Читать книгу 366 Tage - Ramona Mitsching - Страница 5
1. Kapitel
ОглавлениеEs war schon das dritte Dorf, durch das sie fuhr und keinen Menschen zu Gesicht bekam. Einigermaßen irritiert blickte Isabell starr geradeaus. Gern würde sie anhalten und nach dem Weg fragen.
Das alte Auto, das sie steuerte, besaß kein Navigationssystem und die Straßenkarte bewahrte sie im Handschuhfach auf. Allerdings hatte sie wenig Lust, die heraus zu kramen und nachzuschauen.
Sie stand auf Kriegsfuß mit Landkarten. Und das schon seit der Zeit, als man ihr in der Schule im Geografie Unterricht versucht hatte beizubringen, wie man sich auf einer solchen Karte orientierte. Für sie waren die vielen Linien, Kreise und sonstigen Gebilde einfach nur verwirrend.
Isabell setzte den Blinker und suchte nach einer passenden Stelle am Straßenrand, wo sie den Wagen abstellen konnte, ohne im Weg zu stehen. Während sie einen Platz zum Halten ausfindig gemacht hatte, musste sie schmunzeln.
Wen sollte sie hier stören? Weit und breit waren weder ein Auto noch ein lebendiges Wesen auszumachen.
Sogleich kam ihr eine zweite Frage in den Sinn: Was nur hatte sie in diesen einsamen Landstrich verschlagen?
Der Wagen war zum Stehen gekommen. Isabell zog die Handbremse an und stellte den Motor ab. Dann schaute sie in den Seitenspiegel und sah: nichts. Schwungvoll öffnete sie die Tür und setzte ihren linken Fuß auf den Boden. Währenddessen achtete sie nicht auf ihren Rock, der in diesem Moment unanständig weit nach oben gerutscht war. Mit einer weiteren Bewegung hatte sie sich aus ihrer sitzenden Position befreit und stand nun neben ihrem Fahrzeug.
Ihr Blick ging zum Himmel. Die Sonne stand im Zenit. Es musste um die Mittagszeit sein.
Isabell hatte lange nicht mehr auf ihre Uhr geschaut. Sie kniff die Augen zusammen, aber es half nichts.
Wo hatte sie ihre Sonnenbrille hingelegt? Die war weder auf dem Armaturenbrett noch auf dem Beifahrersitz zu sehen. Isabell dachte nach und glaubte, sich zu erinnern: Sie hatte die Brille zusammen mit der Straßenkarte verstaut, was bedeutete, dass sie im Handschuhfach nachsehen musste.
Mit wenigen Schritten lief sie um das Fahrzeug herum und stoppte sogleich. Während sie nach einem geeigneten Platz zum Anhalten gesucht hatte, hatte sie nicht bemerkt, wie es am rechten Fahrbahnrand aussah. Hier würde sie mit ihrem Schuhwerk nichts ausrichten können. Ziemlich hoch wuchsen dort Disteln mit deutlich sichtbaren und gefährlich aussehenden Dornen.
Isabell musste es von der Fahrerseite aus versuchen.
Sie lief zurück und kniete sich mit ihrem rechten Bein auf den Fahrersitz. In diesem Moment bemerkte sie, wie ihr Rockstoff sich in Richtung ihrer Taille bewegte. Eine Sekunde lang zögerte sie, dann entschied sie sich, nichts zu unternehmen. Schließlich war sie hier allein. Mit dem ausgestreckten rechten Arm erreichten ihre Finger den Griff des Handschuhfaches. Sie öffnete es und musste noch ein Stück weiter heran rutschen, um hineinsehen zu können. Isabell sah das Etui obenauf liegen, nahm es heraus und beförderte anschließend ihren Körper aus dem Auto. Den Sitz ihres Rockes hatte sie vergessen. Wichtig allein war, endlich ihre Augen vor dem grellen Sonnenlicht schützen zu können.
Es kam einer Wohltat gleich, als sie die Dunkelheit vor ihren Pupillen spürte.
Isabell drehte ihren Körper um 180 Grad und sah: Die Dorfstraße war und blieb verwaist.
