Читать книгу Das Gold der Träume - Ralph Dutli - Страница 7
Der Kaiser von Kalifornien
ОглавлениеEin karges Bündel auf dem Rücken, mit verbeultem Frack und elegantem Spazierstöckchen, obligater Krawatte und schwarzer Melone, trippelt er durch eine Eiswüste. Wo sind wir hingeraten? Eine Schrifttafel verkündet: »Drei Tage von Irgendwo«. Wir sind im hohen Norden des amerikanischen Kontinents, zur Zeit des Goldrauschs von 1897 am Klondike River in Yukon, wo Städte über Nacht entstehen und jeden Tag neue Horden von Goldschürfern herangespült werden. Bald hat er gegen Schneegestöber, eisige Kälte und quälenden Hunger anzukämpfen und wird in eine lottrige Holzhütte geweht. Dort muss er sich gegen den vor Hunger fast wahnsinnigen, bärengleichen Goldschürfer Big Jim wehren, der ihn für ein Huhn hält und ihn verspeisen will. Er weiß sich zu helfen, kocht seinen rechten Schuh, verspeist mit stoischer Miene und gelegentlichem Schluckauf die Sohle, leckt als vermeintlicher Gourmet die Nägel ab und rollt die Schnürsenkel auf seine Gabel, als wären es Spaghetti – während der verdrießlich dreinschauende Big Jim das üppigere Leder-Oberteil des Schuhs abbekommt. Vorerst glücklos, aber einfallsreich, wird er seinen Weg gehen.
Richtig geraten: Wir sind in Charlie Chaplins hinreißendem Stummfilm Goldrausch von 1925, einem wahren Goldstück der Filmgeschichte. Wer könnte die verblüffende Szene vergessen, in welcher der einsame Goldschürfer im Traum die appetitlichen Brötchen an zwei Gabeln tanzen lässt? Und keine Angst: Es wird alles gut. Charlie wird mit seinem linkischen Charme den Aufschneider im prächtigen Pelzmantel ausstechen und doch noch die Tänzerin Georgia, die ihn zuerst übersehen und dann aus Langeweile versetzt hat, für sich gewinnen. Als Teilhaber von Big Jims riesigem Goldberg wird er gleichsam über Nacht Multimillionär. Auf dem Rückfahrerschiff mit dem bezeichnenden Namen Success wird er von einem Reporter gebeten, für ein Foto noch einmal seine Landstreicherkleider anzuziehen, posiert kokett darin und purzelt dann eine Treppe hinunter genau vor die Füße seiner schönen Georgia. Der Kapitän schimpft den vermeintlichen blinden Passagier heftig aus, die Angebetete will für dessen Fahrkarte bezahlen und ahnt nicht, dass der Tramp inzwischen ein gemachter Mann ist. Das Missverständnis ist rasch aufgeklärt. Der von der Kamera des Reporters eingefangene Kuss beendet rasant jedes schlimme Missgeschick und alles erlittene Unglück.
Nicht jedes Goldschürferdrama ging in Wirklichkeit so heiter aus. Das Unglück kennt verschlungene Wege. Was haben Sägespäne mit Goldnuggets zu tun? Eine Sägemühle in Kalifornien spielte eine gewichtige Rolle in der Geschichte des Goldrauschs. Der Zimmermann James Wilson Marshall sollte für den Schweizer Auswanderer und Großgrundbesitzer Johann August Suter (1803 bis 1880) in dessen rasch aufgeblühter Kolonie mit dem malerischen Namen »Neu-Helvetien« eine Sägemühle am American River bei Coloma errichten. Der Ort lag hundertfünfzig Kilometer nordöstlich eines elenden, damals noch mexikanischen Fischerdorfes namens San Francisco. Am Morgen des 24. Januar 1848 sah er im Sand der Baugrube unter seiner Schaufel etwas aufblitzen, das er vielleicht besser nicht gesehen hätte.
