden Funktion der Institution für das Individuum. Institutionen machen die Komplexität der Welt erträglich, indem sie einen Konsens der selektiven Wahrnehmung pflegen: Für einen katholischen Christen scheiden bestimmte Handlungsalternativen, die einem Nichtchristen denkbar sind, von vornherein aus. Nur scheinbar wird dadurch das Leben schwieriger. In Wirklichkeit entlastet die reduzierte Wahlmöglichkeit. (Kehl/93 23–37; Kehl/6:131–136) Im Anschluss an sein Werk „Soziale Systeme“ deutet Luhmann in der aus dem Nachlass edierten Schrift „Die Religion der Gesellschaft“ (Luhmann/238) religiöse Organisationen als Spezialfall sich selbst erzeugender, autopoietischer Subsysteme. In einer Gesellschaft ohne organisierende Mitte reproduzieren sich Subsysteme, indem sie Menschen miteinander so vernetzen, dass sie handelnd und kommunizierend die Entscheidungen des jeweils anderen als Prämissen eigenen Handelns akzeptieren (ders./238:231). Dabei erzeugen religiöse Subsysteme mithilfe eines speziellen, transzendenzbezogenen Codes das Bewusstsein von Sinn (ders./238:15).
Nach den klassischen Institutionentheorien funktionieren Institutionen durch einen notwendigen, unausweichlichen Konservatismus. Sie entlasten den Einzelnen, indem sie sein sittliches Urteilen und intellektuelles Wahrnehmen einem System von Vorurteilen unterwerfen. So begründen sie ein Sozialsystem, das systemimmanent gegen Kritik immunisiert.
Gegen diese konservative Skepsis hinsichtlich der menschlichen Möglichkeit, Institutionen und Systemen gegenüber ein kritisch-gestalterisches Verhältnis zu entwickeln, richten sich alle pragmatischen, handlungstheoretischen Ansätze. Sie begreifen in aufklärerischer Tradition den Menschen als Subjekt freien Handelns. Handeln in Bezug auf menschliche Gemeinschaften ist immer kommunikatives Handeln.
Handlungstheoretische Aspekte des Institutionsbegriffes
Die Sprechhandlungstheorie beschreibt, dass menschliches Sprechhandeln immer nur in komplexen Regelsystemen funktioniert. Institution erscheint so als eine der wichtigsten Voraussetzungen menschlichen Handelns überhaupt. Das Regelsystem menschlicher Sprache und gruppenspezifischer Sprechhandlungsmuster stellt Menschen Interaktionsmuster und Strategien zur Verfügung und ermöglicht ihnen so ein Handeln auf andere hin und gemeinsam mit anderen. Die Institutionen, die die Handlungsmuster bereitstellen, werden durch die Anwendung dieser Muster als funktionale Systeme bestätigt und gefestigt.
Peter Hünermann wendet dieses pragmatische Institutionenmodell an, um Kirche als funktionierendes kommunikatives System zu beschreiben. Die amtlichen, insbesondere die sakramentalen Sprechhandlungstypen, bieten Menschen vorgeprägte Handlungstypen an, mit denen sie erfolgreich interagieren können. Hünermann deutet die kirchlichen Sprechhandlungstypen als „unabsehbare Vielfalt der Glaubenszeugnisse“, die den „Lebensvollzug der Kirche“ bilden. (Hünermann/27:42) Menschen bekommen etwa durch die Sprechhandlungsregeln der Sakramente genuine Handlungsmöglichkeiten eröffnet und bestätigen durch deren Verwendung das System, das ihnen diese Möglichkeiten gibt (Hünermann/26:90–11).
Die unausweichliche Institutionalität der Kirche
Das Glaubensbekenntnis ist, legt man einen pragmatischen Institutionsbegriff zugrunde, eo ipso institutionbildend: Es bindet Menschen zu einer Bekenntnisgemeinschaft zusammen, in der sie sich durch einen bestimmten institutionsspezifischen Code untereinander erkennen und wechselseitig bestätigen. Medard Kehl bezeichnet diese notwendige, mit dem Christus-Kerygma gegebene Institutionalität der christlichen Sammlungsbewegung als primäre Institutionalisierung. Zu den entsprechenden Primärinstitutionen zählt er den biblischen Kanon, das Credo, verbindende Glaubenstradition und Lehrverkündigung, Sakramente, liturgische Feiern, Rechtsordnung, Gemeinde- und Ämterstruktur. Diese Wirklichkeiten unterscheidet Kehl von „sekundären Institutionalisierungen“, worunter Verwaltung und Organisation der Kirche zu verstehen seien (Kehl/28:392). Die Unterscheidung Kehls ist nicht unproblematisch. Aus ihr spricht einerseits das Unbehagen des Dogmatikers, der im kirchlichen Arbeitsrecht nicht ohne Weiteres die Entfaltung des urchristlichen Kerygmas zu erkennen vermag. Allerdings spiegelt die Unterscheidung Kehls eben auch eine praktisch-kirchliche Schizophrenie, der gemäß etwa behauptet werden könnte, die Kassenführung einer Diözese gehöre nicht zum eigentlich-inneren, wesentlichen primär-institutionellen Selbstvollzug der Kirche und unterliege deshalb auch nicht theologischer, sondern ausschließlich marktwirtschaftlicher Rationalität.
Biblische Grundlagen des Selbstverständnisses der Kirche als Institution
Biblisch ist es zum Verständnis der Kirche als einer Institution ein langer Weg. Die Jesusbewegung erscheint in ihrer eschatologischen Grundprägung als ausgesprochen institutionsfern. Ihr soziologisches Profil wird wahrscheinlich in der Aussendungsrede der Redenquelle Q fassbar: Radikale Armut und jeglicher Verzicht auf Vorsorge (Lk 10,4) gehören zum Profil einer Gruppe von Menschen, die ihre ganze Hoffnung und den Zweck ihres Lebens in der baldigen Ankunft des Friedensreiches Gottes sehen. Doch setzt die Lebensweise der Boten, die darauf vertrauen, in den Ortschaften und Städten Aufnahme und Verpflegung zu finden, voraus, dass es mindestens sesshafte Sympathisantengruppen gibt.
