Читать книгу Hexengruft – Abenteuer in Moorland - Ralph Müller-Wagner - Страница 5
1. Kapitel: Wie alles begann
Оглавление»Ferien!«, ruft Felix Kühn ausgelassen, als die Schulklingel das Ende der Stunde verkündet. Er stupst seinen Freund Sebastian in die Seite, zwinkert ihn lustig an.
Endlich ist Sommer. Sommer in den Chiemgauer Alpen, wo unsere unglaubliche Geschichte beginnt. Felix ist stolz in Oberbayern zu leben. Wo andere Leute über das ganze Jahr verstreut Urlaub machen. In den Bergen wandern. Oder am malerisch gelegenen Chiemsee campen und schwimmen, um unvergessliche Eindrücke zu sammeln, einfach relaxen. Den Wolken ein Stück näher sein. Ein Gefühl, das viele Touristen später mit nach Hause nehmen.
Hier liegt am Rande eines mächtigen dunklen Bergwaldes Kienholz, eine wild romantische kleine Siedlung. Sie strahlt Frieden aus, Stille und ist nicht leicht zu finden. Dort in einem uralten Forsthaus, wohnt der zwölf Jahre alte Felix mit seinen Eltern und der zehnjährigen Schwester Andrea.
Vater Stefan, ein brummiger, aber recht gutmütiger Riese mit Vollbart, kümmert sich um die Tiere des Waldes und dessen Baumbestand. Er ist der Revierförster. Gerne erzählt er über seine wertvolle, manchmal schwere Tätigkeit. Felix freut sich jedes Mal, wenn er den lustigen Vater bei seinen spannenden Führungen begleiten darf. Öffentlichkeitsarbeit betitelt der Forstmeister das, wenn er Leute informiert. Über Wald, Wild, Hölzer oder Umweltschutz. Ein Verantwortungsbereich, der gemeistert sein will. Vater Stefan macht das richtig gut, findet Felix. Er ist stolz auf seinen Vater.
Die Mutter von Felix kümmert sich um Haus und Hof. Neun Bergziegen, vierzehn Schweine, eine Kuh, Schäferhund Ajax, Kater Schnuffel und natürlich die Familie wollen versorgt sein. Mutter Gaby mit dem praktischen kurzen Haarschnitt ist eine kräftige Frau, die auf dem Hof gut zupacken kann. Und sie macht auch prima Bratkartoffeln mit Leberkäse und Spiegelei, oder im Herbst einen Zwetschgendatschi. Außerhalb Bayerns als Pflaumenkuchen bekannt und in der Tat echte bayerische Schmankerl! Mutter Gaby bringt die Kinder jeden Morgen mit dem Landrover in die Schule, weshalb die Mitschüler ziemlich neidisch sind. Ihr Wort zählt. Auf sie ist immer Verlass. In ihrer Brust schlägt ein großes weites Herz. Sie unterstützt auch den örtlichen Trachtenverein und organisiert Veranstaltungen. Es ist ihr kein Weg zu weit, keine Arbeit zu viel. Jeder mag die sympathische Frau mit der warmen Ausstrahlung.
Felix liebt seine Eltern sehr. Der dunkelblonde Lausbub mit dem schwerfälligen Gang unterstützt sie in seiner Freizeit, wo er nur kann. Und wehe, es redet jemand schlecht über sie. Da wird der Felix wirklich böse. Nein, auf die Eltern lässt er nichts kommen. Nach seinen Möglichkeiten macht er alles für sie. Er fährt den Traktor, kümmert sich um das Vieh, ist handwerklich sehr geschickt, wenn Reparaturen zu erledigen sind. Und er schießt auch gut mit dem Luftgewehr. Begleitet den Vater oft zur Jagd, die mitunter sehr spannend ist.
Weniger mag Felix seine Schwester Andrea. Diese Heulsuse mit den vielen Sommersprossen im Gesicht und den langen roten Zöpfen. Zuweilen würde er das Mädchen am liebsten auf den Mond schießen, ohne Rückfahrkarte. Die Nervensäge verpetzt ihn oftmals, wenn er heimlich mit Vaters Moped durch den Wald rast oder bis spät in die Nacht Gruselgeschichten liest, die er über alles liebt. Außerdem fängt Andrea immer bei jedem bisschen zu weinen an. Sie versteht keinen Spaß und ängstlich ist sie auch noch. In jeder dunklen Ecke oder hinter jedem Baum im Wald vermutet sie gleich ein Gespenst. Felix dagegen fiebert jeden möglichen Augenblick herbei, einem Geist zu begegnen. Bisher hat es jedoch leider noch nicht geklappt.
