Читать книгу Hexengruft – Abenteuer in Moorland - Ralph Müller-Wagner - Страница 8
4. Kapitel: Das traurige Gespenst
ОглавлениеFür Felix will dieser misslungene Tag heute nicht enden. Er ist wie angestemmt, seit dem er Sebastian im Regen stehen gelassen hat. Wie leid ihm das tut. Doch Felix kann seine Natur nicht ändern. Er will es auch gar nicht. Man muss den Menschen so nehmen, wie er wirklich ist. Hat ihm einmal seine Mutter gesagt. Felix versucht das immer zu beherzigen, mit dieser Lebensweisheit ist er bisher gut ausgekommen. Sebastian wohl eher nicht, aber der kennt auch die Sprüche seiner Mutter nicht. Felix hat keinen schwerwiegenden Fehler gemacht, sondern die Wahrheit gesagt. Es ist wirklich etwas Unheimliches in seinem Zimmer geschehen, auch wenn er das nur angedeutet hat. Außerdem lacht er Sebastian auch nicht aus, nur weil der an Gott glaubt. Sogar Erwachsene glauben an Gott, obwohl ihn noch keiner gesehen hat.
Der Abend ist wieder angebrochen, es dämmert bereits, als Felix müde sein Buch aus der Hand legt und leise gähnt. Den ganzen Tag hat er darin gelesen, um sich abzulenken. Von Andrea weit und breit keine Spur. Vielleicht ist sie ja zu Oma in die Stadt gefahren, um sich Lorbeeren für ihr gutes Zeugnis abzuholen. Einschmeicheln kann sich Andrea wirklich prima. Den Schrank näher zu untersuchen, war Felix für diesen Tag die Lust mehr vergangen. Der hat ihm bloß Unglück gebracht, was seinen Freund betrifft. Auch wenn ihn das Geheimnis reizt, er würdigt den Schrank keines Blickes mehr. Bald wird alles vergessen sein. Das heftige Gewitter der letzten Nacht. Der grüne Nebel. Das seltsame Klopfen. Der Streit mit seinem Freund. Ohne ihn sind die Stunden schon ziemlich langweilig.
Felix schließt müde die Augen. Doch bald peinigt ihn ein schrecklicher Alptraum: Riesige Vampire halten Felix in einer Burgruine gefangen. Sie wollen ihm eben das Blut aussaugen. Da erscheint plötzlich ein tollkühner Rittersmann und befreit Felix aus den messerscharfen Klauen der abartigen Monster. Es ist Sebastian, der in der schweren Ritterrüstung steckt. Auf Freunde ist eben immer Verlass, sogar in den Träumen!
Schweißgebadet wacht Felix auf. »Sebastian! Du hier?«, ruft er verwundert, so intensiv hat er geträumt. Verschlafen reibt er sich die Augen, blickt zur Uhr. Mitternacht. Geisterstunde und dann dieser seltsame Traum. Was hat das zu bedeuten? Plötzlich blitzt es draußen. Die Gardine bewegt sich wie von allein, obwohl kein Windstoß zu vernehmen ist. Felix steht auf, torkelt wie ein Angetrunkener zum Fenster und schließt es. Alles wie letzte Nacht! Nun ist er hellwach.
‚Der Palisanderschrank!’, kommt es Felix in den Sinn. Mit ihm hat alles angefangen. Den will er jetzt unbedingt im Auge behalten. Er greift nach dem Lichtschalter, aber er funktioniert wieder nicht. Kein Licht also. Schon greift Felix nach seiner Taschenlampe, doch auch diese erfüllt ihre Aufgabe nicht. Es ist dunkel im Zimmer. Nur die zuckenden Blitze erhellen es immer wieder für den Bruchteil einer Sekunde. Schnell springt Felix zurück in sein Bett. Von hier aus kann er die Situation genau beobachten. Die Spannung steigt. Sein Puls schlägt schnell, es gruselt ihn, er ist aufgeregt. Trotzdem weicht sein Blick nicht vom Schrank. Bäuchlings liegt der mutige Junge unter der Bettdecke, bloß sein Kopf guckt hervor und so vergehen die Minuten. Sie kommen Felix viel zu lange vor. Nichts passiert, nur der Donner grollt hin und wieder.