Paulus verlässt sich bei seinen Reisen auf die Infrastruktur von christlichen Ortsgemeinden. Er erblickt in ihnen jedoch keineswegs nur Sympathisanten. Sie sind vielmehr berufene Heilige (1 Kor 1,2: hagíoi epikalouménoi), die zusammen die „ekklesía Gottes“ bilden, „die in Korinth ist“ (1 Kor 1,2). Die ekklesía Gottes ist jeweils an einem Ort. Sie ist jedoch gerade darin Ekklesia Gottes, dass sie nicht darin aufgeht, an einem Ort zu sein. So verbindet sie alle Ortskirchen untereinander zu der einen Universalkirche. Praktisch wird diese tiefe, in Gott und seiner Erwählung selber gründende Gemeinschaft der Ortsgemeinden in der von Paulus organisierten, freiwilligen Kollekte für die Gemeinde in Jerusalem, mit der Paulus die Einheit aller an Christus glaubenden Juden und Heiden unterstreicht (Gal 2,10; 1 Kor 16,1–4; 2 Kor 8f.; Röm 15,26–32) (Gnilka/51:301–315).
Die ausführliche Grußliste am Ende des Römerbriefes (Röm 16) lässt erkennen, dass sowohl die Organisation der Ortsgemeinden als auch die Verbindung zwischen den Ortsgemeinden das Werk Einzelner ist, die sich untereinander kennen, die sich unterstützen und sich aufeinander berufen. Einzelne stellen ihre Häuser für die Versammlung der Gemeinde (ekklesía) zur Verfügung. Die entsprechende Gemeinde kann dann auch angeredet werden als die ekklesía im Haus von Priska und Aquila (Röm 16,4 f.) (Trummer/77:85–106). Paulus empfiehlt „unsere Schwester“ Phöbe als „Diakonin der Gemeinde von Kenchrea“ (Röm 16,1). Die Stelle macht deutlich, dass in paulinischer Zeit hinsichtlich der gemeindetragenden Menschen galt, was Paulus in Gal 3,28 programmatisch erklärt: Die Verbundenheit in Jesus Christus lässt alle Unterschiede, auch die des Geschlechtes, verblassen. Die paulinische Gemeinde lässt somit einerseits bereits „amtliche“ Strukturen erkennen, andererseits sind diese Strukturen noch sehr wenig institutionell verfestigt.
Diese anfängliche Freiheit der entstehenden Gemeinden in organisatorischen Fragen erscheint zur Zeit des Matthäusevangeliums und der Pastoralbriefe bereits als eingeschränkt. Die Autorität des Apostels ist bei Matthäus im Falle des Petrus nicht mehr nur die Folge der Hochschätzung, die die Gemeinde dem Zeugen der Auferstehung Jesu Christi entgegenbringt (Dias/3:131). Die Autorität des Petrus wird bei Matthäus mit den Attributen amtlicher potestas geschildert: Mt 16,16–19).
Das Haus als ekklesiologische Leitmetapher der Pastoralbriefe
Die Pastoralbriefe schließlich zeigen ein ausgeprägtes Interesse an der Institutionalität der ekklesía. Die Leitmetapher für die Gemeinde als Institution ist dabei das oíkos. Das entspricht der Lebenssituation der Christen in den hellenistisch geprägten Großstädten des östlichen Mittelmeerraumes, wo sich die neue Lehre entlang der römischen Heerstraßen von Großstadt zu Großstadt verbreitete. Träger der städtischen Kultur sind die Handwerker und Händler, deren Gewerbe und Geschäft in aller Regel im Wohnhaus geführt wurde. Das Wohnhaus, oíkos, als Sitz der Familie ist so weit mehr als eine Wohnung. Es ist Produktionsstätte und Geschäftsraum, Begegnungsort zahlreicher Menschen an jedem Tag. Werkstatt oder Geschäftsraum einer spätantiken Familie mit dem Kommen und Gehen der Kunden sind wohl typische Orte der christlichen Mission (Meeks/67:65). Das Haus des städtischen Handwerkers oder Händlers bietet unter seinem Dach nicht nur den Mitgliedern einer Kernfamilie Obdach. Zum oíkos gehören auch entferntere Verwandte, Sklaven, frühere Sklaven, Lohnarbeiter, Geschäftspartner oder Pächter, ein Kreis von Abhängigen, der die Familie umgab (Meeks/67:66). Die Familie ist in der hellenistischen Großstadt „nicht primär durch Verwandtschaft definiert, sondern durch das Verhältnis von Abhängigkeit und Unterordnung“. (ebd.) Abhängigkeit und Unterordnung sind anders als in den durch Grundbesitz geprägten Verhältnissen auf dem Lande in der Stadt nicht primär eine Funktion ererbten Besitzes, sondern des ökonomischen und sozialen Erfolges. Der kluge, umsichtige, fleißige, sparsame, allseits angesehene pater familias konnte den Kreis der von ihm Abhängigen erheblich ausweiten. Sein Einfluss und seine Macht nahmen zu, zugleich damit aber auch seine Verantwortung und seine Pflichten. Untereinander waren die Familien einer Stadt auf vielfältige Weise verbunden: Freundschaftsbünde, zunftähnliche Zusammenschlüsse und Vereine garantieren ein System wechselseitiger Hilfe und die Möglichkeit, abseits vom Staatskult eigene philosophische und religiöse Überzeugungen mit anderen zu teilen.
Auch hier spielt der Familienvorstand eine entscheidende Rolle. Er gibt die weltanschauliche und religiöse Ausrichtung des Familienverbandes vor. Sein Erfolg, der sich in der Wohlfahrt der ganzen Familie ausdrückt, gibt ihm Recht. Seine Autorität wächst in dem Maße, in dem er allen nützt.