Er stieß auf einen – nicht einmal besonders spektakulären – Goldnugget. Der unglückliche Marshall wird damit völlig unerwartet einen historischen Wirbelsturm auslösen, den großen kalifornischen Gold Rush. Suter, sein Arbeitgeber und schwerreicher Herrscher über »Neu-Helvetien«, hatte bereits erstaunliche Höhen und Tiefen erlebt. Nach dem Konkurs seines Tuchwarenhandels in Burgdorf in der Schweiz wurde er von den bernischen Behörden wegen Betrugs steckbrieflich gesucht und hatte es eilig, vom Horizont zu verschwinden, wobei er seine Frau und seine fünf Kinder als lästiges Gepäck zurückließ. Mit einunddreißig Jahren war er 1834 über Paris und Le Havre, wo er sich auf dem Dampfer mit dem hoffnungsfrohen Namen Espérance einschiffte, nach New York ausgewandert, schlug sich mehr schlecht als recht durch und brach schließlich ins noch unerforschte Kalifornien auf. Nach unermesslichen Strapazen und Kämpfen gegen die indianischen Ureinwohner schaffte er es, sich dort weiträumige Ländereien zur Bewirtschaftung überschreiben zu lassen. »Neu-Helvetien« florierte rasch auf dem fruchtbaren Boden, geschützt von einer soliden Festung, dem »Fort Suter«, und einer privaten Söldnertruppe. Aus dem gesuchten Betrüger und stolzen Kolonisten, der schon bald als »Kaiser von Kalifornien« betitelt wurde und als reichster Mann der Welt galt, wurde allerdings recht schnell ein tragischer Pechvogel.
Statt Sägespänen sollten dem Vorarbeiter und seinem Patron bald die Schreckensnachrichten um die Ohren fliegen. Suter beschwor seine Arbeiter, den unverhofften Fund nur ja nicht auszuplaudern. Leider – und vorhersehbar – ohne Erfolg. Die Nachricht vom Goldfund verbreitete sich wie ein Lauffeuer, »Telegraphen sprühen die goldene Verheißung über Länder und Meere«, wie der Schriftsteller Stefan Zweig es ausdrückte. Glücksucher und Hasardeure aus der ganzen Welt brachen nach Kalifornien auf, um dort vermeintlich zu immensem Reichtum zu gelangen. Schiffseigner warben in den verarmten europäischen Ländern für Reisen zum Goldrausch nach Kalifornien. Kein Weg war zu weit, die Schiffe kamen von überall her. Ganze Siedlerströme, tausend und ein langer Tross von Planwagen machte sich von der Ostküste Amerikas nach Kalifornien auf, ins trügerische Eldorado aller Träume, nach Kalifornien, das noch heute den Ehrentitel Golden State trägt. Die Zeit drängte. Wer zuerst seinen Claim absteckte, sein Schürfrecht beanspruchte, war schneller im erhofften Himmel unermesslichen Wohlstands angekommen, der allerdings mit Blut und Wahnsinn bezahlt werden wollte.
Das Wort rush bedeutet »Hast« und »Hetze«, die lautliche Nähe zum deutschen Wort »Rausch« ist ein nach dem Wortsinn falscher, aber passender Goldnugget. Denn der Rausch, der Abertausende von Menschen ergriff, ruinierte Abertausende von fanatischen, mit Spitzhacke, Schaufel und Goldwaschpfanne bewehrten Goldschürfern, die oft nicht einmal mehr Zeit fanden, ihr eigenes Grab zu schaufeln. Nur die wenigsten wurden reich, der Goldrausch stürzte die meisten in abgrundtiefes Elend.
Scharen von Goldschürfern drangen auf Suters weitläufige Ländereien vor, der sich gegen den Ansturm schlicht nicht wehren konnte. »Neu-Helvetien« versank in Gier und Gewalt, es wurde zu einer Zone, in der es kein Recht und keine Ordnung mehr gab. Die goldgierigen Menschenschwärme ruinierten Suters Imperium in Windeseile, der »Kaiser von Kalifornien« verlor seinen riesigen Grundbesitz und starb verarmt. Ein amerikanisches Drama, geradezu die Verkehrung des amerikanischen Traums vom glänzenden sozialen Aufstieg.