Da, plötzlich ein leises Geräusch. Fast unhörbar. Als würden Blätter sanft die Fensterscheibe streicheln. Felix dreht sich erschrocken um. Die Gardine zieht sich wie von selbst auf, es ist niemand zu sehen. Träumt er, oder passiert das wirklich alles! Felix findet darauf keine Antwort. Dafür ist die Situation viel zu spannend.
Es blitzt wieder, mehrmals kurz hintereinander, dadurch wird das Zimmer für einen längeren Augenblick als vorher erhellt. Auf einmal bemerkt Felix einen dunklen Schatten an der Außenseite des Fensters. Ein eiskalter Schauer läuft ihm über den Rücken. Was ist das? Einer dieser Vampire, die ihm in seinem Traum so zusetzten? Schnell verschwindet Felix unter seiner Bettdecke, mit all seinen verwirrten Gedanken. Und wenn es Sebastian ist? Vielleicht will der ihm einen Streich spielen, wegen der Gespenster, die es für ihn nicht gibt. Wäre eine logische Erklärung. Er muss nochmal nachschauen. Koste es, was es wolle. Vorsichtig schiebt er jetzt den Kopf unter der Bettdecke hervor. Flüchtiger Blick zum Schrank, wo alles still ist. Danach nimmt er das Fenster ins Visier. Auch dort ist nichts zu sehen, bis es erneut lange blitzt. Felix beginnt zu zählen. Er kommt gerade bis zwei. Dann setzt heftiger Donner ein, als würde das ganze Haus über ihm einstürzen. Er muss sich die Ohren zu halten, so laut ist es. Plötzlich wird das Fenster aufgestoßen. Ein großer dunkler Schatten dringt in das Zimmer ein. Im fahlen Blitzlicht wirkt er wie der blanke Horror. Felix hält entsetzt seine Hände vor das Gesicht. Das Herz schlägt ihm bis zum Hals. Jemand lacht böse. Jetzt hat Felix sein Abenteuer, welches viel bizarrer als das letzte ist.
Kein Mensch wird ihm glauben, was er da wiederholt erlebt. Aber vielleicht gibt es ja noch mehr Kinder oder Erwachsene, denen ähnliches zugestoßen ist, dies jedoch lieber für sich behalten haben, weil sie nicht als Vollidioten gelten wollen. Warum soll nur ihm das Unfassbare widerfahren? Die Welt ist viel größer als sein Kinderzimmer!
Felix nimmt nun die Hände vom Gesicht, er will der Gefahr ins Auge blicken. Da wird das Fenster von unbekannter Hand zugeschlagen. Fast gehen die Scheiben zu Bruch, so heftig scheppert es. Ist die Gestalt wieder verschwunden? Vielleicht ist sie ja noch irgendwo da draußen im Garten?
Wie unheimlich das alles ist. Trotzdem fasst sich Felix ein Herz, mutig steigt er aus dem Bett, schleicht sich zum Fenster und drückt sein Gesicht an die Fensterscheibe. Aber er kann niemanden sehen, auch wenn er sich noch so sehr bemüht. In diesem Augenblick klopft es genau so wie gestern Nacht ganz zaghaft im Zimmer. Felix ist wie verhext. Auf dieses Zeichen hat er die ganze Zeit gewartet.
Felix will etwas sagen, doch plötzlich bekommt er seinen Mund nicht mehr auf. Immer und immer wieder probiert er es. Vergeblich! Zu allem Überfluss klebt er auf einmal mit dem Gesicht an der Scheibe fest. ‚Auch das noch!’, denkt Felix verzweifelt. Was hält ihn da bloß gefangen? Bald spürt er, dass es ein stinkender klebriger Brei ist. Aber wer in Gottes Namen hat den wohl an die Fensterscheibe geschmiert?
