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2. Kapitel: Der geheimnisvolle Schrank

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Die Nacht hat das Tuch der Finsternis über Kienholz und die nahen Bergwälder gelegt. Am wolkenlosen Himmel leuchten unzählige herrliche Sterne, die Geheimnis verstreuen und die Endlosigkeit des Weltalls. Es ist windstill, die Luft angenehm warm. Ruhe ist eingekehrt in der kleinen Siedlung.

Immer noch bangt Felix um Lisa. Ob sie es schaffen wird? Er wünscht sich nichts sehnsüchtiger. Mutter Gaby hat Sebastian am frühen Abend mit dem Landrover nach Hause gefahren. Er sollte seine Mutter fragen, ob er nicht ein paar Tage auf Kienholz bleiben darf, um mit Felix die Ferien gemeinsam zu verbringen. Eine gute Idee, findet der aufgewühlte Junge, der heute einfach keinen Schlaf auftreiben kann. Soll er vielleicht noch einmal in den Stall gehen und nach Lisa sehen? Nein, es würde ihm nur das Herz brechen. Morgen kommt ein neuer Tag, mit neuen Herausforderungen. Da hinein legt er gern alle seine Träume. Wenn er doch bloß schlafen könnte.

Felix wälzt sich im Bett von einer Seite auf die andere und horcht plötzlich auf. War da nicht ein dumpfes Donnergrollen? In der Nähe muss ein schlimmes Gewitter toben. Er mag den Donner, unter dem er sich oft gespenstische Szenen ausmalt. Noch fantastischer findet Felix Blitze, diese grellen Gefährten des Unwetters. Vor einer Weile fuhr durch das offene Fenster seines Zimmers ein Kugelblitz. Eine hell leuchtende Kugel, nicht größer als ein Tischtennisball. Sie wand sich wie eine Schlange um seinen Körper, ohne diesen zu berühren. Dann schwebte sie mehrmals um den Schreibtisch herum, ehe sie wieder durch das Fenster verschwand. Eine bizarre Erfahrung für Felix. Bis heute hat er jene unheimliche Begegnung für sich behalten. Nicht einmal Sebastian weiß davon. Und der ist sein bester guter Freund.

Felix nimmt jetzt ein Buch in die Hand. »Das Geheimnis der schwarzen Hexe«, eine spannende Geschichte. Er will noch etwas darin schmökern. Er knipst das Licht der Stehlampe an, die neben seinem Bett steht. Schließt die Fenster, damit keine Mücken hereinkommen, denn Licht zieht die Insekten magisch an. Auf dem Hof ist es still geworden, nur die Grillen zirpen ihr ewiges Lied.

Es geht fast auf Mitternacht zu, aber Felix empfindet heute keine Müdigkeit. Er muss morgen nicht in die Schule, es sind Ferien und außerdem geht das Buch unter die Haut. Über die Hälfte Text hat er bereits verschlungen. Die Hauptfigur der packenden Geschichte, also die schwarze Hexe, ist eigentlich eine arme Kräuterfrau, die im Mittelalter lebt und Leute ihres Standes von Krankheiten befreit. Sie wird von der Kirche, die ihre Tätigkeiten als Blendwerk bezeichnet, genötigt, schwarze Sachen zu tragen. Die Kräuterfrau soll abgeurteilt werden, da sie mit dem Teufel in Verbindung stehe. Das einfache Volk setzt sich jedoch für sie ein, plant einen Aufstand gegen die Obrigkeit, im Land der Kälte. Anführer ist der fünfzehnjährige Jakob, der ohne Eltern aufgewachsen ist und sich oftmals als Knecht verdingt. Dem Felix imponiert dieser Jugendliche aus einer fernen Zeit, für den er ebenso Partei ergreift, wie für die unschuldige Kräuterfrau. Auch wenn das Buch sein Lesealter weit überschreitet, so versteht er die Zusammenhänge gut. Lesen bildet doch, findet Felix!

Es donnert wieder. Dieses Mal etwas lauter. Nach einigen Sekunden wiederholt sich das dumpfe Grollen des Himmels. Felix legt das Buch neben sein Kopfkissen, springt aus dem Bett und schaut aus dem Fenster. Ein greller Blitz fährt durch die finstere lauwarme Nacht. Er zählt leise, einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiund…, dann donnert es erneut heftig. Das Gewitter ist also ganz nahe, ungefähr drei Kilometer. Am Himmelszelt ein Wetterleuchten. Es will kein Ende nehmen. Wind kommt auf. Felix bemerkt es jetzt deutlich an den sich bewegenden Wipfeln der Bäume. Noch eine Weile lesen. Es ist gerade so spannend. Schon ist er wieder im bequemen Bett verschwunden.