Sogleich schaute sie an sich herab und bemerkte, dass ihr Rock noch immer oberhalb des Erlaubten hing. Mit einem Griff zog sie den Stoff glatt und in eine Länge, die nicht als anstößig gelten konnte. Während Isabell zufrieden auf ihren Saum blickte, nahm sie ein Geräusch wahr.
Im Schatten des Baumes, wenige Meter vor ihr, hatte sich etwas bewegt und tatsächlich sah sie dort eine Bank stehen, auf der ein menschliches Wesen saß. Erst beim zweiten Hinsehen gelang es Isabell zu erkennen, dass es sich um einen Mann handelte. Sie zögerte einen Augenblick lang und fragte sich, was sie tun sollte. Wie lange schon hatte er dort gesessen und sie beobachtet?
Urplötzlich musste sie daran denken, dass er sich wahrscheinlich königlich darüber amüsiert hatte, wie sie halbnackt auf der Suche nach ihrer Sonnenbrille gewesen war. Vorsichtshalber fragte sie sich auch, was sie unter ihrem Rock trug. Erleichtert stellte sie umgehend fest, dass sie heute Morgen nicht nach einem String gegriffen, sondern sich für eine Variante mit mehr Stoff entschieden hatte.
Isabell blickte zum Baum. Der Mann bewegte sich nicht.
Er war doch nicht etwa tot?
Plötzlich fröstelte sie. Dann musste sie über sich selbst lachen. Er hatte sich bewegt. Allein dadurch war sie überhaupt auf ihn aufmerksam geworden. Sie fasste Mut und lief los. Bereits nach wenigen Schritten hatte Isabell den Baum erreicht.
Dank der Brille gelang es ihr, gegen das Sonnenlicht zu schauen und zu erkennen, dass sie es beileibe nicht mit einem Toten zu tun hatte: Der Mann war jung, vielleicht fünf Jahre älter als sie, somit Anfang dreißig und quicklebendig.
Sie stellte sich ihm gegenüber und sah ihm ins Gesicht. Er grinste ziemlich unverfroren, während sie an ihren Rock dachte und daran, wie nachlässig sie mit sich umgegangen war. Es war ein großer Fehler von ihr gewesen, zu glauben, dass sie allein gewesen war. Isabell entschloss sich, die Flucht nach vorn anzutreten und sagte mit deutlich fester Stimme: „Hallo, ich bin vom Weg abgekommen.“ Sogleich schalt sie sich. Schließlich war gar nicht klar, ob sie sich tatsächlich verfahren hatte. Und die Formulierung, vom Weg abgekommen zu sein, beinhaltete eindeutig eine Zweideutigkeit.
Isabell bemerkte, wie das Schweigen und Grinsen ihres Gegenübers sie irritierte. „Ich muss nach Recklitz“, fügte sie hinzu und sah, dass er nickte, wohl aber nicht die Absicht hatte, ihr zu antworten.
Isabell war kurz davor, auf dem Absatz kehrtzumachen und zu ihrem Auto zurückgehen zu wollen. Jemand, der nicht mit ihr reden wollte, war so hilfreich wie ein nichtvorhandenes Navi. Bevor sie jedoch ihre Überlegung in die Tat umsetzen konnte, hörte sie ihn sagen: „Du bist hier ganz richtig.“
Sie hatte den Klang seiner Worte vernommen. Norddeutsch, wie sie sogleich feststellte. „Ihr redet hier nicht so viel und so gern, oder?“, sagte sie mehr als sie fragte und erschrak. Was würde sie tun, wenn er jetzt gar nicht mehr sprechen würde? Schließlich wusste sie noch immer nicht, wie sie ihr Fahrziel erreichen konnte. Allein die Aussage, dass sie auf dem richtigen Weg war, löste ihr Problem nicht.
Sie sah ihn an und schwieg. Er hingegen schien mit ihrem Satz beschäftigt zu sein. Sein Gesichtsausdruck war ernst geworden. Plötzlich kehrte das Grinsen zurück und er sagte: „Du hast recht. Wir sind ein bisschen wortkarg. Das macht die Einsamkeit.“
Isabell war in diesem Moment sicher, dass er sie veräppelte und dass ihr das zu Recht geschah. Sie wollte eine Auskunft von ihm, nicht anders herum.