Manchmal kann Andrea aber auch richtig nett sein. Bei den Kindern im Ort ist sie beliebt, weil sie gut Theater spielen und singen kann. Felix schätzt sogar ihre Hilfsbereitschaft. Andrea sagt niemals nein und ist stets da, wenn man sie braucht. Im Haushalt unterstützt sie Mutter Gaby tatkräftig. Ihr Zimmer ist immer tadellos aufgeräumt. Ordnung ist das halbe Leben! Ein Spruch ihrer Großmutter, den sie auch anwendet.
Was würde der Felix nicht alles dafür geben, um einmal im Leben ein fantastisches Abenteuer zu bestehen oder richtig zaubern zu können. In seinen Träumen hat er das allerdings mehrmals erlebt. Den unterschiedlichsten Fantasy-Wesen ist er da bereits begegnet. In seinen Traumgeschichten ist Felix immer ein großer Held und er hat gar keine Angst. Manchmal träumt Felix sogar am helllichten Tag und mit offenen Augen. Liest er eine Hexen- oder Vampirgeschichte, dann legt der fantasievolle Junge immer mal wieder das Buch beiseite und stellt sich vor, er sei selbst der gute Hexenmeister, im Kampf gegen das Böse.
Der Mittag ist herrlich, die Sonne strahlt, als Felix gut gelaunt aus der Schule stürmt. Letzter Schultag. Sommerferien. Was will man mehr. Jetzt beginnt die schöne Zeit der Faulenzerei. Er ist wirklich kein ganz guter Schüler, nicht etwa dumm, eher oberflächlich. Zu viele andere Dinge lenken ihn jedoch vom Lernen ab.
»Willst du mit zu mir kommen, Basti?«, fragt er seinen besten Freund, Sebastian Lachmann.
»Warum nicht«, antwortet der große schlanke Lockenkopf mit dem blassen Gesicht traurig. »Auf mich wartet ohnehin keiner. Mutter ist zu einem Meeting nach Nürnberg gefahren. Vater kommt erst in zwei Wochen nach Hause.«
Oft ist er allein. Seine Mutter ist als Vertreterin bei einer bekannten Modefirma viel unterwegs. Und sein Vater schuftet als Monteur auf einer Bohrinsel in der Nordsee. Vier Wochen arbeiten, eine Woche frei. Der Familie geht es finanziell sehr gut, aber Sebastian leidet unter der Trennung und darunter, ein Einzelkind zu sein. Darum freut sich Sebastian jedes Mal, wenn er zu Felix darf. Die Leute dort sind so etwas wie seine zweite Familie geworden.
Ein schriller Klingelton ertönt. Felix holt sein Handy aus der Schultasche, schaut auf das Display, verzieht die Mundwinkel. »Mutter hat mir eine SMS geschrieben«, sagt er überrascht, während er den Text liest. »Sie kann mich nicht abholen. Lisa ist erkrankt, du weißt schon, unsere Kuh.«
»Dann fahren wir eben mit dem Bus und laufen den Rest bis Kienholz durch den Wald. Oder wir gehen zu mir und deine Mutter holt dich später ab.«
»Ich kann gar nicht bei dir bleiben«, erwidert Felix. »Ich muss doch wissen, was mit Lisa ist. Der Tierarzt wird bestimmt bei uns sein. Man, ich kenne Lisa noch als Kalb. Die konnte mir immer zuhören. Tiere sind nicht dumm, eine Milchkuh schon gar nicht. Wollen wir gleich zu mir?«
»Klar komme ich mit!«
Felix ist erfreut über die Antwort des Freundes, er hat nichts anderes erwartet. Gemeinsam stiefeln sie los zum Bus »Wir machen doch in den Ferien bestimmt was zusammen?«
Sebastian hebt den Daumen nach oben. »Worauf du dich verlassen kannst«, schwört er mit ernster Miene. »Meine Mutti will zwar, dass ich zu Oma Gertrud fahre, aber das ist mir viel zu langweilig. Die hält mir nur jeden Tag lange Vorträge, wie ich noch besser lernen kann oder regt sich auf, wenn wir beide miteinander simsen. Handys sind ihr doch ein Gräuel.«
»Will ich gerne glauben«, winkt Felix kichernd ab. »Obwohl meine Großeltern modern sind. Beide haben Handys, wegen der Erreichbarkeit, sagen sie. Dafür sei es immer gut, denn es könnte ja was Unverhofftes geschehen. Wo doch heutzutage oft Kinder verschwinden. Pädophile rennen ja genug herum!«
»He Felix, der Bus kommt schon um die Ecke gefahren. Wo ist eigentlich Andrea? Wollen wir nicht auf sie warten?«, meint Sebastian fürsorglich.
