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II

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Nachdem Guntram Seidel gut zwei Stunden im Wartezimmer gesessen und gewartet hatte, nachdem immer wieder Patienten ins Arztzimmer herein gerufen worden waren, um dann, ein Rezept in der Hand, wieder hinaus zu kommen, öffnete sich endlich die Tür und die blonde Schwester Bärbel, die er schon als Kind gekannt hatte, steckte den Kopf hindurch und ins Wartezimmer und flötete mit hoher Stimme: „Herr Seidel bitte!“

Guntram Seidel schlurfte in den Vorraum des Sprechzimmers, wo die Schwester hinter ihrem Tresen saß. Er wusste, dass nun, wie immer, zuerst der Blutdruck gemessen wurde.

„Morgen, Kindchen!“, sagte Guntram Seidel mit müder und ein wenig tonloser Stimme, setzte sich unaufgefordert an den Tisch und knöpfte den rechten Hemdsärmel auf.

Bärbel, vielleicht um ihre Verlegenheit zu bemänteln, redete ihn stets in der dritten Person an.

„Er weiß ja schon, was jetzt kommt!“, flötete sie und zog einen Schmollmund, packte das Gerät zum Messen des Blutdruckes aus und legte ihm umständlich die graue aufblasbare Manschette mit den Klettverschlüssen an.

„Wie geht’s denn so, Kindchen?“, fragte Guntram Seidel müde, während er den wachsenden Druck der Manschette um seinen Arm spürte.

„Geht so! Man hat Arbeit und das ist heute schließlich das Allerwichtigste!“

„Ja, ja!“, antwortete Guntram Seidel: „Unselige Zeiten! Wie ist denn mein Blutdruck?“

„Gerade noch so im Rahmen!“ Und mit mitleidvollem Blick: „Immer noch so viel Ärger, Guntram?“

„Immer, Kindchen, immer!“

„Na dann auf, der Doktor wartet schon!“

Guntram Seidel schlurft in seiner gebückten Haltung, den Kopf ängstlich vorgereckt, als erwarte er auch vom Doktor nichts Gutes, in das Behandlungszimmer.

Doktor Hosse geht auch bereits auf die Sechzig zu. Er hat schon die Eltern von Guntram Seidel gekannt und behandelt und er war der Arzt seiner Frau und Kinder. Wenn es jemanden in Klein Piesicke gibt, der die Familie von Guntram Seidel inklusive Blutdruck und aller Gebrechen kennt, so ist es der Doktor Hosse.

Doktor Hosse sitzt in weißer Hose, weißem T-Shirt und offenem weißem Kittel hinter seinem Schreibtisch. An den Füßen trägt er weiße Tennissocken und weiße Birkenstock-Latschen. Er ist schmal und hochgewachsen. Sein Haar und sein kurz geschnittener Vollbart sind schlohweiß.

Hinter der randlosen Brille blicken ein paar hellwache und kluge Augen den Besucher an, als gelte es, ihn zu durchleuchten.

„Na Guntram?“, fragt Doktor Hosse leutselig: „Wo fehlt es uns denn heute?“ Und er weist auf den Stuhl vor dem Schreibtisch, auf dem sich Guntram Seidel ächzend nieder lässt.

„Das Bein!“, stöhnt Guntram Seidel: „Das linke Bein. Vor allem das Knie. Tut höllisch weh beim Laufen und nachts, wenn ich auf der linken Seite liege und ein wenig geschwollen ist es auch!“

Doktor Hosse sieht sich Guntram eine Weile interessiert an, wobei eine Mischung aus kalter Neugier und tiefem menschlichen Mitgefühl in seinem vom Segeln gebräunten Gesicht sichtbar wird.

„Dann mach mal das Knie frei, Guntram!“, sagt Doktor Hosse und beugt sich hinab, um Guntrams Knie zu betrachten und zu befühlen, während der noch umständlich, ächzend und mit zittrigen Händen den Saum seiner Jeanshohe nach oben krempelt, bis seine dünnen blassblauen Waden mit den vielen Krampfadern sichtbar werden und darüber ein unförmig geschwollenes Knie, das fast den Umfang eines Kinderkopfes angenommen hat.

