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Ohne Worte

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Als ich an diesem Morgen aufwachte, wusste ich sofort, dass etwas nicht stimmte.

Ich hatte sogleich das Gefühl, dass alles gesagt sei. Nein, ich meine nicht, dass ich irgendjemand gegenüber nichts mehr zu sagen hätte oder man mit mir nicht mehr reden wollte. Nein, es war einfach nichts mehr zu sagen da. Alle Worte waren gesprochen und weg. Sie hatten sich verbraucht, wie ein Stück Seife.

Endlose Phrasen wurden gedroschen, Reden wurden gehalten und Floskeln an den Kopf geworfen und niemand, wirklich niemand hatte daran gedacht, dass der Wortschatz irgendwann aufgebraucht sei. Eigentlich klar, kein Schatz, an dem sich jeder bedient, hält ewig. Jeder, einschliesslich des Verfassers dieser Zeilen, griff mit beiden Händen in den Topf und warf mit den Kostbarkeiten nur so um sich. Hier mal ein hastig hingeworfenes "Guten Tag, wie geht's?" und da mal ein "Verdammtes Wetter heute!" oder mal ein bisschen gegen die Regierung geschimpft, am Essen genörgelt, beim Autofahren geflucht und mit den Kindern gemeckert. Ja, was haben wir denn geglaubt, wie lange der Vorrat hält? Unfassbar! Unglaublich!

Ich brühte mir einen Kaffee auf und setzte mich mit der dampfenden Flüssigkeit an meinen Küchentisch. Einen Schuss Milch dazu und ich nippte gedankenverloren an meiner Tasse.

Natürlich war der Kaffee zu heiss und ich verbrühte mir die Zunge. Einen Fluch wollte ich zwischen den Zähnen hervorstossen, aber es kam nur Luft.

"Mmmmmpfff!", hörte sich das in etwa an.

"Mmmmmmpfffffff!", und ich bekam einen roten Kopf. Nicht mal anständig fluchen war mehr drin.

Es klingelte an der Tür und als ich öffnete, streckte mir der Postbote einen Packen Briefe freudestrahlend hin mit den Worten:

"Uuuuuuuurghhhhhh hhhhhmmmm!"

Ich nehme an, er wollte mir einen guten Morgen wünschen, scheiterte aber an der plötzlichen Leere des Sprachpools, entsann sich aber, dass ihm das heute morgen nur passierte und drehte sich schulterzuckend weg. Wahrscheinlich dachte der arme Kerl, dass er nur eine Erkältung hätte, die im Moment seine ganze Umgebung sprachlos machte. Eine Epidemie sozusagen.

Ich wollte Gewissheit und schlurfte zum Telefon.

"Ha, da bin ich aber mal gespannt ", dachte ich mir, denn sagen konnte ich es ja nicht, und wählte die Zeitansage.

"Pippp!", war da zu hören, und nach einer Weile wieder "Pipp!" Und dazwischen - Stille. Da also auch!

Ich schaltete den Fernseher ein und sah den Schauspielern zu, die stumm ihre Lippen bewegten. Endlich sind diese dämlichen Serien zu ertragen, dachte ich mir schadenfroh und zappte zu einem Musikkanal.

Popmusik ohne Gesang, das war ja wirklich langweilig. Eine Sängerin im knappen Outfit huschte mit stummen Lippenbewegungen durch das Video. Ich schaltete ab, eine Livesendung wollte ich mir gar nicht erst angucken.

Ein schrecklicher Gedanke kam mir!

Es gab nichts mehr zu reden, aber die Kommunikation funktionierte doch noch, wir konnten ja noch schreiben. Aber was wäre, wenn alle Worte geschrieben wären. Wenn auch dieser Schatz irgendwann leer wäre. War er vielleicht grösser?

Wie sollte die Menschheit ganz ohne Sprache auskommen? Kein gesprochenes Wort mehr, kein geschriebener Text mehr. Nichts! Das wäre der Zusammenbruch der Kultur! Mein Gott! Wir sind am Ende!

Wir müssen etwas tun, bevor die geschriebenen Worte auch mmmmmpffff mmmmmmmmmmppppppppppppffffff

Geschichtenmacher

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