Draußen wütet das Unwetter stärker. Blitz und Donner geben sich weiterhin ein Stelldichein. Regen fällt in Strömen auf die Erde nieder. Der Wind bläst dämonisch, wirbelt die Wipfel der Bäume heftig durcheinander. Auf einmal spürt Felix, wie sein Gesicht auf der Scheibe hin und her geschoben wird, als ob er diese putzen müsste. Eine schreckliche Erfahrung und nichts kann er dagegen unternehmen. Wütend stemmt er die Hände an die Fensterbalken, versucht sich loszureißen. Vergeblich, es nutzt alles nichts. Er bleibt Gefangener einer unheimlichen Kraft, bis diese es sich wieder anders überlegt hat und ihn frei gibt. Wie ein Geschoss fliegt Felix ein paar Meter durch sein Zimmer. Vor dem Palisanderschrank fällt er dann rücklings auf den Fußboden. Oh, wie schmerzhaft das ist. Er schreit leise auf, kann sich für einen Moment nicht bewegen. Doch zum Glück hält ihn niemand mehr gefangen. Er blickt, zwar noch ein bisschen befangen, zum Fenster und staunt mächtig, als er entdeckt, dass die Gardinen zugezogen sind. Erst dann fällt ihm auf, dass jenes grüne matte Licht von gestern wieder flackert und das Zimmer auf geheimnisvolle Weise erhellt. Aber nach einigen Sekunden ändert das Licht seine Farbe. Jetzt schimmert es beige, alle Gegenstände im Zimmer sind klar zu erkennen.
Wieder klopft jemand heftig gegen die Schranktür, dreimal kurz hintereinander. Es klingt aufdringlich und makaber. Felix rutscht das Herz in die Hose. Seinen Rücken vor Schmerzen festhaltend, steht er geschwind auf und flüchtet unter großen Anstrengungen in sein Bett. Hui, so schnell ist Felix noch nie unter der Bettdecke verschwunden. Natürlich will er wissen, was weiter passiert. Er ist kein Weichei, trotzdem ist ihm übel in der Magengegend. Er traut sich jedoch nicht aus dem Zimmer heraus, denn er will auf keinen Fall etwas verpassen.
»Hallo!«, erklingt plötzlich deutlich vernehmbar eine dumpfe Stimme. »Hallo! Darf ich vielleicht raus kommen? Hier aus dem wunderschönen Schrank? Es ist so stickig darin.«
Felix spitzt fassungslos die Ohren. Da hat doch in der Tat jemand gesprochen. Soll er antworten oder besser nicht? Gespannt beobachtet der Junge, wie durch die Schrankritzen wie gestern der grüne Nebel dringt. Er formt kleine Gebilde in der Luft. Bäume, Fabelwesen, sogar ein Drachen ist dabei und ganz viele ineinander verhakte Ringe. Sie steigen schnell zur Zimmerdecke empor und verwandeln sich bald in schwere Wolkenformationen, aus denen es zu schütten anfängt. Felix kriegt den Mund gar nicht mehr zu, als er das unglaubliche Schauspiel verfolgt.
»Ist denn hier niemand?«, spricht wieder die Stimme aus dem Schrank. »Bin so aufgeladen mit Energie, dass ich fast platze. Muss hier raus, dringend!«
Felix will schon gerne antworten, aber ihm ist so, als würde ein Kloß in seiner Kehle stecken. Nicht einen Ton bekommt er über die Lippen, was ihm gar nicht gefällt. Schließlich ist es das erste Mal in seinem Leben, dass ein Gespenst mit ihm Kontakt aufnimmt. Es kann doch nur ein Gespenst sein. Was denn sonst?
Bum ba bum bum bum bum, klopft es nun rhythmisch von innen gegen die Schrankwand. »Hört mich denn hier keiner?«, jammert die geheimnisvolle Stimme weiter. »Schon bald ist die Stunde vergangen und ich muss in die Zwischenwelt zurück. Hallo! Hallo!«
‚Zwischenwelt? Das klingt wirklich gespenstisch’, überlegt Felix. Und plötzlich ist seine Stimme wieder da, auch wenn sie noch ganz dünn klingt. »Ja, hier ist jemand. Wer gibt sich denn die Ehre? Ich bin mehr als hoch erfreut. Ich mag Gespenster und habe schon eine Menge über euch gelesen.«
»Das ist aber fein. Ist doch jemand da, ich darf also wirklich eintreten, Euer Ehren?«, antwortet die Stimme erleichtert.