So erging es den meisten kalifornischen Glücksrittern. Was sie erwartete, war Schmutz, Elend, Erschöpfung, Krankheit, Gewalt und Verbrechen – und in Ausnahmefällen ein paar Körnchen des glänzenden Metalls. Die in kürzester Zeit gewachsene Stadt San Francisco brannte mehrmals, die hygienischen Verhältnisse waren katastrophal, Ratten und Ungeziefer vermehrten sich rasch, die Cholera brach aus. Das bei der Goldgewinnung freigesetzte Quecksilber vergiftete zudem Seen und Flüsse. Schon 1854, sechs Jahre nach Marshalls Fund, wurde der Goldabbau industriell betrieben, das Goldfieber der kleinen privaten Goldschürfer flackerte ein letztes Mal auf und erlosch. Wer heute Blue Jeans als Beinkleidung mag, trägt meist ohne es zu wissen ein Relikt des Goldrauschs, denn Levi Strauss aus dem oberfränkischen Buttenheim bei Bamberg erfand die blaue strapazierfähige Hose ausdrücklich für Goldsucher. Ihm wenigstens brachte die Auswanderung ins fiebrige San Francisco Glück. Besser als Gold war – die Hose.
Die idyllische Sutter’s Mill ist heute ein Nationalheiligtum, trägt den stolzen Namen Marshall Gold Discovery State Historic Park und gehört zu den gehätschelten staatlichen Parks Kaliforniens. Schließlich hat die bescheidene, vom Zimmermann Marshall errichtete Sägemühle Geschichte geschrieben. Goldgier gehört zur Geschichte des amerikanischen Kontinents, sie ist Teil des Gründungsmythos der Vereinigten Staaten wie jene Passage vom »Streben nach Glück«, pursuit of happiness, das die amerikanische Verfassung jedem Bürger zuerkennt.
Johann August Suter erlitt als gedemütigter Kaiser von Kalifornien einen spektakulären Ruin, doch fand er als tragische Figur Eingang in die Werke erstrangiger Schriftsteller. Stefan Zweig setzte ihm in der Erzählung Die Entdeckung Eldorados ein Denkmal, das er 1929 in die berühmte zwölfteilige Sammlung Sternstunden der Menschheit aufnahm. Zweig verhehlt weder die euphorischen Aufschwünge noch den tragischen Abstieg, die das Schicksal des berühmten Kolonisten bestimmten. Vom »Kaiser« zum »enttäuschtesten Bettler dieser Erde«, wie Zweig ihn nennt, der vor Drastik nicht zurückschreckt: »Der Rush, der menschliche Heuschreckenschwarm, die Goldgräber. Eine zügellose, brutale Horde, die kein Gesetz kennt als das der Faust, kein Gebot als das ihres Revolvers, ergießt sich über die blühende Kolonie.«
Ein eindrucksvolles Monument für Suter schuf auch dessen Schweizer Landsmann, der 1887 in La Chaux-de-Fonds geborene, 1961 in Paris verstorbene Dichter Blaise Cendrars, indem er ihm 1925 einen ganzen Roman widmete, der zu einem Welterfolg wurde. Der Dichter Yvan Goll übersetzte ihn und machte ihn auch im deutschen Sprachraum berühmt: Gold. Die fabelhafte Geschichte des Generals Johann August Suter. Cendrars, unter seinem richtigen Namen Frédéric-Louis Sauser, war ein helvetischer Weltenbummler und Abenteurer. Im Ersten Weltkrieg verlor er seine rechte Hand, als er als Fremdenlegionär auf französischer Seite kämpfte. In »General Suter« muss er einen lohnenden tragischen Abenteurer gewittert haben. In seinem Gold-Roman gibt es einen Brief Suters, in dem er die Katastrophe, die auf ihn niederbrach, zu verstehen versucht: »Nach diesem Spatenstich verließ mich alles … Das Gold aber ist verflucht und alle, die herkommen, um es zu suchen, sind verflucht, denn die meisten verschwinden, niemand weiß wie. Alle diese letzten Jahre war das Leben hier eine Hölle. Nur noch Mord, Totschlag und Diebstahl. Es gab niemanden, der sich nicht auf Räuberei verlegt hätte. Viele sind verrückt geworden oder haben Selbstmord verübt. Und das alles für Gold, dasselbe Gold, das sich nachher in Schnaps verwandelt und Gott weiß in was nachher … Das Tier der Apokalypse geht im Lande um und jedermann ist voller Erregung … Ich war der reichste Mann der Welt, das Gold hat mich ruiniert.«
Das Tier der Apokalypse – eine wahrlich dramatische Bezeichnung des Goldfiebers. Am Schluss in religiösen Wahn verfallend, lallt in Cendrars’ Roman der bald sterbende Schweizer Kolonist, der alles verloren hat, aufreibende Prozesse führen muss und schließlich nur noch die umstehenden Straßenkinder beschenken will, die Worte: »Wenn ich gewinne … gebe ich euch all das Gold, das mir zukommt, ein gerechtes, ein gereinigtes Gold. Gottes Gold.« Und Blaise Cendrars’ Roman endet mit den Worten: »Wer will Gold? WER WILL GOLD?«
Am kalifornischen Gold klebten so viel Schmutz und die Spuren roher Gewalt, dass der Traum vom »gerechten« und »gereinigten« Gold wie ein tiefer Wahn anmuten muss. »Gottes Gold«? Wie könnte das götzenhaft verehrte und begehrte Gold je wieder neu und rein werden nach dem kalifornischen Inferno? Was bleibt, sind die literarischen Spuren bei Zweig und Cendrars – beide fasziniert vom Phänomen des Goldrauschs, bei dem der Mensch dem Menschen als gieriger Wolf erscheint.