Dass es ausgerechnet diese regen Träger des städtischen Lebens sind, die aufgeschlossen auf das Christentum reagieren, ist nicht verwunderlich: Sie machen in ihrem Geschäftsleben täglich die Erfahrung, dass Aufgeschlossenheit für neue Ideen lebenswichtig ist. Mit seiner Verankerung in diesen städtischen Eliten der Spätantike musste das Christentum jedoch zwangsläufig an apokalyptischem Schwung einbüßen. Der pater familias, der mit seinem ganzen Haus den Glauben an Jesus Christus annimmt, schätzt die universalistische Moral des Christenums, den Monotheismus, das Ethos der Geschwisterlichkeit, die Lehre von der Auferstehung der Toten und vom göttlichen Gericht. All diese Werte und Überzeugungen stehen seiner Lebenswelt nahe. Diese Eigenschaften teilt das Christentum mit dem Judentum, das ebenfalls im ersten Jahrhundert eine attraktive Alternative zum erstarrten religiös sterilen und philosophisch unglaubwürdig gewordenen Staatskult darstellt. Anders als das Judentum forderte das Christentum nicht die Beschneidung und die Beachtung der großen Vielzahl zum Teil nur sehr schwer nachvollziehbarer Gebote.
Was dem pater familias des ersten Jahrhunderts schwer fallen muss, ist die apokalyptische Grundhaltung des Christentums. All sein Sinnen und Trachten ist ja gerade darauf ausgerichtet, Bestand und Sicherheit für die ganze ihm anvertraute Familie zu garantieren. Die städtischen Christen anerkennen das Werk der Apostel als der ersten Zeugen der Auferstehung Jesu Christi. Sie empfangen die wandernden Apostel und Propheten des Urchristentum als Menschen, die den eigenen geistigen Horizont auf willkommene Weise erweitern. Immer wieder in der neutestamentlichen Briefliteratur finden sich aber auch die Zeugnisse von Beunruhigungen in den Gemeinden, die als störend und destruktiv empfunden werden.
Ende des ersten Jahrhunderts tritt in der Ekklesiologie der Pastoralbriefe neben das ältere Modell der dynamisch sich verbreitenden Jesusbewegung der apokalyptischen Hoffnung auf den wiederkehrenden Christus ein eher bestandsorientiertes Modell der christlichen Gemeinde. Die Gemeinden verfestigen sich in den Städten nach dem Vorbild von Kultvereinen. Solche von der staatlichen Gewalt respektierten freiwilligen Zusammenschlüsse bildeten den rechtlichen Rahmen sowohl für die jüdischen Synagogen der griechisch-römischen Diaspora als auch für die neu entstehenden, aus dem persischen Bereich machtvoll herandrängenden Mysterienkulte. Auch das Christentum organisierte sich vereinsrechtlich.
Der Verein wiederum wird in Analogie zum erfolgreichen Modell des Hauses organisiert. Der Vereinsvorsteher (epískopos) wird an Tugenden und Eigenschaften gemessen, die genau denen eines guten Hausvaters entsprechen. Wie dieser soll jener ruhig, besonnen und bestandserhaltend zum Wohle aller wirken. Der Timotheusbrief entfaltet die Analogien von pater familias und epískopos als Norm: Der Gemeindevorsteher soll ein nüchterner, besonnener, gastfreundlicher Mann sein, fähig zu lehren, nicht gewalttätig, kein Trinker, nicht streitsüchtig, nicht geldgierig. Wer sich nicht als Familienvater in diesem Sinne bewährt hat, der kann schwerlich Vorsteher einer christlichen Gemeinde sein (1 Tim 3,1–2).
Mit der normativen Orientierung der christlichen Gemeinde am spätantiken Familienbetrieb wird ein erfolgreiches Modell einer Institution auf das Christentum übertragen. Verlässlichkeit, Stabilität, ein optimierter Organisationsgrad, gesteigerte ökonomische Möglichkeiten der christlichen Gemeinden sind die Folgen dieser neuen Programmatik der ekklesía als oíkos. Dies alles war auch nach dem Ausbleiben der Parusie und angesichts der Ausstoßung der Christen aus der Synagoge auf der Synode von Jamnia (87 n. Chr.) notwendig. Die Christen bedurften einerseits einer Infrastruktur, andererseits stellte die Synagoge diese nicht mehr einfach bereit.
Die Kehrseite der Medaille ist die unübersehbare Spannung zwischen der urchristlichen Naherwartung und christlichen Vereinen, die sich am Vorbild jener Familie orientierten, die die Jünger Jesu ja gerade verlassen hatten, um Jesus nachzufolgen (Mk 10,28). Dieser Grundwiderspruch zwischen notwendiger Institutionalisierung einerseits und der apokalyptischen Hoffnung auf das nahe Eingreifen Gottes muss die wachsende Kirche bleibend prägen. Er findet seinen Ausdruck im konflikthaften Verhältnis zwischen den örtlichen Autoritäten der Gemeinde einerseits und den umherziehenden christlichen Wanderpropheten, -aposteln und Lehrern andererseits.
Ein Effekt der Orientierung christlicher Gemeindeordnung an der antiken Familie ist die Übernahme der patriarchalischen Gestaltung der Leitung. So verbietet der 1. Timotheusbrief unter Berufung auf die Autorität des Paulus den Frauen das Lehren in der Gemeinde (1 Tim 2,12). Das Verbot macht schwerlich Sinn, wenn es in christlichen Gemeinden überhaupt keine Praxis der Lehre durch Frauen gegeben hat.
Das Missbehagen bei der Anwendung des Institutionbegriffes
In Apg 6 erscheint nach der biblischen Darstellung der Vorgänge in der Jerusalemer Urgemeinde die Ämterbildung als eine Reaktion auf Streitereien innerhalb der Gemeinde im Bereich der Witwenversorgung. Den sozialgeschichtlichen Hintergrund der Ereignisse dürfte die Funktion der jüdischen Synagogengemeinde als Sozialkasse gebildet haben. Diese Funktion übernimmt auch die christliche Gemeinde für ihre Mitglieder, worin nach der Kehl’schen Einteilung eine Sekundärinstitution zu sehen wäre. Diese aber wirkt nach dem Zeugnis des Lukas auf das von Kehl als primär eingestufte System der kirchlichen Ämter zurück. Die Rückwirkung wird möglich dadurch, dass die Zwölf in der Funktion der Gemeindeleiter der Gemeinde einen Vorschlag unterbreiten, der den Beifall der Gemeinde findet, die daraufhin entsprechend verfährt. Die Apostelgeschichte führt die kommunikative Lösung eines institutionellen Problems vor. Dabei erweist sich die Institution als flexibel und entwicklungsfähig. Die handelnden Subjekte sind in der Lage, gegenüber der Institution eine kritisch reflektierende und reformerische Haltung einzunehmen.