»Ja, du darfst. Ich habe auch keine Angst.« Schwupp. Felix verschwindet unter seiner Bettdecke, dort harrt er der Dinge, die da auf ihn zukommen. Euer Ehren hat das Gespenst zu ihm gesagt, das bringt ihn irgendwie zum Schmunzeln.
Die Schranktür knarrt und will gar nicht mehr aufhören damit. Dann wird es gleich mucksmäuschenstill, bis ein mysteriöses Brummen einsetzt.
»Wo seid Ihr denn?«, sagt die Stimme verhalten.
»Na hier, unter der Bettdecke«, antwortet Felix klein laut.
»Wenn Ihr wollt, kann ich ja auch mit hinein huschen, damit wir uns vorstellen können.«
»Nein, lieber nicht!«, ruft Felix entsetzt.
»Warum zeigt Ihr Euch nicht, seid wohl ein Aussätziger?«
»Nein, keineswegs. Ich sehe nicht schlimm aus, bin bestimmt kein Freak. Mir taten nur die Augen so weh, verstehst du?«, schwindelt Felix wie gedruckt. »Aber jetzt geht es mir schon wesentlich besser. Bin gleich draußen, warte mal.« Kaum hat er das hellgrün leuchtende Gespenst mit seiner menschlichen Gestalt gesehen, schreit Felix erschrocken auf und verkriecht sich abermals unter seiner Bettdecke. Selbst das faltenlose Gesicht des Wesens und seine Elfenohren, die zwischen halb langen Haaren hervor schauen, leuchten grün.
»Sehr eigenartig«, wundert sich das fremde Wesen. »Habt Ihr vielleicht Zahnschmerzen? Da wüsste ich Abhilfe. Mit einem Stück Draht ziehe ich Euch den kranken Zahn gerne heraus.«
»Nein, keine Zahnschmerzen!«, antwortet Felix entsetzt. »Die Augen stechen mir so«, schwindelt er dann weiter. Der Typ will ihm doch glattweg mit einem Draht die Zähne ziehen. Hat der noch alle Latten am Zaun? Aber dann besinnt sich Felix. Das Wesen will ihm ja bloß helfen, es muss demnach ein gutes Gespenst sein. So entschließt sich Felix, ihm erneut entgegen zu treten. Mutig kriecht er unter der Bettdecke hervor, obwohl er am ganzen Körper zittert. Na ja, schließlich kriegt man nicht jeden Tag ein Gespenst zu sehen.
Richtig kalt ist es im Zimmer geworden, eiskalt. Felix sieht seinen Atem. Es fröstelt ihn. Oder ist es die Angst, die sein Blut in den Adern gefrieren lässt? Bibbernd steht er vor dem Bett, reibt sich die Augen. Nein, alles ist echt. Er träumt nicht. Und es ist immer noch Geisterstunde.
Die geheimnisvolle Erscheinung ist nicht größer als Felix. Das Wesen trägt echte mittelalterliche Kleidung. Schnürhemd, Lammfellweste, Bundhose und geschnürte Stulpenstiefel. In der rechten Hand hält es einen Filzhut mit Feder. »Es ist mir eine große Ehre, Euch vor die Augen treten zu dürfen, Herr des gelobten alten Palisanderschrankes«, stellt es sich höflich vor. »Mein Name ist Palis. Ich bin ein Baumelf aus dem Lande Ghorgos und betreue da die Palisanderbäume eines Waldes. Seit Jahrhunderten reise ich durch die Zeit, doch dazu später.«
Felix ist so fasziniert von den Worten des Fremden, dass er sich erst einmal auf den Hosenboden setzt und die Eiseskälte vergisst, die immer noch in seinem Zimmer herrscht. Er bringt vor Aufregung kein einziges Wort über die Lippen. Stumm mustert er die bizarre Gestalt, welche in ein grünliches mattes Licht getaucht ist.
