Читать книгу 366 Tage - Ramona Mitsching - Страница 6

2. Kapitel

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Isabell konnte es nicht glauben, aber sie und ihr Auto waren tatsächlich heil am anderen Ufer angekommen. Zudem hatten sie keinen zweiten Kran benötigt, weil es auf der gegenüberliegenden Seite einen befestigten Weg gegeben hatte, über den sie problemlos ihr Auto vom Kahn aufs Land hatte befördern können.

Tom hatte den Kahn gesteuert. Dabei schien er routiniert zu sein, wie sie festgestellt und gleichzeitig ihre Angst verloren hatte.

Das, über das sie gefahren waren, war kein Fluss, sondern ein See. Tom hatte beiläufig erwähnt, dass sie hier an einer Seenkette lebten. Daher, und wegen fehlender Brücken, war der Weg über die Bundesstraße länger.

Tom und Lukas waren eher zufällig auf die Idee gekommen, Kran und Kahn als Lastentransporter zu benutzen, um denen, die im Dorf wohnten und die eine Abkürzung nehmen wollten, einen Gefallen zu tun. Insofern war ihr klargeworden, dass Tom kein Fährmann war, sondern lediglich ab und zu hier anzutreffen war.

Isabell hatte sich auf dem Kahn von ihm verabschiedet, nicht ohne sich ehrlich zu bedanken. Tom hatte ihr noch gesagt, wie sie weiterfahren sollte. Dann hatten sich ihre Wege getrennt. Inzwischen war Isabell an dem Vorwegweiser vorbeigefahren, der ihr verraten hatte, dass ihr Ziel in zwanzig Kilometern Entfernung lag.

Die Straße war nach wie vor wenig befahren und Isabell konnte sich entspannt der Landschaft und ihren Gedanken hingeben. Hatte sie vorhin nur den einen Wunsch gehabt, von Tom und dem Dorf fortzukommen, bemerkte sie nun, selbst überrascht, dass ihre Gedanken laufend zu ihm zurück wanderten.

Er hatte sie nicht nach ihrer Telefonnummer gefragt. Außer einem „Viel Glück!“, und der Wegbeschreibung hatte er nichts weiter zu ihr gesagt. Bereits vorhin hatte Isabell die Enttäuschung gespürt, die sich nun von Minute zu Minute verstärkte. Sie schüttelte den Kopf und fragte sich, was das alles zu bedeuten hatte. Hatte dieser Tom doch nicht einmal mit ihr reden wollen.

Wie hatte sie auf ihn gewirkt?

Bisher hatte Isabell den Luxus genossen, auszuwählen, mit welchem Mann sie ausging oder nicht. Bei einer Körpergröße von einem Meter und siebzig wog sie 60 Kilogramm. Ihren Körper hielt sie mit viel Bewegung fit. Zigaretten waren für sie ein Tabu. Allerdings war sie für einen guten Cocktail jederzeit zu haben und bereit, seinen Zucker- und Alkoholgehalt zu ignorieren. Schon immer hatte sie Wert auf ein gepflegtes Äußeres gelegt und auch wenn der Friseurbesuch jedes Mal ein Loch in ihr Budget gerissen hatte, so hatte sie sich ihn gegönnt, um ihre kesse Kurzhaarfrisur in Form zu halten.

Wahrscheinlich war dieser Tom verheiratet und hatte Kinder.

Sie spürte den Trotz in ihren Gedanken und beschloss, ihn schleunigst aus ihrem Gedächtnis zu streichen. Schließlich wartete ein Neuanfang auf sie und das in jeder Hinsicht: Beruflich wollte sie erste Schritte gehen und privat hatte sie Lars hinter sich gelassen, mit dem sie zwei Jahre lang liiert gewesen war.

Ihn hatte sie während einer studentischen Exkursion kennengelernt. Damals hatte sie im Rahmen eines BWL-Seminars ein Dax-Unternehmen aus der Chemiebranche besucht.

Lars studierte jedoch nicht, wie sie, BWL, sondern Chemie. Er hatte an der Exkursion teilgenommen, weil das Unternehmen zu seinen persönlichen Favoriten bezüglich einer Anstellung gezählt hatte.

Isabell hatte anfangs nicht gewusst, dass auch Chemiestudenten mitkommen würden, war dann aber hocherfreut gewesen. Irgendwie hatte sie die Jungs erfrischend anders empfunden.

Er war ihr sofort aufgefallen. Lars war fröhlich und wissbegierig aufgetreten. Ziemlich schnell waren er und sie damals ins Gespräch gekommen. Ganz anders als Tom und sie vorhin.

Isabell erschrak. Schon wieder hatte sie an Tom gedacht. Schlimmer noch: Sie begann zu vergleichen.

Nach der Exkursion war sie zu dem Schluss gekommen, dass ein Job in der Industrie für sie nicht in Frage kommen würde und so war sie schließlich auf das Thema Tourismus und Marketing gestoßen, das sie wenig später zum Gegenstand ihrer Masterarbeit gemacht hatte. Allerdings hatte sie sich eingestehen müssen, keine Ahnung von der Praxis zu besitzen. Genau das war der Punkt gewesen, weswegen Lars bereits seit längerer Zeit gestänkert hatte. Er hatte ihr vorgeworfen, dass sie, statt im Marketing zu arbeiten, kellnern gegangen war.