„Kannst du mir bitte sagen, wie es von hier aus weitergeht?“, fragte sie äußert brav artikuliert.
Ihr Gegenüber nickte und antwortete: „Mit der Fähre.“ Sogleich fügte er hinzu: „Aber die funktioniert im Moment nicht.“
Isabell versuchte, das Gehörte zu sortieren. Mitten im Dorf gab es offensichtlich ein Gewässer, das man nur mit Hilfe einer Fähre überqueren konnte. Allerdings schien die defekt zu sein. Insofern würde sie umkehren und nach einer anderen Straßenverbindung suchen müssen. Die Straßenkarte käme nun doch noch zum Einsatz. Während sie immer noch nachdachte, hörte sie ihn sagen: „Wenn du Zeit hast, kannst du warten. Der Elektriker behebt bereits den Fehler. Allerdings kann ich dir nicht genau sagen, wie lange es dauern wird, bis ich wieder arbeiten kann.“
Isabell stutzte.
War er der Fährmann?
So sah er nicht aus. In diesem Punkt schien sie sicher.
Oder jobbte er hier, um sein Studium zu finanzieren?
Noch während ihr diese Frage durch den Kopf ging, kam sie zu dem Schluss, dass er für ein Dasein als Student ein paar Jahre zu alt war. In diesem Moment stellte sie zudem fest, dass er sie musterte. Aber immerhin grinste er nicht mehr und Isabell tat, als hätte sie nichts bemerkt.
Sie schaute sich um und registrierte die absolute Stille, eine Situation, wie sie Isabell lange nicht mehr erlebt hatte. Schließlich kam sie aus einer Großstadt und war studentischen Trubel und lange Partynächte gewöhnt. Schmerzlich wurde ihr in diesem Augenblick bewusst, dass ihre Studienzeit zu Ende war und ihr ein neuer Abschnitt ihres Lebens bevorstand.
Allerdings erreichte sie gerade nicht den Ort, an dem dies stattfinden sollte.
Hilflos sah sie ihren Gegenüber an und fragte: „Wie komme ich von hier aus ohne Fähre weiter?"
Der Mann zeigte in die Richtung, aus der sie gekommen war und antwortete: „Du hast die Bundesstraße verfehlt. Die hättest du benutzen müssen, um der Wasserüberquerung zu entgehen. Die Strecke ist aber deutlich länger.“
Isabell schaute ihn an und sah noch immer diesen Gesichtsausdruck, der sie bereits vorhin hatte vermuten lassen, dass er sich über sie amüsierte.
„Ich will dann mal“, sagte sie und spielte mit dem Gedanken, sich umzudrehen, als er plötzlich meinte: „Schade. Ich hätte gern noch mit dir geplaudert.“
Isabell glaubte, sich verhört zu haben. Nicht ohne Arroganz erwiderte sie: „Danke für das Gespräch. Drei Sätze in einer halben Stunde. Wie lange, denkst du, soll ich noch bleiben?“
Sie hatte die Worte nicht im Gehen gesagt. Verwundert stellte sie fest, dass sie noch immer vor ihm stand und ihn ansah. Ihr Ansinnen von vor wenigen Sekunden, zum Auto zurückkehren zu wollen, hatte sie nicht in die Tat umgesetzt. Stattdessen hing ihr Blick an seinem Mund und dem, was sich an Gestik um diesen herum abspielte.
„Bist du Studentin?“, fragte er, ohne irgendwelche Anstalten zu machen, auf das eingehen zu wollen, was sie eben gesagt hatte.
„Nein, nicht mehr“, antwortete sie und fragte nun selbst: „Wie kommst du darauf?“
„Dein Auto“, antwortete er, „ist ein ziemlich altes Modell.“
Das war das Letzte, was sie jetzt brauchte. Was ging ihn ihr Auto an?