»Euch hat es ja offensichtlich die Sprache verschlagen. Ich verstehe das. Es tut mir leid«, entschuldigt sich der Fremde. »Ist auch nicht unbedingt die feine Art, Leute um Mitternacht aus dem wohlverdienten Schlaf zu reißen. Aber ich verfüge nur über diese Möglichkeit, um die Aufmerksamkeit auf mich zu lenken. Eigentlich bin ich gar nicht so klein. Ich kann meine Größe beliebig ändern, doch aus Anstandsgründen passe ich mich immer der Größe meines Gegenübers an«, offenbart der Fremde weiter, während er an der Schnalle seiner ledernen Gürteltasche spielt.
Felix, der nun die Bettdecke über seine Schultern zieht, um sich auf zu wärmen, findet die Stimme wieder, er fasst sich ein Herz und sagt leise: »Ist nicht so schlimm. Ich bin der Felix. Man, hast du mir einen Schreck eingejagt.«
»Ach, lasst mal gut sein. Das wird schon mit uns beiden«, winkt der Fremde ab. »Auch wenn ich bloß ein Gespenst bin. Wir werden bestimmt gut miteinander auskommen, Herr des gelobten alten Schrankes.«
»Das will ich doch hoffen«, antwortet Felix gerade heraus. Er hat überhaupt keine große Lust, es sich mit einem Gespenst zu verscherzen. »Sage doch einfach Felix zu mir. Ich … ich bin doch noch ein Kind und auch nicht der Herr des Schrankes, wie du meinst.«
»Also gut, Felix. Aber dass dieser schöne Schrank in Eurem Gemach steht, ist bestimmt kein Zufall. Er ist aus Palisanderholz gefertigt und birgt besondere Eigenschaften.«
Felix macht jetzt große Augen und ist gespannt.
Der Fremde beginnt gleich zu erzählen: »Sein Holz ist mit Zauberkräften durchtränkt, die zur Geisterstunde belebt werden. Dadurch ist es mir möglich, mit Euch in Verbindung zu treten. Nun wisst Ihr auch, warum wir uns nicht am Tage begegnen können.«
Felix spitzt die Ohren. Unglaublich, was er da hört! Da steht ein uralter Zauberschrank in seinem Zimmer und er weiß gar nichts davon. Wieder läuft es ihm eiskalt über den Rücken. Kritisch mustert er das Gespenst, fragt: »Bist du aus Fleisch und Blut? Du siehst so echt aus.«
»Oh, danke für das Kompliment«, freut sich der Fremde und reibt seine Hände, dass es nur so raschelt. »Leider muss ich Euch enttäuschen. Meine Gestalt ist feinstofflich. Berührt Ihr mich, greift Ihr ins Nichts und spürt nur Eiseskälte. Wollt Ihr es einmal ausprobieren?«, schlägt er dann vor, den erstaunten Jungen dabei angrinsend.
Felix rümpft die Nase. Klar, er will mal. Wer bekommt schon die Gelegenheit, ein Gespenst zu berühren. Doch ist es ihm auch etwas gruselig dabei. Darum zögert Felix und ehe er sich versieht, legt der Fremde ihm seine rechte Hand um die Schulter. Plötzlich wird dem Jungen so richtig frostig, bis in die Zehenspitzen. Schon fängt er mit den Zähnen zu klappern an und bittet den gespenstischen Baumelfen deshalb freundlich, die Hand von seiner Schulter zu nehmen. Die Kälte lässt auch schlagartig nach, aber Felix schlüpft trotzdem unter die warme Bettdecke.
»Nun, habt Ihr mich gespürt?«, will der Fremde wissen.