Felix verdreht die Augen. »Die kleine Hexe ist schon lange zu Hause. Ihre Klasse hatte bloß zwei Stunden Zeugnisausgabe. Dann durften sie gehen. Ist doch unfair, oder?«
»Wem sagst du das. Bei Frau Kauli hat es doch jede Klasse gut. Sie ist die coolste Lehrerin in der Schule«, sagt Sebastian respektvoll über sie.
Die ausgelassenen Schüler drängen sich in den knallgelben Schulbus, um die besten Sitzplätze zu kriegen. Alle quasseln wild durcheinander. Bohne aus der 6c stimmt übermütig ein Lied an. Das klingt aber so schräg, dass die anderen Kinder lachen müssen. Busfahrer Berchtl bringt jedoch schnell wieder Ruhe in den lustigen Haufen.
Alle Sitzplätze sind besetzt. Tina aus der 7a steht in ihrem kurzen Rock direkt vor den beiden Freunden. Das hübsche Mädchen trägt immer so kurze Röcke. Außerdem schminkt sie sich sehr stark, um das Interesse der älteren Jungen auf sich zu lenken. Felix findet das uncool. Als sie Felix anlächelt, wird dieser verlegen und schluckt. Er muss direkt auf ihre langen Beine schauen. Wo soll er bloß hingucken, wo doch Tina mit ihren nackten Beinen fast sein Gesicht berührt. Dreht er es zur Seite, bekommt er schnell Genickstarre. Zum Glück rettet Sebastian aber die Situation, indem er ihn in ein interessantes Gespräch verwickelt. Thema ist das neue Buch, welches er gerade verschlingt. Ein Detektivroman.
Einige Kumuluswolken haben sich vor die brennende Sonne geschoben, als Felix und Sebastian den Weg zum Forsthaus einschlagen. An blühenden, duftenden Wiesen vorbei gehen. Die Heidelerchen trällern bunte Melodien in die wabernde Luft, lassen die Herzen derer höher schlagen, welche sich der Muse und Mutter Natur verbunden fühlen.
Das Forsthaus mit dem Hof und den kleinen Stallungen wirkt fast verschlafen, bis Jagdhund Ajax die beiden Ankömmlinge mit einem freudigen Winseln und einem Wedeln mit dem buschigen Ringelschwanz begrüßt. Vater ist also zu Hause, denn wenn er im tiefen Wald unterwegs ist, begleitet ihn der stramme Rüde jedes Mal. Felix streichelt das weiche Fell, krault ihm kurz am Hals, was dieser besonders gern mag. Dann legt Felix schnell die Schulmappe mit dem Zeugnis auf einen Gartentisch, wo bereits ein Korb mit frischen Kräutern steht. Auch Sebastian legt den Ranzen dort ab. Gemeinsam flitzen sie in den Kuhstall. Ajax tippelt mit heraushängender Zunge hinterher.
Lisa liegt auf sauberen Strohballen. Die braun-weiß gefleckte Kuh blickt Felix mit ihren großen schwarzen Augen hilflos an. Schwerfällig hebt sie den Kopf beiseite, dann sinkt er wieder auf das weiche Stroh.
»Schön, dass ihr beide da seid«, brummt Vater Stefan mit hoch gekrempelten Hemdsärmeln. »Es geschah aus heiterem Himmel. Ich war in der Schonung, wollte nach dem Rechten sehen. Da rief mich Mutter an. Lisa sei nicht zu bewegen, aus dem Stall zu gehen. Bin natürlich gleich zu Lisa geeilt, habe den Tierarzt verständigt.«
»Und was sagt Doktor Brandner?«, drängt Felix.
»Vielleicht ein neuer unbekannter Virus«, antwortet der Vater besorgt und macht ein nachdenkliches Gesicht.
»Wird sie durchkommen?«
Ratlos zuckt Vater mit den Schultern, blickt Lisa dabei traurig an und tätschelt ihren Nacken.
»Lisa wird also sterben«, seufzt Felix.