Natürlich war es alt. Aber es fuhr. Zu keinem Zeitpunkt hatte es sie im Stich gelassen. Zu jeder Zeit war es ihr ein treuer Begleiter gewesen. Während der gesamten Studienzeit, und die war nicht kurz gewesen, hatte das Auto sie an ihr jeweiliges Ziel gebracht.
Ihr Gesprächspartner begann, sie zu nerven. Verwundert stellte Isabell dennoch fest, dass sie hier wie angewurzelt stehenblieb.
Wer oder was hinderte sie daran, endlich von diesem unsäglichen Platz zu verschwinden?
„Ich meinte es ernst. Du kannst gern warten. Wahrscheinlich wird es nicht lange dauern, bis der Kahn wieder flott ist. Dann setzen wir dich und dein altes Auto über.“
Böse funkelte Isabell ihn an und: blieb trotzdem stehen. Sogleich war sie davon überzeugt, dass er das Funkeln wahrscheinlich gar nicht wahrgenommen hatte. Schließlich trug sie die dunkle Brille.
Sie dachte nach und fragte sich, was schwerer wog: Dass er sich über ihr altes Auto lustig machte oder dass sie die Chance bekam, einen Umweg zu sparen und endlich an ihr Ziel zu gelangen?
Isabell entschied sich und meinte beinahe beiläufig: „Gut, ich warte.“ Dann ging sie auf ihn zu, fasste ihn an seiner Schulter, um ihm zu bedeuten, dass er Platz machen möge, damit sie sich setzen könne.
Bereitwillig rutschte er ein Stück beiseite. „Bist du nur Fährmann oder hast du auch einen richtigen Job?“, fragte sie, als sie sich neben ihm niedergelassen hatte und war sich dessen bewusst, dass sie soeben die Gilde der Fährleute verunglimpft hatte. Ihr war als Retourkutsche einfach nichts Besseres eingefallen: Von wegen altes Auto…
„Was hast du gegen Fährleute?“, antwortete er insofern folgerichtig.
Isabell drehte sich zu ihm und fragte anstelle einer Antwort: „Was meinst du, wie lange wird der Elektriker noch zu tun haben?“ Sie sah ihn mit den Schultern zucken und Isabell schüttelte den Kopf. Entweder verfügte der Mann nur über einen eingeschränkten Wortschatz oder er hatte schlicht und einfach keine Lust zum Reden.
Was nun?
Sie war geblieben, um von seinem Angebot Gebrauch zu machen, eine Abkürzung zu nehmen. Das war alles und insofern schwieg nun auch sie.
Isabell blickte sich um und sah flaches Land. Weit und breit war kein noch so kleiner Hügel auszumachen. Das Dorf schien aufgeräumt. Nirgends war ein verfallenes Haus zu entdecken. Alle Fassaden waren frisch gestrichen und die Vorgärten gepflegt. Allein der Straßenrand mit den Disteln passte nicht ins Bild. Isabell sah die Kletterrosen, die in bunten Farben blühten, was typisch für den Monat Juni und die damit längsten Tage im Jahr war.
Über die Länge der Tage hatte sie mit einer gewissen Erleichterung nachgedacht. So oder so war ungewiss, wann sie heute tatsächlich ankommen würde und nach einer Suche in der Dunkelheit stand ihr nicht der Sinn.
Isabell war auf dem Weg zu einem Praktikum, das ihr helfen sollte herauszufinden, ob sie für das Hotelfach geeignet war. Am Zielort lebte man vom Tourismus. Insofern gab es dort Hotels in Hülle und Fülle. Sie hatte sich das größte Haus im Ort ausgesucht, sich beworben und sofort eine Zusage erhalten. Offensichtlich wurden während der Saison alle verfügbaren Hände dringend gebraucht.
Plötzlich schoss ihr eine Frage durch den Kopf, die sie sich bisher noch gar nicht gestellt hatte: Wie nur würde sie mit dieser verdammten Stille zurechtkommen?
Sogleich beruhigte sie sich und redete sich ein, dass touristische Orte niemals ganz still sein konnten.