Der Bericht aus der Apostelgeschichte macht Schwachstellen des Institutionendenkens deutlich: Es ist strukturell konservativ und nimmt Menschen primär als reaktiv und als eingebunden in Regelsysteme wahr. Es vernachlässigt die Aspekte der reflexiven Distanz und der Innovationsfähigkeit. Die theologische Rezeption der Sprechakttheorie belichtet durch den Gedanken der kommunikationskonstitutiven Bedeutung von Regeln einseitig die reproduktive Dimension des Sprechhandelns. Sprechhandeln eröffnet aber auch die Möglichkeit der kommunikativen Konsensbildung über Regeln. Das biblische Beispiel zeigt, dass dies vorzugsweise im Bereich der praktischen Kirchenorganisation gefordert ist. Hier gilt es, den sich zeigenden Bedürfnislagen zu entsprechen, die „Zeichen der Zeit“ zu erkennen und entsprechend zu handeln. So erweist sich Kirche als reformfähige Institution und entspricht damit ihrem offenbarungsgemäßen Selbstverständnis als dienstbares Werkzeug des eschatologischen Wirkens Gottes. Die darin beschlossene Selbstrelativierung aber ist dem Institutionsbegriff fremd, besteht doch der Sinn einer Institution gerade darin, das Grundgefühl von Gewissheit und Verlässlichkeit zu erzeugen. Kirche dagegen hat dieses Gefühl nicht zu erzeugen, sondern Gewissheit und Verlässlichkeit als Eigenschaften des eschatologisch handelnden Gottes zu bezeugen und sich selbst gegenüber diesem Zeugnis zu relativieren.
Jürgen Werbick folgert aus der inneren Spannung zwischen einer wie alle Institutionen auf innerweltliche Dauer angelegten Kircheninstitution und der apokalyptischen Predigt des radikalen Theozentrikers Jesus von Nazaret, dass die Kirche wesentlich eine „unmögliche Institution“ ist, die sich nur da angemessen selbst realisiert, wo sie ihre eigene Institutionalität immer wieder um des Ereigniswerdens der endzeitlichen Heilswirksamkeit Gottes willen verneint. Kirche als „unmögliche Institution“ lebt aus der stets neu zu gewinnenden und zu rettenden Paradoxie, dem U-topischen in der Welt einen Ort zu geben (Werbick/37:408).
Die Kirche als vollkommene Institution
Historisch hat sich die Bedeutung des Bereiches der Institutionalität in dem Maße aufgebaut, in dem die faktisch geschichtsbestimmende Kraft der Kirche nachließ.
Einen ersten und überaus wichtigen Einschnitt markiert die Reformation des sechzehnten Jahrhunderts. Durch die Reformation wird die Einheit der christlichen Kirche im Abendland aufgehoben. Wenn es auch zuvor in der einen Kirche des Westens eine Pluralität der Bekenntnisse gab, so tritt mit der Reformation ein Antibekenntnis auf, das über sein Sola-scriptura-Prinzip einen exklusiven Wahrheitsanspruch erhebt. Der Versuch einer gewaltsamen Unterdrückung dieses Anschlages auf die religiöse Einheit scheitert in den Religionskriegen des 16./17. Jahrhunderts so gründlich, dass sich danach die politische Einsicht durchsetzt, dass nicht die religiöse Pluralität die Gemeinschaft gefährdet, sondern der überzogene Geltungsanspruch der Religionen (Pannenberg/223:32–54). Staat, gesellschaftliche Ordnung, ja, sogar die Religion selbst werden in den Staatsphilosophien der Aufklärung nicht mehr auf Offenbarung und Offenbarungstradenten gegründet, sondern auf eine allen Menschen unabhängig vom religiösen Bekenntnis gemeinsame menschliche Natur.
Der Streit um die Sichtbarkeit der Kirche
Für den Protestantismus war diese neue Situation keine Beunruhigung. Christsein wird durch ihn ja im Sinne eines theologisch höchst qualifizierten Glaubensbegriffes interpretiert. Nicht äußere Zustimmung zu einem Lehrgebäude ist für ihn das Kriterium der Kirchengliedschaft, sondern das innere Ergriffensein vom rechtfertigenden Gotteswort, wie es die Heilige Schrift bezeugt und die Predigt verkündet: Nur durch den Glauben wird ein Mensch der Kirche Christi eingefügt. Auf diese Weise wird Innerlichkeit zum konstitutiven Aspekt von Kirchesein. Die Konsequenz ist die theologische Entinstitutionalisierung der Kirche. Sie wird mehr und mehr zu einem Ereignis des inneren Lebens, ja, sie wird zur unsichtbaren Kirche.
Gegen diese reformatorische Logik erhebt nun die katholische Kirche ihren Anspruch darauf, universal im Sinne der göttlichen Offenbarung prägende gesellschaftliche Macht zu sein. Ohne eine auch gesellschaftlich vermittelte Form der Glaubenstradition kann es kein Ergriffensein vom Gotteswort geben. Der italienische Jesuitentheologe Robert Bellarmin (1542– 1621) wird zum prominentesten gegenreformatorischen Kämpfer für die Sichtbarkeit der Kirche (Zu den Kontroversen der Reformationszeit um die Sichtbarkeit der Kirche: Diez/83). Bellarmins berühmtes Diktum, die Kirche sei so sichtbar wie das Königreich Frankreich oder die Republik Venedig (Controversiae generales, De conciliis III, c. 2), gibt der Kirchenentwicklung das Programm vor. Die katholische Kirche konzipiert sich selbst als eine Größe in Analogie zu den sich entwickelnden neuzeitlichen Staaten mit ihren Verfassungen, Gesetzen, prozeduralen Regelungen der Machtausübung und mit ihrer extremen Betonung einer staatliche Einheit garantierenden Zentralgewalt. Die Kirche wird zu einer straff durchorganisierten, pyramidal geordneten Körperschaft mit einer starken Führungsspitze. Von ihren Mitgliedern fordert sie die Zustimmung zur approbierten Lehre, die Unterwerfung unter die legitime Obrigkeit und ein Mindestmaß an sakramentaler Observanz (Bellarmin, ebd., De ecclesia militante, c. 2). Im Gegenzug dürfen die Kirchenglieder geistliche Nahrung und das ewige Leben von der Kirche erwarten. Die Kirche als Institution erwirkt für ihre Mitglieder qua Mitgliedschaft das Heil. Sie ist „Arche des Heils“, ein Schiff, das alle an Bord zur ewigen Seligkeit bringt, der Tempel Gottes, das „Haus voll Glorie“. Die innere Haltung und Überzeugung wird bewusst als etwas Zweitrangiges angesehen.