Kaum hat er eine Seite gelesen, blitzt es noch einmal. Es ist taghell im Zimmer. Plötzlich erlischt das Licht der Stehlampe. Ob ein Blitz eingeschlagen ist? Aber dann müsste überall kein Strom da sein. Felix springt wieder aus dem Bett, schaltet das Stubenlicht ein und siehe da: Es funktioniert nicht. Ebenso der eigene Fernseher und als er aus dem Fenster schaut, flackert auch kein Hoflicht mehr. Vielleicht ist der Sicherungsschalter gefallen. Zum Glück ist nichts Schlimmes passiert. Oder etwa doch? Er lauscht. Im Haus ist es ruhig. Sie schlafen alle. Felix geht leise in sein Zimmer zurück, holt die Taschenlampe aus dem Nachttisch und liest weiter. Man muss sich eben bloß zu helfen wissen!

Es sind keine fünf Minuten vergangen, da vernimmt Felix ein zaghaftes Klopfen in seinem Zimmer. Er horcht auf. Was war das? Ist eventuell die Fantasie mit ihm durchgegangen? Oder spielt ihm das Gewitter einen Streich? Er schaut auf die Uhr. Mitternacht. Geisterstunde. Unheimlicher kann es kaum sein. Ihm wird etwas komisch in der Magengegend, obwohl er auf Gespenster steht. Aber bisher ist Felix noch keinem begegnet. Mutig guckt er mit der Taschenlampe unter dem Bett nach, wenn auch das Klopfen nicht von da kam. Gespenster sind erfinderisch und unberechenbar, was er in seinen Büchern oft gelesen hat.

Bange Sekunden verstreichen. Im Zimmer ist es totenstill, doch draußen wütet immer noch das Unwetter. Regentropfen klatschen ans Fenster. Ob sie der Auslöser für das Klopfen gewesen sind? Eine logische Erklärung und eine akustische Täuschung dazu, findet Felix, der sich schnell wieder beruhigt. Zum Lesen hat er jetzt natürlich keinen Bock mehr. Schlafen kann er schon gar nicht. Dennoch knipst er die Taschenlampe aus. Nun ist es stockdunkel im Zimmer, nachdem er die zwei Fensterläden dicht gemacht hat.

Angespannt sitzt Felix mit angewinkelten Beinen im Bett, mit dem Rücken zur Wand, die im Sommer Abkühlung verschafft. Da beginnt wiederum das Klopfen. Siebenmal hintereinander, genauso zaghaft wie zuvor. Es ist ein hölzernes, melodisches Geräusch, von hohen und tiefen Tönen.

Felix geht ein Licht auf. Andrea! Die Schwester spielt ihm einen Streich, klopft mit einem hölzernen Gegenstand gegen die Wand, vermutet er. Ihr Zimmer befindet sich gleich neben seinem. Dass sie noch wach ist, wundert ihn zwar, ist jedoch nicht zu ändern. Wieder steigt er aus dem Bett. Schleicht sich mit seiner Taschenlampe auf Zehenspitzen zu ihrem Zimmer, macht leise die Tür auf und schaltet die Lampe an. Andrea ist aber nicht zu sehen, also kann sie auch nicht geklopft haben. ‚Wahrscheinlich ist sie aus Angst vor dem Unwetter in das Schlafzimmer der Eltern geflüchtet, die Heulsuse’, denkt Felix.

Nachdenklich geht er in sein Zimmer zurück. ‚Wenn sie es nicht gewesen ist, wer denn sonst?’ Felix ist unwohl bei dem Gedanken, denn es ist immer noch Geisterstunde. Und wenn er sich alles nur einbildet? Verwundern würde es ihn gar nicht, bei seiner blühenden Fantasie.

Wieder klopft es. Es ist ein gleichmäßiges Klopfen, neunmal hintereinander. Das Geräusch kommt aus der Richtung des alten Kleiderschrankes, auf den Felix sehr stolz ist. Niemand hat so ein wertvolles Teil. Es ist aus Rio-Palisander gefertigt. Eine edle Holzart, die in Brasilien beheimatet ist. Furniere für den Innenausbau, Musikinstrumente, Wasserwaagen, Möbel oder Messerhefte lassen sich aus dem Holz anfertigen. Der schokoladenbraune Schrank ist weit über dreihundert Jahre alt, weiß Vater zu berichten. Er ist so schwer, dass hundert starke Männer ihn nicht von der Stelle bewegen können. Felix liebt das matt glänzende Möbelstück mit dem aromatisch süßlichen Geruch, dessen Holz auch in der frühen Fantasy-Literatur seinen ewigen Platz gefunden hat. In Alexander Wolkows spannendem Kinderbuch »Der schlaue Urfin und seine Holzsoldaten« hat dieser Urfin jene aus Palisanderholz hergestellt. Ein Zauberpulver verhilft den ungemütlichen Gesellen später zum Leben. Ob der Schrank vielleicht auch …, nein! Niemals, unmöglich! Hier ist nicht die Fantasie-Welt eines Schriftstellers, sondern die Wirklichkeit!

Felix weiß nicht warum, aber er kriegt eine Gänsehaut. Ihm fröstelt, es wird stetig kälter im Zimmer. Wie in einer frostigen Winternacht. Er spürt echt seinen Atem, der in Form kleiner Nebelwölkchen die eiskalte Luft erwärmt. Rasch flieht er unter die Bettdecke. Hui, ist es da kuschelig.