Isabell schloss die Augen und dachte nach. Zu keinem Zeitpunkt hatte sie das Ende ihres Studiums herbeigesehnt. Wenn es nach ihr gegangen wäre, hätte es noch drei, vier Semester lang so weitergehen können mit studentischer Freiheit, Müßiggang …
Isabell musste unbewusst geseufzt haben, denn ihr Banknachbar sah sie plötzlich auffordernd an. Tatsächlich hatte er sich zuvor bewegt, sich nach vorn gebeugt, um ihr ins Gesicht schauen zu können. Es schien, als erwarte er eine Erklärung für den Laut, den sie soeben von sich gegeben hatte.
„Was?“, fragte sie aufmüpfig und fügte wesentlich versöhnlicher hinzu: „Ich trauere meiner Studienzeit nach.“
Wie vermutet, folgte kein Kommentar. Er blickte sie lediglich an, was Isabell dazu veranlasste zu fragen: „Hattest du eine Studienzeit?“
Im Prinzip war sie sicher, dass er mit einem „Nein“ antworten würde und war umso überraschter, als sie ihn nicken sah und er „ja“ sagte.
Über dieses eine Wort war er jedoch nicht hinausgekommen und da Isabell inzwischen sicher war, dass es sich bei ihm um einen hoffnungslosen Fall handelte, begann sie, ihn näher zu betrachten. Schließlich musste sie ja irgendetwas tun, wenn sie schon nicht miteinander redeten.
Bisher hatte sie ihn lediglich oberflächlich gescannt. Nun war sie fest entschlossen, ins Detail gehen zu wollen, um wenigstens auf diese Weise zu ergründen, mit wem sie es hier zu tun hatte.
Isabell senkte ihren Blick und sah auf Füße, die barfuß in leichten Sommerschuhen steckten. Es waren keine Sandalen, die er trug, sondern Schuhe aus Tuch, durchaus modisch. Dazu trug er eine Hose aus dünnem Stoff. Keine Jeans, wie Isabell feststellte, die ihren Blick weiter aufwärts wandern ließ.
Der Hosenbund wurde von einem Gürtel gehalten, der aussah, wie aus echtem Leder gefertigt und Isabell meinte, dass das, was sie bisher gesehen hatte, nicht zu diesem dörflichen Ambiente und ihrer Vorstellung von einem Fährmann passte.
Wie groß war er?
Isabell versuchte, ihn, trotz seiner sitzenden Position, zu vermessen.
Einsachtzig konnten es gut sein. Auf alle Fälle war er kein kleiner Mann.
Isabell checkte, was nach dem Gürtel kam und stellte fest, dass er ein Hemd trug, auf dem links oberhalb der Tasche das Logo von Tommy Hilfiger prangte.
Sein Oberkörper war muskulös. Wahrscheinlich trieb er Sport, denn am Fährmannsberuf konnte es nicht liegen. Er hatte von einem Elektriker gesprochen. Somit ging sie davon aus, dass die Fähre durch einen Elektromotor angetrieben wurde.
Die Haut seiner Arme war gebräunt. Das wiederum verwunderte sie nicht. Fähren fuhren unter freiem Himmel und damit auch in der prallen Sonne. Ganz so, wie bei dem heutigem Wetter, wenn sie denn fuhr.
„Sag, weshalb beanstandest du mein Auto?“, fragte sie, um noch einmal den Versuch zu unternehmen, ein Gespräch in Gang zu setzen. „Bist du auch Schrotthändler?“, schob sie ein wenig spöttisch nach.
Der Mann neben ihr tat ihr nicht den Gefallen und beließ es bei einem kurzen Lachen.
Isabell war mit ihrem Ganzkörperscan noch nicht am Ende angelangt.
Hals und Gesicht waren besonders braungebrannt, wie erwartet, trug man doch hier keine schützende Kleidung.
Er hatte ziemlich helle Haare, befand sie und wusste zugleich nicht, ob auch das der Sonne geschuldet oder ob er tatsächlich ein blonder Typ war.
Um dieser Frage nachzugehen, blickte sie in seine Augen und sah, dass sie blau waren, was die These von natürlichem Blond stützte, aber irgendwie nicht zu seiner Bräune passen wollte.