In der katholischen Erneuerungsbewegung der zwanziger Jahre feiert der intellektuelle Katholizismus die Überwindung des Kantianismus durch eine Rückbesinnung auf den Objektivismus des Mittelalters als „neue Kultur der Objektivität“ (Ruster/73:89). Der Objektivismus wird als eine typisch katholische Intuition erkannt und zelebriert.
„Pastor aeternus“
Mit dem Abschluss der Nationalstaatenbildung in Europa und der damit verbundenen Auflösung des Kirchenstaates (1871) eskaliert im ausgehenden neunzehnten Jahrhundert der Konflikt zwischen der katholischen Kirche und den sich von der kirchlichen Führung ablösenden Nationen Europas.
Mit dem Konzilsdekret „Pastor aeternus“ rüstet das Vaticanum I die katholische Kirche in dieser Situation mit einem neuen, kräftigen Institutionalisierungsschub: Die gesamte kirchliche Hierarchie wird konsequent von der Einsetzung durch den menschgewordenen Gott hergeleitet. Zu dieser Einsetzung gehört auch der Primat des Petrus, der auf seine Nachfolger im römischen Bischofsamt übergeht: Jesus sandte die Apostel für die Einheit der Kirche (DH 3050), Garant der Einheit der Apostel ist Petrus (DH 3051). Mit der Metaphorik, die das Konzil wählt, um die Stellung Christi und des Papstes in der Kirche zu umschreiben, signalisiert es seine politische Stoßrichtung: Christus, der „Fürst der Hirten“ (princeps pastorum). Er erhebt Petrus zum Fürsten und Haupt der Apostel (Apostolorum princeps et caput), zur Säule des Glaubens, zum Fundament der Kirche (DH 3056): Nach dem absolutistischen Muster der Rechtfertigung von Herrschaft durch Herkunft wird der Papst zum Fürsten, herkünftig von Fürsten, die eingesetzt wurden von einem Fürsten. Als Fürst hat er den Kampf der Kirche um ihren Ort in der Welt anzuführen. Pius IX. benennt gemeinsam mit dem I. Vaticanum die Motive für die Stärkung des Papstamtes: „[…] weil sich die Pforten der Unterwelt […] täglich mit größerem Hass von überall her gegen ihr von Gott gelegtes Fundament erheben, erachten Wir […] es für notwendig, die Lehre von der Einsetzung, Fortdauer und Natur des heiligen Apostolischen Primates, in dem die Kraft und Stärke der ganzen Kirche besteht, allen Gläubigen […] vorzulegen, […]“ (DH 3052). Auch hier sind es historische Entwicklungen, die dazu veranlassen, eine dogmatische Lehre explizit zu machen, die die institutionelle Struktur der Kirche betrifft.
Die Kirche wird zu einem zentralistischen Idealstaat: „Die von Jesus Christus gestiftete Kirche hat das Wesen einer gesetzlichen, notwendigen, übernatürlichen und vollkommenen Gesellschaft“, denn sie verfügt über „jene drei Elemente“, die „nach allgemein menschlichem Verständnis“ eine „vollkommene Gesellschaft“ ausmachen: „1. Autorität, Gesetze zu geben, 2. das Recht, Zwang auszuüben durch das Verhängen von Lohn und Strafe, 3. die richterliche und vollziehende Strafe. Hinzu kommt das Recht des authentischen Lehramtes und des Priesteramtes.“ (Schrader/ 74:230). All diese Merkmale echter Gesellschaftlichkeit kulminieren in dem unter der Regentschaft eines absoluten Souveräns kodifizierten Recht in der Gestalt des 1917 in Kraft gesetzten Codex Iuris Canonici. Das allgemeine menschliche Verständnis einer vollkommenen Gesellschaft (societas perfecta) ist eben nicht einfach allgemein, sondern unterliegt den jeweiligen epochalen Gestalten der Machtausübung.
Der Erfolg gibt der Einschätzung der Konzilsväter Recht: In Deutschland gelingt es der katholischen Kirche, mit dem straffen, auf Rom ausgerichteten, deshalb ultramontan genannten Führungskonzept eine katholische Separatgesellschaft innerhalb des Nationalstaates aufzubauen. Im Kulturkampf des ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts erstarkt dieses katholische Milieu in Deutschland und leistet so einen entscheidenden Beitrag zur Entwicklung der deutschen Zivilgesellschaft. Neben das überwiegend vom staatlich gepflegten nationalen Sendungsbewusstsein geprägte öffentliche Denken und Meinen tritt die katholische Welt mit ihrem universalistischen Anspruch. In der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts erreicht der Katholizismus als „geschlossener Parallelkosmos“ eine von keiner anderen gesellschaftlichen Gruppe erreichte Prägekraft.
Der moderne Pluralismus und der Institutionscharakter der Kirche
Der Ultramontanismus konnte in Deutschland durch die konfessionelle Segmentierung, wie sie der Augsburger Religionsfriede heraufgeführt hatte, erstarken. Das Prinzip „cuius regio – eius religio“ garantierte konfessionell homogene Gebiete, in denen sich das katholische Milieu als alle Lebensbereiche mit seiner objektiv formenden Kraft durchdringende Größe entfalten konnte. Die Nachkriegszeit bringt mit den kriegsbedingten Bevölkerungsverschiebungen einen entscheidenden Umbruch (Damberg/47). In der nun eintretenden Situation eines alltäglich erlebbaren konfessionellen Pluralismus verschwimmen die Milieugrenzen. Die Geschlossenheit der societas perfecta muss einer pluralen geistigen Situation weichen, wie sie grundsätzlich seit der Reformation das geistige und gesellschaftliche Leben Europas prägt. Die Kirche wird erfahrbar zur Kirche neben anderen Kirchen.