»Nein, nur Kä…Kä… Kälte«, stammelt Felix, während er von einem Bein auf das andere tritt. »Ich glaube dir, du bist echt cool. Im wahrsten Sinne des Wortes. Aber mit dem Anfassen, das … das lassen wir mal. Man, ist mir vielleicht kalt.«
»Will ich gerne verstehen. Dann bleibt mal schön unter der kuscheligen Bettdecke. Die bringt Euren Körper wieder auf angenehme Temperaturen. Ihr habt doch, so hoffe ich, keine Angst vor mir?«
»Nein nein, warum denn?«, antwortet Felix, obwohl ihm das Gespenst nicht ganz geheuer ist. Darum fügt der Junge leise hinzu: »Äh, wann gehst du denn wieder?«
»Bin doch gerade erst gekommen, Verehrter. In der Regel dauert mein Besuch eine Stunde. Das wird wohl ausreichen, um eine Geschichte zu erzählen. Meine Geschichte, die sehr traurig ist. Viele Jahre habe ich darauf gewartet, um sie Euch anzuvertrauen. Jetzt ist dieser Zeitpunkt endlich gekommen.« Das geheimnisvolle Wesen aus einer anderen Welt setzt sich nun im Schneidersitz auf den Teppich, mit dem Rücken zum Palisanderschrank.
Felix kratzt sich hinter dem Ohr. Hat er richtig gehört? Das Gespenst wollte es ihm schon viel früher erzählen? Was soll er denn davon halten?
»Ich habe Euch bereits besucht, als Ihr noch nicht einmal laufen konntet«, verrät ihm das grüne Wesen, als ob es seine Gedanken lesen kann.
»Wie das?«, meint Felix verblüfft.
»Weil ich von Anfang an wusste, dass nur Ihr meine Rettung sein könnt. Die Fee des Waldes offenbarte es mir einmal. Der Zauberschrank steht in Eurem Gemach. Er ist der Schlüssel, um die Tür in meine Welt auf zustoßen. Mein junger Freund, Ihr habt nun das richtige Alter, um mit mir in Kontakt zu treten. Außerdem glaubt Ihr wirklich an übernatürliche Kräfte, seid dem Unfassbaren gegenüber aufgeschlossen. Seit ich Euch damals zum ersten Mal sah, habe ich den heutigen Zeitpunkt herbeigesehnt. Ich konnte all diese Jahre keine Ruhe finden. Das ist nun endlich vorbei, der Augenblick meiner Erlösung so nahe.« Die Stimme des Fremden klingt erleichtert. Er mustert den Jungen aufmerksam, wie der wohl reagiert.
Verwirrt schaut Felix das Gespenst an. Und er staunt noch mehr, als die Umrisse der Gestalt plötzlich rötlich zu leuchten beginnen. Felix kann ja nicht wissen, dass es ein Ausdruck von Gespensterfreude ist, welche jetzt in sichtbare Energie umgewandelt wird. Wie herrlich, dass gerade er ausgewählt wurde, ein richtiges Gespenst zu erlösen. »Du machst mich in der Tat ganz neugierig. Dann erzähle mal deine Geschichte«, bittet er darum seinen unheimlichen Besucher.
»Danke für Euer Verständnis. Hört also genau zu!« Bevor der Fremde beginnt, huscht er in Windeseile zur Tür und horcht, ob sie wohl möglich belauscht werden, aber die Luft ist rein. Dann nimmt er wieder seinen Platz ein. Mit trauriger Stimme erzählt er: «Die Hexe Xantl hält meinen physischen Körper seit Jahrhunderten gefangen. Sie ist so bitterböse, dass selbst die Finsternis sich fürchtet, Dämonen ihr aus dem Wege gehen. Ihre eiserne Macht ist allgegenwärtig. Ohne Gnade knechtet sie ihre Untertanen. Als sie und ihre Henkersknechte einst unser Elfenland überfielen, nahm Xantl auch mich gefangen. Wir lebten dort in Frieden und Eintracht miteinander. Die Hexe verschleppte uns später nach Moorland, ihr Reich, irgendwo am Ende des Universums. Eine trostlose und gespenstische Welt, wo bereits unzählige Wesen spurlos verschwunden sind. Keiner fand bisher den Mut, die Hexe zu besiegen. Und wenn es doch irgendwann jemand wagt, wird der Widerstand eiskalt gebrochen. Die Hexe verkörpert das absolut Böse. Sie will die ganze Welt unter ihre dunkle Herrschaft stellen. Das Gute verhöhnt sie, beobachtet es ständig durch ihr magisches Auge.«