Isabell hätte beinahe vergessen, dass sie seine Hände noch nicht begutachtet hatte. Schnell warf sie auch auf diese einen Blick und wusste sofort, dass sie mit der Vermutung, er könne auch Schrotthändler sein, falsch gelegen hatte.
Sie feixte. So etwas hatte sie noch nicht erlebt: Das, was sie tat, fühlte sich an wie ein Spiel. Wie Berufe raten. Allerdings spielte sie es ohne ihn. Er wollte scheinbar nicht erfahren, was sie studiert hatte und weshalb sie nach Recklitz fahren wollte, trotzdem sie ihm mehrere Chancen gegeben hatte, das zu erfragen.
In diesem Augenblick hörte sie den Ton seines Mobiltelefons und sah, dass er bereits dabei war, das Gerät aus seiner Hosentasche zu fischen. Wahrscheinlich hatte er das Vibrieren lange vor dem akustischen Signal mitbekommen. Sie hörte, wie er sich meldete und glaubte nun zu wissen, wie er hieß. Er hatte „Lukas“ gesagt und aller Wahrscheinlichkeit nach, damit sich gemeint.
Obwohl, wenn sie es sich genau überlegte: Sicher konnte sie nicht sein. Auch der Anrufer konnte so heißen.
Isabell lauschte seinen Worten und stellte verwundert fest, dass er plötzlich ohne Unterlass redete. Gebannt hörte sie ihm zu und begriff, dass der Gesprächspartner besagter Elektriker sein musste und dass irgendein Problem noch immer bestand. Nur welches es war, hatte sie nicht herausfinden können. Dann hatte er aufgelegt.
Sie sah ihm in die Augen und fragte: „Heißt du Lukas?“
„Wie kommst du darauf?“, antwortete er.
Isabell stutzte und meinte: „Du hast dich mit diesem Namen gemeldet.“
Er lachte und erwiderte: „Nein.“
Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: „Der Handwerker heißt Lukas. Mein Name ist Tom. Und deiner?“
„Isabell“, antwortete sie und begriff, dass auch sie sich tatsächlich noch nicht vorgestellt hatte.
Tom war ein Name, der überall vorkam. Isabell hatte, während er telefonierte, gedacht, dass das, was sie herauszuhören glaubte, ein besonderer Akzent war.
„Tom, wo bist du zu Hause?“, fragte sie und war gespannt, ob sie eine Antwort bekommen würde.
„Hier“, antwortete er ohne Zögern und Isabell wusste, dass sie die Frage falsch formuliert hatte.
„Nein, ich meine: Wo bist du geboren?“
Tom schaute sie an, kniff die Augen zusammen und lächelte. Dann antwortete er: „Viele Kilometer von hier entfernt.“
Isabell reichte es. Dieser Mann brachte sie auf die Palme. Weshalb nur saß sie noch immer auf dieser Bank? So groß konnte der Umweg über die Bundesstraße doch gar nicht sein!
In diesem Augenblick hörte sie ihn sagen: „Nimm deinen Wagen und folge mir. Ich fahre auf dem Rad voraus. Wir können dich übersetzen.“
Sie war überrascht und erleichtert zugleich, hatte sie doch mit einem schnellen Entfliehen von diesem Ort nicht mehr gerechnet. Umso zügiger erhob sie sich und machte sich auf den Weg zu ihrem Auto.
Isabell hatte die Wagentüren vorhin geschlossen und genau das stellte sich nun als Fehler heraus. Als sie die Fahrertür geöffnet hatte und sich mit Schwung auf den Sitz fallen ließ, stockte ihr der Atem: Im Innenraum ihres Autos herrschten mindestens 50 Grad Celsius! Einen kurzen Augenblick lang dachte sie daran, wieder auszusteigen, um der Hitze zu entfliehen. Allerdings verwarf sie dieses Ansinnen so schnell, wie es gekommen war. Schließlich wollte sie nur noch weg aus diesem gottverlassenen Kaff und von einem Menschen, der nicht sprechen wollte.