Die konfessionelle Pluralität wird multipliziert durch die Migrationen des zwanzigsten Jahrhunderts. Massentourismus und Globalisierung führen zu einer Weitung des konfessionellen zu einem religiösen und weltanschaulichen Pluralismus. In der Folge dieser Entwicklungen steht die Kirche, die in ihrem eigenen Selbstverständnis und von ihrem historischen Ursprung her Sinnbild und Agentin der Einheit aller Menschen sein will, als eine weltanschauliche Körperschaft neben anderen da. Das Wählen (griech: haírein) wird zum gesellschaftlich sanktionierten Normalfall in Religionssachen, zur gesellschaftlich anerkannten Religion. Der Soziologe P. L. Berger spricht von einem „Zwang zur Häresie“ (Berger/232).
Dem weltanschaulichen Pluralismus und dem mit ihm verbundenen Zwang zur Wahl entspricht innerkirchlich das von Medard Kehl so genannte Phänomen der „partiellen Identifikation“ (Kehl/28:184–186): Der makrosoziologische Kontext der Kirche ist geprägt durch einen prinzipiellen Pluralismus. Er legt dem Einzelnen nahe, seiner Kirche gegenüber ein auswählendes Verhalten an den Tag zu legen: In unterschiedlichen Intensitätsgraden wählt der Einzelne aus dem Angebot seiner Kirche aus, was ihm „etwas bringt“. Im Amerikanischen spricht man von „church-shopping“. Die institutionelle Kirchenbindung der Menschen gestaltet sich unter diesen Umständen sehr unterschiedlich: Das Spektrum reicht von dem „exklusiven Typus“, der sich fest an die Traditionen seiner Kirche bindet, über den volkstümlich Religiösen, der sich immer schon seinen Lieblingsheiligen zu wählen wusste, bis zum autozentrisch Religiösen, der sich seine Religion im Sinne einer patchwork-Identität selber macht (Englert/234:24–26).
Das Konzept der sich institutionell definierenden Kirche, das große geschichtliche Leistungen hervorgebracht hat, ist in einer fundamentalen Krise. Der katholischen Kirche gelingt es in der derzeitigen gesellschaftlichen Situation nicht, für eine überwiegende Mehrheit ihrer Mitgliedschaft eine institutionelle Bindung aufzubauen, wie sie die derzeit Verantwortlichen in ihrer eigenen durch das katholische Milieu geprägten Kindheit noch erlebt haben. Einerseits reagieren Katholiken auf diese Situation, indem sie ein institutionalistisches Modell mit geringerer Massenbasis euphemisierend vertreten als „Modell der kleinen Herde“. Loyale Geschlossenheit wird in diesem Fall höher bewertet als missionarische Anziehungskraft. Nicht selten begreifen Vertreter dieses Modells Kirche in Analogie zum bürgerlichen Verein, dessen Mitglieder durch Satzung die Bedingungen der Mitgliedschaft festlegen. Andere katholische Christen fordern die theologische Kritik des institutionalistischen Paradigmas. Sie ahnen, dass die theologische Wahrheit der Kirche verfehlt wird, wo das erfolgreiche institutionalistische Modell mit dem Wesen der Kirche selbst verwechselt wird.
Zur Kritik des institutionalistischen Kirchenmodells
Das Modell der staatenähnlichen Großinstitution ist als Selbstentwurf der Kirche nur bedingt sachgerecht. Mit Avery Dulles können als die großen historischen Leistungen des institutionalistischen Kirchenmodells benannt werden: Stabilität, Loyalität, missionarische Effizienz und eine eindrucksvolle katholische „corporate identity“: „Andere Christen beneideten die Katholiken oft um ihren Korpsgeist.“ (Dulles/25:43). Es ist aber auch zu beachten, dass das institutionalistische Paradigma auf der Basis der Übertragung außerkirchlicher Modelle auf die Kirche funktioniert. Daraus ergibt sich aber, dass das institutionalistische Modell mit der zerfallenden Plausibilität seiner säkularen Vorbilder in eine Rechtfertigungskrise gerät. In dieser Rechtfertigungskrise ist es klug zu prüfen, welche wünschenswerten Leistungen das Modell für die Kirche erbracht hat. Es ist aber ebenso geboten, nach Modellen Ausschau zu halten, die der gegenwärtigen historischen Situation angemessener sind.
Die Kirche als Gründung (Stiftung) Jesu Christi
Jesus als Gründer der Kirche
Die Deutung des Phänomens Kirche in Analogie zu menschlichen Vereinen, Staaten und Institutionen wurde theologisch verankert durch die Lehre von der Gründung der Kirche durch den historischen Jesus. Ihren Glauben an dieses historische Faktum mussten kirchliche Amtsträger ab 1910 bis 1967 durch Ablegen des von Pius IX. durch Motu proprio eingeführten Antimodernisteneides (DH 3537–3550) bekräftigen: Die Kirche wurde „durch den wahren und geschichtlichen Christus selbst, als er bei uns lebte, unmittelbar und direkt eingesetzt“ (DH 3540). Diese Überzeugung war für ein institutionalistisches Kirchenverständnis deshalb so wichtig, weil die Legitimität der konkreten Kirche als einer geregelten Einrichtung hergeleitet wurde von einer positiven Setzung durch Jesus Christus.