»Wir müssen das Leben so nehmen, wie es kommt, Junge. Manchmal können wir Dinge verändern, zum Guten ändern. Und wenn es nicht gelingt, sollten wir eben verstehen, es so anzunehmen. Selbst wir sterben einmal, obwohl keiner genau weiß, wann das einmal sein wird, verstehst du?« Vaters Worte klingen ehrlich. Er sagt immer die Wahrheit, auch wenn diese mitunter schmerzhaft ist.
Felix schießen Tränen in die Augen. Lisa hat er schon als Kalb aufwachsen sehen.
»Wir sollten die Hoffnung niemals aufgeben!«, tröstet ihn der besorgte Vater.
»Manchmal geschehen auch noch Wunder«, lenkt Sebastian leise ein, während er seine Hand auf Felixs Schulter legt.
»Richtig! Dabei wollen wir es auch belassen, hm?«, stimmt der Vater zu. »Lisa braucht jetzt Ruhe. Sie fühlt, dass wir alle zu ihr stehen. Sie hat dich gesehen, Felix. Das wird ihr frische Kräfte verleihen. Nun geht zu Tisch. Mutter wartet bereits mit einem prima Kaiserschmarren auf euch.«
In der Wohnküche duftet es nach Gebackenem. Mutter Gaby fragt Felix gleich nach dem Zeugnis. Sie ahnt, dass es nicht besonders gut sein kann, weil ihr Sohn die unangenehme Situation geschickt umgeht, in dem er das Mittagessen über alles lobt. ‚So ein Schlingel’, denkt sie, die ihren Schlawiner natürlich ganz genau kennt. Sie nimmt die Situation gelassen. In der Ruhe liegt die Kraft! Schon seit Jahren ihre Devise.
»Na, wie viel Sechser hast du auf dem Zeugnis?«, stichelt Andrea wie in einen Ameisenhaufen, während sie den Bruder herausfordernd anschaut.
»Lass mir endlich meine Ruhe, du Rattengewitter!«, wettert der aufgebrachte Junge sofort los, während er Mutter einen flüchtigen Kuss auf die Wange gibt, um zu retten, was es zu retten gibt. Er macht das sehr gewandt, der Felix. So kriegt er Mutter, die schmunzeln muss, immer wieder herum.
»Mama, der Felix sagt schon wieder schlimme Ausdrücke zu mir«, fängt sie zu heulen an. »Wenn du nicht aufhörst, werde ich deine Bücher verstecken!«
»Du bist aber garstig«, verteidigt Sebastian seinen Freund. »Macht man so was? Ich glaube nicht.«
»Und das Schimpfwort, he? Das darf er sagen? Ich bin keine Ratte, damit du es weißt!« Empört wirft sie die Gabel auf den Boden, steht auf und verlässt die Küche.
»Andrea!«, ruft Mutter hinterher. »So geht es auch nicht. Was kann die Gabel dafür.« Dann wendet sie sich an Felix: »Du weißt doch, wie schnell Andrea eingeschnappt ist. Könnt ihr euch nicht mal vertragen?«
»Deswegen mache ich es ja«, kontert Felix. »Damit sie sich vielleicht eines Tages ändert. Punkt.«
»Felix, auch das ist nicht die feine Art. Du bist der Ältere und der sollte klüger oder erfahrener sein. Wie sehr würde ich es begrüßen, wenn ihr besser miteinander umgeht. Immerhin seid ihr Geschwister. Oder habe ich Unrecht, Sebastian.«
»Ich, ich kann das nicht so genau beurteilen, Frau Kühn«, windet sich Sebastian aus der unbequemen Lage, um Felix nicht in die Pfanne zu hauen. »Ich hatte ja nie eine Schwester, wenn Sie verstehen, was ich meine.«
»Andrea ist doch ein Mädchen. Die sind eben empfindlicher, aber dafür wiederum liebenswert. Denkt einmal darüber nach und nun: Guten Appetit.«
Felix zwinkert Sebastian zu, gibt ihm damit zu verstehen, es wäre jetzt besser, schnell zu essen, um dann schleunigst zu verschwinden. Mutter könnte vielleicht auf die Idee kommen, wieder über das Zeugnis zu reden. So lobt Felix in höchsten Tönen den Kaiserschmarren. Wie gut er denn schmeckt, so in Butter gebacken, mit ganz vielen dicken Rosinen drinnen. Und der Puderzucker, weiß wie Schnee, würde dem Gericht noch seinen kulinarischen Stempel aufdrücken. Wie lecker! Aber was wird aus Lisa?