Isabell startete den Motor und setzte den Blinker, was unnötig war, wie sie wusste und was der Blick in den Rückspiegel bestätigte. Außer ihr befand sich keine Menschenseele auf dieser Straße.
Sie schaute nach vorn und suchte nach dem Fahrrad, dem sie folgen sollte. Erst beim zweiten Hinsehen erblickte sie Tom. Noch war für sie nicht klar auszumachen, welchen Weg er jetzt nehmen würde und so wartete sie, bis sie sicher war, wohin sie fahren sollte. In kurzem Abstand passierten sie anschließend den Rest der Dorfstraße, bis sie in einen unscheinbaren Weg nach links abbogen.
Dieser Weg war weder asphaltiert noch anderweitig befestigt. Isabell spürte das Ruckeln und Hopsen ihres kleinen Autos und hoffte inständig, sie würde sich nicht noch den Wagen demolieren.
Die Tortur dauerte jedoch nicht lange, wie Isabell erleichtert feststellte. Schon kurze Zeit später konnte sie das Wasser sehen und dass Tom vom Rad stieg. Isabell schaute sich um, nachdem sie das Auto gestoppt hatte und registrierte, dass sich links neben ihr so etwas wie eine Kaimauer befand. Auch bei genauerem Hinsehen konnte sie jedoch keine Absenkung erkennen und fragte sich sogleich, wie sie unter diesen Umständen ihr Auto auf eine Fähre würde befördern können. Als sie wieder nach vorn blickte, bemerkte sie Toms wilde Armbewegungen, die offensichtlich bedeuten sollten, dass sie aussteigen möge.
Isabell stellte den Motor ab und tat, was von ihr erwartet wurde. Tom war inzwischen zu ihr gekommen und sagte: „Schließ die Tür und komm mit mir. Um dein Auto kümmert sich Lukas.“
Sie glaubte, sich verhört zu haben. Isabell hatte nicht vor, ihr Auto einem Menschen mit dem Namen Lukas zu überlassen. Sie wollte es überhaupt niemand Fremdem überlassen. Auch wenn ihr Auto in die Jahre gekommen war: Sie hing daran.
„Trau dich“, meinte Tom und Isabell sah, dass er verschmitzt lächelte. „Lukas kennt sich aus. Keine Sorge, auch wenn es martialisch aussieht, er macht das nicht zum ersten Mal.“
Isabell spürte, wie ihr Schweißperlen auf die Stirn traten. Auf gar keinen Fall sollte ihrem Auto etwas geschehen! Grundsätzlich nicht und im Speziellen auch nicht.
Plötzlich überkam sie die Horrorvorstellung, aus diesem Dorf nicht mehr fortzukommen, weil ihr Auto zu Schrott geworden war.
Tom schien prächtig amüsiert zu sein. Er grinste über das ganze Gesicht und wiederholte: „Trau dich einfach.“
Isabell schluckte. Was genau blieb ihr in dieser Situation übrig?
Sie hatte sich selbst in diese Lage katapultiert. Nun würde ihr lediglich die Flucht nach vorn bleiben.
Mit beinahe gönnerhafter Miene reichte sie Tom ihre Autoschlüssel. Dann ließ sie ihren Blick schweifen und sah den Kran an Land und ein Ungetüm aus Blech auf dem Wasser unter sich. Isabell begann zu ahnen, was das bedeuten könnte.
Der Wortkarge schien Mitleid mit ihr zu empfinden. Immerhin entwich ihm der Satz: „Du musst dich wirklich nicht sorgen.“
Als Isabell sich umdrehte, war ein Mann in Arbeitsmontur dabei, ihrem Auto Gurte anzulegen. Er hatte wohl tatsächlich vor, das Auto an den Kranhaken zu hängen und auf das Boot zu befördern. Für einen Augenblick lang schloss sie die Augen. Im selben Moment spürte sie einen Arm um sich. Es war der Arm von Tom, der sie aus der Gefahrenzone bringen wollte und sogleich lehrerhaft sagte: „Unter schwebenden Lasten hält man sich nicht auf."