Jesus Christus als der Ursprung der Kirche wurde zu ihrem Gründer in einem körperschaftsrechtlichen Sinn. Der menschgewordene Gott handelt bei der Kirchengründung als innergeschichtliche Rechtsperson. Der besonderen Würde des göttlichen Gesetzgebers entspricht die unwandelbare Dauer des von ihm gestifteten Rechts, das „ius divinum“ ist, göttliches Recht. Die Gestaltung des Petersdomes bringt das entsprechende Institutionendenken auf eindrucksvollste Weise sinnenfällig zum Ausdruck: Über dem unscheinbaren, antiken Fundament des Petrusgrabes wölbt sich die Kuppel des Domes zur kosmischen Metapher der alle und alles umfassenden Kirche. Die gigantischen Ausmaße des Gebäudes ebenso wie seine Schönheit zwingen zur dankbaren Affirmation kirchlicher Unwandelbarkeit. Den diese Kuppel tragenden kreisrunden Sockel ziert als Spruchband das Herrenwort, in dem die Kirche nicht nur ihre göttliche Gründungsurkunde erkennen wollte, sondern auch die göttliche Einsetzung des Petrus und seiner Nachfolger zum Fundament dieser Kirche sowie die Heilszusage der Beständigkeit im Angesicht einer feindlichen Welt: „Tu es Petrus et super hanc petram aedificabo ecclesiam meam et portae inferi non praevalebunt adversus eam“ (Mt 16,18).
Alle Konzession an die Mittelbarkeit und nachösterliche Entwicklung der Kirche wäre als eine Konzession an die grundsätzliche Wandelbarkeit und als eine Minderung der absoluten Autorität des Papstes empfunden worden, die sich im juridischen Sinne vom autoritativen innergeschichtlichen göttlichen Gründungsakt herleitet: In Jesus Christus hat Gott innergeschichtlich gehandelt, indem er die Kirche als Rechtskörperschaft einsetzte.
Als der französische Jesuit Alfred Loisy 1902 die katholische Kirche als eine organische Entfaltung des mit Jesus gesetzten Anfangs darstellt (Loisy/32:113 ff.), bestreitet ein Dekret des Heiligen Offiziums 1907 das Recht des Exegeten auf weisungsungebundene historische Forschung (DH 3401). Das ist konsequent, denn mit dem historischen Gründungsakt wird ein geschichtliches Faktum zum Glaubensinhalt erhoben. Historische Fakten sind in der Regel aber nicht dem religiösen Glauben, sondern der empirischen Wahrnehmung gegeben, nach der der Historiker auch mit dem Mittel des methodischen Zweifels forschen können muss. Dem historischen Zweifel aber wird durch den Entscheid gegen Loisy von 1907 das innerkirchliche Recht bestritten.
Jesus als Initiator der Kirche
Inzwischen hat sich die lehramtliche Verkündigung zur Frage des Ursprunges der Kirche aus der Predigt, dem Handeln, Leiden, Sterben und Auferstehen Jesu erheblich gewandelt. Das Vaticanum II erklärt zur Frage der Kirchengründung durch den historischen Jesus: „Denn der Herr Jesus machte den Anfang der Kirche (initium fecit), indem er die frohe Botschaft verkündete, die Ankunft nämlich des Reiches Gottes, das von alters her in den Schriften verheißen war.“ (DH 4105) Der Anfang dieses Reiches leuchtet im Wort. Es ist „schon auf Erden angekommen“. Es wird erwiesen durch die Wunder Jesu. Vor allem aber wird es offenbar im Leiden, Sterben und in der Auferstehung Jesu. Vom Auferstandenen empfängt die Kirche „die Sendung, das Reich Gottes anzukündigen (missionem accipit Regnum Christi et Dei annunciandi) und in allen Völkern zu begründen, und sie stellt Keim und Anfang dieses Reiches Gottes auf Erden dar“ (DH 4106).
Der juridische Terminus der „missio“ zur Bezeichnung des Gründungshandelns ist nicht mehr an das Handeln des irdischen Jesus geknüpft, sondern an ein Handeln des erhöhten Herrn, der im Heiligen Geist seine Kirche aussendet. Es verliert dadurch das Starre der juridischen Vorschrift und wird als eine dynamisch sich entwickelnde Wirklichkeit gesehen. Diese dynamisch-entwicklungsoffene Perspektive bringt das Konzil auch durch die Metapher vom wachsenden Keim des Gottesreiches zum Ausdruck (huiusque Regni in terris germen et initium constituit: DH 4016). Die Kirche hat eine Entwicklung vom jesuanischen Anfang an hinter sich, und sie hat eine Entwicklung der Vollendung entgegen vor sich.
Eine solche Sichtweise kann sich durchaus versöhnen mit dem damals als häretisch empfundenen, berühmt gewordenen Diktum Loisys: „Jesus verkündigte das Gottesreich, was gekommen ist, ist die Kirche.“ (Loisy/ 32:116). Terminologisch kann die neue Sichtweise zum Ausdruck gebracht werden, indem der vereinstechnische Terminus der Gründung (institutio) hinter Begriffen zurücksteht, die eher das dynamisch-eschatologische Wirken Gottes durch seine Kirche zum Ausdruck bringen: Die Kirchenkonstitution des Vaticanums II stellt dementsprechend den Sammlungsbegriff dem Gründungsbegriff voran: Gott hat die Versammlung seiner Gläubigen „zusammengerufen“ und so seine Kirche „gegründet“ („Deus congregationem eorum […] convocavit et constituit Ecclesiam […]“: DH 4124).
Die kritische Sichtweise des Verhältnisses von Gottesreich und Kirche
Wenn die Vorstellung einer juridisch-institutionellen Stiftung der Kirche durch Jesus als historische Wahrheit nicht mehr vertreten wird, so muss doch geklärt werden, auf welche Weise Jesus zur Entstehung der Kirche beigetragen hat. Leicht könnte das Loisy-Wort sonst so missverstanden werden, wie es in den siebziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts gerne gebraucht wurde, als bonmot nämlich, mit dem man den himmelweiten Unterschied betonen wollte zwischen einem als zu starr empfundenen Kirchenapparat einerseits und der jesuanischen Vision vom Gottesreich andererseits. Damals zitierte man in dem selben Zusammenhang gerne Dostojewskis Legende vom spanischen Großinquisitor, der den wiederkehrenden Jesus von Nazaret verhaften lässt, weil er seine Kirche nur störe.