Das geheimnisvolle Klopfen lässt Felix nicht in Ruhe. Ob es vielleicht Andrea ist?

»Komm schon aus dem Schrank, kleine Schwester!«, ruft er siegessicher. »Wenn du mich ärgern willst, musst du dir etwas anderes ausdenken. Von dir lasse ich mich noch lange nicht verkohlen.«

Niemand antwortet. Nur ein dumpfes Donnergrollen ist zu hören. Felix stutzt. Andrea hätte sofort auf seine Äußerung reagiert, aber er versucht es noch einmal. »Nun komm schon, das ist doch langweilig und für kleine Kinder. Denkst du, ich weiß nicht, dass du im Schrank hockst?«

Als Antwort schlägt jemand vehement von innen gegen die Schranktür, die jetzt leicht vibriert. Im ersten Moment ist Felix erschrocken. Dann glaubt er seinen Augen nicht zu trauen. Ein mattes rötliches Licht umhüllt plötzlich den Schrank und durchflutet bald den ganzen Raum. Jetzt kann Felix deutlich seinen Atem sehen. Seine Augen werden immer größer. Was passiert da mit ihm? Wird er Kronzeuge einer unheimlichen Begegnung?

Sein Staunen will kein Ende nehmen, als sich der schwere Palisanderschrank wie von allein ungefähr einen halben Meter vom Boden abhebt. Felix kriegt seinen Mund gar nicht mehr zu, so gefesselt ist er von der makaberen Situation. Es gruselt ihn. Ein eiskalter Schauer fährt über seinen Rücken. Findet das alles wirklich statt oder träumt er mit offenen Augen? Hat er zu viele Gespenstersterbücher gelesen? Felix will sich den Schrank mit der Taschenlampe genauer anschauen, doch sie funktioniert nicht mehr. Eine Geistererscheinung in seinem Zimmer? Wie seltsam. Daran wagt der entsetzte Junge nicht zu denken.

Felix spürt sein Herz schneller schlagen. Ist das vielleicht die Angst? Nein, er hat keine Angst. Es ist eher die Neugier. Sie drängt ihn, die Situation endlich aufzuklären. Aber wie soll er das anstellen? Wäre doch Sebastian jetzt hier! Der Freund wüsste bestimmt einen guten Rat. Er könnte ihn ja anrufen, auch wenn es mitten in der Nacht ist. Wäre sozusagen ein Notruf. Schon will er den Gedanken in die Tat umsetzen, sein zweites Ich hindert ihn jedoch daran. Das macht es immer, wenn Felix zweifelt und das ist gar nicht so schlecht, wie er aus Erfahrung weiß.

Minuten vergehen, die dem Jungen wie Stunden erscheinen. Der Schrank schwebt immer noch über dem Boden. »Hallo! Ist da jemand!«, ruft Felix couragiert, während seine Augen das schwere Möbel scharfsinnig beobachten. Er bekommt keine Antwort, auch als er seine Frage noch einmal wiederholt.

Dafür senkt sich der Schrank wieder und will gar nicht mehr aufhören. Immer tiefer versinkt er im Fußboden, um wenige Augenblicke später abermals aufzusteigen. Dann schlägt es heftig gegen die Schranktür, dass diese nur so erzittert. Felix zuckt erschrocken zusammen. Hernach dringt grüner Nebel in Form winziger Ringe aus den Ritzen des Schrankes hervor. Sie schweben bis zur Zimmerdecke empor, bilden dort einen quadratischen Teppich. Es sieht aus wie ein Gitter. Felix ist nun sonnenklar, dass ihm jemand etwas mitteilen will.

Kurz darauf erklingt mittelalterliche Musik auf einer Laute. Es ist eher eine traurige Melodie, die Sehnsüchte erweckt und Suche nach Geborgenheit. Dann hört Felix irgendwen leise schluchzen. In diesem Moment beginnt das Licht wieder zu brennen. Das grüne Nebelgebilde zieht sich blitzartig in den Schrank zurück. Felix sammelt all seinen Mut zusammen. Er springt aus dem Bett, läuft zum Schrank und kriegt wieder eine Gänsehaut. Auf der rechten Schranktür ist das Gesicht eines Knaben eingraviert. Ein frohes Gesicht, aber auf einmal verändert es sich. Der Knabe weint Bluttropfen. Sie rinnen in winzigen Bächen die Schranktür herunter und verschwinden in seinem unteren Teil.

Plötzlich spürt Felix so richtig Angst. Seine Knie schlackern, er kann sich nicht von der Stelle bewegen, ringt nach Luft. Ja, ihm ist sogar furchtbar übel. Doch genau so plötzlich, wie es begonnen hat, endet das unheimliche Spektakel wieder. Felix schaut auf den Wecker. Genau eine Stunde nach Mitternacht. Ende der Geisterstunde. Es geht durch und durch mit ihm. Was hat er da bloß erlebt?

Hexengruft – Abenteuer in Moorland

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