»Nun trug es sich zu, dass mich nach einhundert Jahren Haft die Fee des Waldes im Kerker heimlich besuchte. So lange hatte es gedauert, bis sie eine List fand, um dieses Wagnis auf sich zu nehmen. Erst wollte die Fee über meine Träume in Kontakt mit mir treten, aber Xantl bewacht jeden Schlaf, müsst Ihr wissen. Schließlich half ein alter Druide der guten Fee. Er brachte ihr bei, wie man seinen Körper verlässt und sich wie ein Gespenst bewegt. So gelangte sie zu mir und ich sah sie, wie Ihr mich jetzt seht. Da der Geistkörper der Fee mit einem Schutzschild versehen war, konnte ihn die Hexe nicht sehen. Dann lehrte mich die kluge und schöne Fee, wie man seinen Körper verlassen kann. Eine unglaubliche Erfahrung, sage ich Euch. Anfangs hatte ich große Probleme, wieder in meinen Körper zu fahren, doch Übung macht den Meister.«
»Wie Ihr Euch vorstellen könnt, war ich glücklich, wenigstens auf diese Art eine eingeschränkte Freiheit zu erfahren. Bald brachte ich den Mut auf, auch durch den Rat der guten Fee, nach einer Lösung zu suchen, wie man Xantl für immer vernichten kann. Seit dem reise ich durch die Zeit, aber bisher ohne Glück. Einmal erzählte mir die Fee von Euch und dem alten Zauberschrank. Ihr wärt der Auserwählte. Tapfer, mit guten Einfällen, dem Glauben an das Magische und vor allem ein Menschenkind. Das seien die hauptsächlichen Attribute, der Hexe den Garaus zu machen. Nun kennt Ihr endlich die ganze Geschichte und ich frage Euch voller Hoffnung, ob Ihr mir und den anderen armen Seelen in Moorland helfen wollt?«
»Ich?«, ruft Felix voller Panik. »Aber ich … ich bin ein Kind. Wie soll ich gegen die böse Hexe ankommen? Ich kann nicht einmal zaubern. Och …« Felix ist schockiert. Natürlich tut ihm das Schicksal von Palis leid. Doch was erwartet der Baumelf da von ihm? Schnell verkriecht er sich unter seiner Bettdecke.
»Das ist ja gerade das Salz in der Suppe. Nur ein Kind kann die Hexe besiegen!«, beteuert der Elf. »Ich hatte es befürchtet, dass das alles viel zu gefährlich ist und Ihr mir nicht helfen möchtet. Nun ist alles verloren. Dabei setzte ich doch meine ganzen Hoffnungen in Euch.« Er schluchzt laut, steht auf und läuft aufgeregt im Zimmer hin und her.
‚Der Ärmste’, denkt Felix und atmet tief durch, den Trick hat er von seiner Mutter. Das hilft! Felix hat sich wieder im Griff, er schlägt die Bettdecke zurück und erwidert leidenschaftlich: »Ich will wirklich gern helfen, weiß nur nicht genau, wie ich es anstellen soll! Pass auf! Ich überlege es mir mal bis morgen, ja? Du hast jetzt so viele Jahrhunderte gewartet, da kommt es auf einen Tag auch nicht mehr an. Machen wir es so?«
Erleichtert kniet sich Palis vor Felix auf den Teppichboden und bedankt sich von ganzem Herzen bei dem Jungen für seine Entscheidung.