Wenn wir heute die Frage nach dem Zusammenhang von historischem Jesus und dem Werden der Kirche stellen, so geschieht dies einerseits in der gläubigen Hoffnung, dass die Kirche in bleibender Gemeinschaft mit Jesus Christus steht, lebt und sich entfaltet. Diese Überzeugung aber mit der historischen Nachfrage nach Jesus zu verbinden ist deshalb notwendig, weil die Kirche keinen doketistischen Christus verkündet, sondern ihren Christus im historischen Jesus erkennt, dessen historisch-konkretes Handeln und Wollen für die Kirche als Norm und Korrektiv zu erfragen sind.
Was kann die historisch arbeitende Exegese beitragen zur Beantwortung der Frage, ob und wie Jesus seine Kirche gewollt habe?
Historischer Jesus und Kirche
(Zum Folgenden: Lohfink/7) Der historische Jesus richtet seine Botschaft vom Gottesreich an das Volk Israel. Der von Jesus berufene Kreis der Zwölf (Mk 3,13–19; parr.) repräsentiert die Zwölf Stämme Israels. Jesus beabsichtigte die endzeitliche Sammlung des Gottesvolkes. Diese endzeitliche Sammlung ist eine eschatologische Neuschöpfung, eine Erneuerung des einen Bundes mit Israel.
Mt 16,18 kann nicht als historische Gründungsakte herangezogen werden. Der ausschließlich bei Mt überlieferte Text steht bei den Exegeten im Verdacht, eine nachösterliche Gemeindebildung zu sein. Zudem wäre zu fragen, welche Vorstellung sich für den historischen Jesus mit dem ansonsten von ihm nicht überlieferten Begriff „ekklesía“ verbunden haben dürfte. Dem Historiker verbietet sich aus methodischen Gründen die Annahme, Jesus habe bereits an die geregelte, unter einem Vorsteher versammelte Haus-gemeinde gedacht, an die das griechische Verb „oikodomeîn“ (bauen) erinnert, weil dessen Stamm „oiko-“ sich auf das bezieht, was man üblicherweise baut, nämlich ein Haus. Jesus aber sprach kein Griechisch und dürfte statt von der Gemeinde im Sinne der ekklesía von der Gemeinde Israels im Sinne der „qâhâl JHWH“ gedacht haben. Damit ist aber gerade keine vereinsartige Institution assoziiert.
Die Sammlungsbewegung Israels weitet sich erst nach dem Tod Jesu, insbesondere durch die paulinische Heidenmission für alle Menschen. Bereits 33 n. Chr. beginnt mit der Bekehrung des Paulus die gesetzesfreie Heidenmission (Dormeyer/48:21). Die Tatsache, dass diese Heidenmission auf keinen nennenswerten Widerstand in der Urgemeinde stößt, lässt den Schluss zu, dass sie im Handeln und Denken Jesu bereits impliziert war. Das Judentum selbst musste sich nicht heilsexklusivistisch verstehen. Im prophetischen Motiv der Völkerwallfahrt zum Zion (Jes 2,1–4) wird der Kreis derer, die Gott über seine Wege belehrt, nicht nur so sehr geweitet, dass er „alle Völker“ umfasst, auch wird Israels heilsgeschichtliche Rolle in diesem wahrhaft universal geschichts- und menschheitserlösenden Wirken Gottes verstehbar: Der Zion bezeichnet den Versammlungsort aller Völker. Es ist der Gott Israels und es sind seine Weisungen und Wege, die die Menschen zu einer friedvollen Einheit zusammenströmen lassen. Jesus selbst spielt auf dieses Theologoumenon der Völkerwallfahrt zum Zion an, ohne daran die in seiner Zeit durchaus nicht unüblichen verfassungstheoretischen Überlegungen über das Zusammenleben von Israel und den Völkern anzustellen (Mk 11,17: Dormeyer/48:19).
Dem in der jüdischen Tradition selbst angelegten Heilsinklusivismus entspricht Jesus als der Heiler der Heiden (Mt 8,5–13; Mk 7,25–29), als derjenige, der den Glauben der Heiden bewundernd bejaht (Mt 8,10 parr. Lk 5,9). Die Jesusgruppe hielt sich wiederholt im heidnischen Bethsaida auf (Mk 6,45; 8,22).
Die Deutung seines bevorstehenden Todes durch Jesus selbst lässt nicht den Schluss zu, Jesus habe seine Heilsbotschaft von Israel als ihrem primären Adressaten abgewendet, um nun statt dessen den Heidenvölkern Gottes Reich zuzusprechen. Dieses Theologoumenon der Verwerfung Israels ist nicht jesuanisch, sondern entspricht der Theologie des Evangelisten Matthäus, der in Mt 21 die Verweigerung Israels gegenüber dem Messias thematisiert (Mt 21,9) und der Ablehnung Jesu eine Verwerfung Israels entsprechen lässt. Dabei kann Matthäus auf den Prophetenmordtopos zurückgreifen, mit dem bereits die Logienquelle das Schicksal Jesu nach dessen Tod und Auferstehung als typisches Prophetenschicksal in Israel deutet. Diese Rückbindung der Todesdeutung Jesu an einen innerisraelitischen Topos macht zugleich deutlich, dass die Verwerfungstheorie der Redenquelle Q und die von ihr abhängige des Matthäusevangeliums selbst die Verwerfung noch mit innerjüdischen Kategorien beschreibt und so mit dem Verwerfungstopos die Einheit Jesu mit dem Volk Israel unterstreicht.
Eine Kirchengründung im Sinne einer institutionellen Setzung gegen Israel scheidet somit als Ursprungsereignis der Kirche aus. Vielmehr ist an einen zunächst innerjüdischen Differenzierungsprozess zu denken, in dem die Gruppe der Christen immer eindeutiger ein universalistisches Profil herausbildet und immer mehr zur Kirche der Heiden wird.
Jesu Verhältnis zur Kirche kann nicht beschrieben werden als die konstitutionelle Setzung einer institutionellen Körperschaft. Die Einsetzung des Zwölfergremiums ist eschatologische Zeichenhandlung, die sich auf die Erneuerung Israels bezieht. Die Zwölf erhalten bei ihrer Aussendung die Aufgaben der Verkündigung und der Dämonenaustreibung (Mk 3,14). Damit sind keine exklusiven Amtsvollmachten innerhalb einer Hierarchie bezeichnet (Dormeyer/48:19ff.)