„Immer langsam, Guntram!“, mahnt der Doktor, der um das Schicksal der Familie Seidel weiß: „Wir haben Zeit!“

„Ach, Doktor!“, keucht Guntram Seidel und so etwas wie ein Schluchzen kommt ihn an, während er spricht: „Wenn es doch nur Krebs wäre mit dem Knie! Knochenkrebs und Endstadium, dass ich endlich abreisen könnte, von dieser unseligen Welt!“

„Na, aber, Guntram! Wer wird denn gleich an so etwas denken?“, sagt der Doktor mahnend, während er das geschwollene Knie befühlt und betastet. Und als er fühlt und tastet, denkt der Doktor Hosse, dass der Guntram Seidel im Grunde Recht hat, mit dem, was er sagt und sich wünscht. Aber Krebs ist es trotzdem nicht, mit dem Knie. Kein ossäres Sarkom. Wohl nur eine Belastung, vom vielen Laufen und von der Arbeit in Haus und Garten.

„Also Krebs, isses nich, Guntram!“, sagt der Doktor und krempelt Guntram Seidel das Hosenbein der Jeans wieder herunter: „Bisschen heiß und bisschen geschwollen! Na, ick schreib Dir wat auf! Und viel kühlen, Guntram!“

„Ja, ja!“, nickt Guntram und er denkt daran, dass der Doktor mit ihm, einem Kassenpatienten und armen Schlucker, schließlich nicht viel Aufhebens machen wird. Und dass es dem Doktor und dieser kruden Gesellschaft im Dorf letztendlich ganz egal ist, ob er Schmerzen hat und vielleicht stirbt.

Also nimmt er das Rezept, das der Doktor ausgestellt, unterschrieben und abgestempelt hat und schlurft krumm und grußlos nach draußen und durch das Wartezimmer hindurch, in dem es immer noch nach Mensch riecht und in dem sie die Köpfe zusammen stecken und hinter seinem krummen Rücken über ihn tuscheln. Muss er also noch nach der Märkischen Apotheke gehen, um die Schmerztabletten abzuholen, die ihm der Doktor aufgeschrieben hat. Und dort, in der Märkischen Apotheke, wollen sie auch wieder nur Geld von ihm. Steckten doch schließlich alle nur unter einer Decke, wenn es darum ging, einem armen Schlucker wie ihm, die letzten paar Geldstücke aus der Tasche zu ziehen.

Über den Marktplatz, auf dem die bunten Verkaufswagen des Metzgers und des Bäckers stehen, schlurft Guntram Seidel zur Märkischen Apotheke, während die frisch restaurierte Turmuhr auf dem Rathaus von Klein Piesicke blechern das Lied „Märkische Heide, märkischer Sand“ klimpert.

Für den Bürger hatten sie keinen Pfennig, ging es Guntram Seidel durch den Kopf, während er über das Pflaster des Marktplatzes von Klein Piesicke schlurfte. Aber für ihr albernes Glockenspiel gaben sie Zehntausende aus. Eigens aus Berlin musste ein Handwerker dazu kommen. Direkt aus der Hauptstadt. Und obwohl ihm eigentlich nicht danach ist, summt Guntram Seidel die altbekannte Melodie mit und fällt schließlich sogar in halblauten kehligen Gesang ein, so wie es Vater und Großvater bereits taten, immer dann, wenn irgendwo dieses alte Lied angestimmt wurde:

„Märkische Heide, Märkischer Sand

Sind des Märkers Freude, Sind sein Heimatland.

Steige hoch, du roter Adler, Hoch über Sumpf und Sand,

Hoch über dunkle Kiefernwälder, Heil dir mein Brandenburger Land.

Uralte Eichen, Dunkler Buchenhain, Grünende Birken stehen am Wiesenrain. Steige hoch, du roter Adler, Hoch über Sumpf und Sand,

Hoch über dunkle Kiefernwälder, Heil dir mein Brandenburger Land.

Blauende Seen, Wiesen und Moor, Liebliche Täler, Schwankendes Rohr.

Steige hoch, du roter Adler, Hoch über Sumpf und Sand,

Hoch über dunkle Kiefernwälder, Heil dir mein Brandenburger Land.

Knorrige Kiefern leuchten im Abendrot, Sah'n wohl frohe Zeiten,

Sah'n auch märk'sche Not. Steige hoch, du roter Adler,

Hoch über Sumpf und Sand, Hoch über dunkle Kiefernwälder,

Heil dir mein Brandenburger Land.

Bürger und Bauern vom märk'schen Geschlecht,

Hielten stets in Treu zur märk'schen Heimat fest!

Steige hoch, du roter Adler, Hoch über Sumpf und Sand,

Hoch über dunkle Kiefernwälder,

Heil dir mein Brandenburger Land.

Hie Brandenburg allewege - Sei unser Losungswort!

Dem Vaterland die Treue in alle Zeiten fort.

Steige hoch, du roter Adler, Hoch über Sumpf und Sand,

Hoch über dunkle Kiefernwälder,

Heil dir mein Brandenburger Land.“

Die Kinder der Bosheit

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