Aber nun ist Felix Neugier entfacht. »Und du kannst wirklich durch die Zeit reisen? Ich stelle mir das richtig spannend vor.«
»Ist es auch«, antwortet das Gespenst. Dann erzählt es ihm etwas über seine Abenteuer. »Ich weilte einst lange in der Vergangenheit, in Eurer Welt, weil mich die Menschen so faszinieren. Obwohl ihre Lebensspanne nicht all zu groß ist und sie wissen, dass sie sterben müssen, geben sie niemals auf! Und mit ihnen ihre Sehnsüchte, Träume und Wünsche. Das spricht von Größe! Ja, ich sah Hannibal, als er einst mit seinen Kriegselefanten über die Alpen gegen Rom zog. Ich begleitete heimlich Marco Polo auf einer seiner vielen Reisen, stand mitten im blühenden Troja, bestaunte das sagenhafte Atlantis. Ich weilte in so früher Erdgeschichte, als die heutigen Kontinente noch eine Landmasse waren und sah die Zukunft. Aber darüber werde ich Euch nichts erzählen, weil Ihr diese sonst verändern könnt. Bald werdet Ihr selbst erfahren, wie es ist, durch die Zeit zu reisen. Ihr macht einfach die Augen zu und schon seit Ihr da. Lasst Euch also überraschen!«
Felix ist überwältigt von diesem fantastischen Bericht. Wie gerne würde er selbst einen Blick in die Vorwelt werfen. Die alten Wikinger auf ihren waghalsigen Touren über das Meer beobachten. Oder warum die Neandertaler die Welt wieder verlassen mussten. »Ich kann es kaum erwarten«, erwidert er dann, ganz in seine Träume vertieft. An die böse Hexe Xantl denkt Felix dabei jedoch nicht.
»Ach, du liebes Elfenohr. Die Geisterstunde ist gleich vorbei. Ich muss in den Zauberschrank zurück«, ruft Palis plötzlich und holt Felix damit aus seiner Gedankenwelt zurück. »Denkt gründlich nach, Ihr könnt ein großer Held werden. Also dann einmal bis morgen.« Schon ist der gespenstische Fremde, der Felix gar nicht mehr so fremd ist, im Schrank verschwunden.
»Was passiert eigentlich, wenn du etwas länger bleibst, als die Geisterstunde dauert?«, ruft Felix ihm noch hinterher.
»Oh weh, bloß das nicht. Dann verbrenne ich und somit auch mein physischer Körper. Darum ist Eile geboten.«
»Und wenn es morgen zur Geisterstunde nicht gewittert?«, kommt Felix noch ein wichtiger Gedanke in den Sinn. »Es ist doch bisher jedes Mal so gewesen. Du kamst immer mit dem Gewitter. Hallo, Palis?«
Er antwortet nicht mehr, die Zeit hat ihn wieder verschluckt. Der Zauberschrank erstrahlt nun im Licht von tausend Farben. Dieses Licht knistert und ist so hell, dass Felix für eine Weile die Augen schließen muss. Dann ist der Spuk vorbei, er endet mit einem gewaltigen Donnerschlag. Gleich wird es wärmer im Zimmer, aber stockdunkel.
Felix springt aus dem Bett, will sehen, ob sich das Gewitter verzieht. Schon ist er am Fenster und zu Tode erschrocken. Ein seltsames Wesen klebt von außen an der Scheibe, erklärt somit die absolute Dunkelheit im Zimmer. Es starrt ihn an mit seinen bösen roten Augen, die so groß wie Untertassen sind. Felix ist wie zu Stein erstarrt. So ein Monster hat er noch nie gesehen. Es muss jener Schatten gewesen sein, den er zu Eintritt der Geisterstunde bemerkte. Aber auch das Wesen ist vom Auftauchen des Jungen nicht gerade begeistert. Es löst sich plötzlich von der Scheibe und flüchtet dann mit einem welterschütternden Schrei in die offenen Arme dieser Nacht. Felix glaubt, dass es ein riesiger Vampir ist. Noch sitzt ihm der Schreck in den Gliedern. Das Gewitter ist vorbei gezogen, es endete tatsächlich mit der Geisterstunde. Merkwürdig!
Felix ist so aufgewühlt von seinem Erlebnis, dass er lange wach bleibt. Er befindet sich mitten drin in einer unglaublichen Geschichte. Warum passiert ihm das und nicht den anderen Kindern? Felix muss schon leise schmunzeln, wenn er daran denkt, nun mit einem Gespenst befreundet zu sein. Hätte er niemals im Leben für möglich gehalten! So richtig Angst hat ihm jedoch das Monster mit den großen Augen gemacht. Was mag es wohl für eine Rolle spielen? An Zufall glaubt Felix nicht. Erst in den frühen Morgenstunden schläft er, vollgetankt mit unvergesslichen Impressionen, ein.