Aber lassen wir einen Schriftsteller nicht unerwähnt, der tatsächlich bei einem Goldrausch dabei war. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war er immerhin der meistgelesene Autor der Welt, seine Abenteuerromane Ruf der Wildnis (1903) und Wolfsblut (1906) erreichten Millionen lesehungrige Jugendliche und vom Aufbruch in die Wildnis träumende Erwachsene: Jack London (1876 bis 1916). In San Francisco geboren, in bitterer Armut aufgewachsen, schuftete er schon als Kind für zehn Cent die Stunde in einer Konservenfabrik, war Austernpirat, Robbenjäger, Kohlenschaufler. London nahm 1897 am gewaltigen Goldrausch am Klondike River teil, er litt schwer an den Strapazen der Goldschürferexistenz, erkrankte an Skorbut und musste völlig mittellos nach Kalifornien zurückkehren. Der von ihm ergatterte Goldstaub erbrachte ganze vier Dollar fünfzig. Die einzige Goldmine, die er fortan ausbeuten konnte, waren seine eigenen Erlebnisse in den autobiographisch grundierten Romanen Lockruf des Goldes (1910) – sein erfolgreichstes Buch – und Alaska-Kid (1912).
Aber wer hätte sich ausmalen können, dass das Thema des kalifornischen Goldrauschs noch bis in die Gegenwartsliteratur gelangen könnte? Der Büchner-Preisträger Jan Wagner feierte am 26. Juni 2017 eine Premiere. Sein Hörspiel Gold. Eine Revue wurde auf der Bühne eines Frankfurter Theaters uraufgeführt, danach mehrmals in Rundfunkanstalten ausgestrahlt und als Hörbuch veröffentlicht. Es ist ein »lyrisches Stimmenspiel« mit packenden Musikeinlagen à la Dreigroschenoper zwischen Goldgräbern und Glücksrittern in einem der über Nacht entstehenden Städtchen in Kalifornien zur Zeit des Goldrauschs. Wagners Stimmenspiel ist die »Revue zum Rausch«, in der »die Lebenden und auch die längst vergessenen Toten, verscharrt in der Erde, ein letztes Mal reden dürfen, so wie auch das Gold, das bleibt, während die, die es suchten, vergingen«. Und auf den Punkt gebracht vom Dichter selbst in einem kompakten klassischen Vers: »Wo nichts von Dauer ist, bin ich noch da und bleibe.« Es ist das Gold, das spricht.
Der Goldrausch ist also radiophonisch bis in die Gegenwartsliteratur vorgedrungen, weil sich in ihm Menschliches-Allzumenschliches kristallisiert und bricht, Lust und Gier und Verderben und Verfall. Goldrausch als repräsentatives Phänomen der Menschheit. Warum aber steht er zu Beginn dieser Umschau in der Kulturgeschichte des Goldes? Weil das irrationale Element in seinem Wesen – Maßlosigkeit, Gier, Fieber, Rausch und Wahn – nicht zu leugnen, nicht zu verdrängen ist. Weil Gold menschliche Abgründe offenbart, eine unwiderstehliche Lockung darstellt, die zu Abstieg, Verkommenheit, Verelendung führen kann. Ein Gang durch die Kulturgeschichte des Goldes bedeutet immer eine doppelte Geschichte – von Glanz und Gier, Höhenflug und Absturz.