Isabell seufzte und erinnerte sich, dass sie das vorhin schon einmal getan hatte.

Ja, sie trauerte ihrer Studienzeit nach. Wahrscheinlich war es sogar so, dass sie sich vor dem, was jetzt kommen sollte, auch ein wenig fürchtete.

Tom hatte gesagt, dass auch er studiert hatte. Was das gewesen war, hatte er nicht verraten und Isabell erwischte sich dabei, zu mutmaßen.

Spontan fiel ihr das Fach Maschinenbau ein und Isabell fragte sich, weshalb. Vielleicht wegen des Krans und des Kahns?

Oder hatte er Schiffbau studiert?

Auf alle Fälle glaubte sie, dass es etwas Technisches sein musste.

Wie sie zu diesem Schluss gekommen war, wusste sie nicht. Dafür begriff sie in diesem Augenblick, dass sie in eine Radarkontrolle gefahren war und dass sie bald ein Foto von sich nach Hause geschickt bekommen würde.

Sie hatte das Ortseingangsschild übersehen und war ganz bestimmt weit entfernt gewesen von den erlaubten 50 Stundenkilometern. Sofort versuchte sie sich zu erinnern, ob sie mit 80 oder 100 Sachen in den Blitzer gerast war und wurde sich der Unerheblichkeit dieser Überlegung bewusst: Auf ihren Schein würde sie so oder so einige Zeit verzichten müssen.

„Mist“, fluchte Isabell. Das fing ja gut an! Zuerst die Pleite mit Tom und nun der Lappen weg.

Sie hatte versucht, sich zu sammeln und auf die grünen Hinweisschilder am Straßenrand zu achten. Nur mit deren Hilfe würde sie ihr Hotel finden können.

Kurze Zeit später hatte sie das Schild mit dem Namen des Hauses entdeckt und den Pfeil, in welche Richtung sie abbiegen musste. Sie schaltete in den zweiten Gang zurück und rollte gemächlich die Straße entlang. Abwechselnd richtete sie ihre Augen auf die Straße und auf die Häuser am Straßenrand.

Die Ansicht des Gebäudes hatte sie im Internet studiert, was ihr jetzt dabei half, das Haus sofort zu erkennen.

Isabell setzte den Blinker und suchte nach der Einfahrt.

„Parken für Gäste“ stand hier geschrieben. Einen Hinweis auf Parkplätze für das Personal konnte sie nicht entdecken.

Sie fuhr im Schritttempo weiter, bis sie das Ende des Grundstücks erreicht hatte. Aber auch im hinteren Bereich gab es keine speziellen Parkmöglichkeiten für Mitarbeiter und so entschied sie sich, das Auto auf einem der Gästeparkplätze abzustellen.

Isabell stellte den Motor ab und stieg aus. Diesmal achtete sie penibel auf den Sitz ihres Rockes. Hier war sie definitiv nicht allein. Schon die Anzahl der Fahrzeuge neben und hinter

ihr verriet etwas über die Zahl der Gäste in dem Haus, in dem sie die kommenden drei Monate arbeiten würde.

Isabell schaute sich um. Ihr Golf 3 war mit Abstand das mickrigste und älteste Auto auf dem gesamten Platz. Eine Wäsche könnte es auch wieder einmal vertragen, stellte sie fest und bewunderte den Porsche, der direkt neben ihr parkte. Wahrscheinlich sollte sie schleunigst den Stellplatz wechseln, um den Gast nicht zu verärgern, wenn er ihre alte Mühle sah und sich womöglich noch daran dreckig machte. Die Parkabstände waren schließlich nicht groß.

Dennoch entschloss sie sich, erst einmal alles so zu belassen, wie es war. Sie straffte den Rücken und prüfte nochmals den Sitz ihrer Kleidung. Ihre Handtasche beförderte sie über die Schulter. So hatte sie beide Hände für ihr restliches Gepäck frei. Immerhin sah sie in diesem Augenblick aus wie ein Gast und niemand wäre in der Lage zu erkennen, dass sie sich einen Aufenthalt in einem solchen Haus auf gar keinen Fall würde leisten können.

Isabell lächelte zufrieden, als sie zum Eingang lief.

Sie betrat das Gebäude und hielt Ausschau.

Der Empfangsbereich war ziemlich groß. Isabells Augen wanderten durch den Raum, als plötzlich ein junger Mann in Livree auf sie zustürmte, vor ihr stehenblieb und sich entschuldigte. Sie stutzte und wusste nicht, weshalb und wofür er das getan hatte. Aus diesem Grund schaute sie ihn an und sagte: „Nein, keine Sorge, ich bin kein Gast. Ich möchte Herrn Kröger sprechen. Ich bin ab morgen eine Kollegin.“

Isabell sah die Erleichterung bei ihrem Gegenüber und mutmaßte, dass er seinen Platz vor der Tür im Außenbereich ohne Genehmigung verlassen haben musste. Bei genauerem Hinsehen hatte sie festgestellt, dass der Mann nicht nur jung, sondern eher noch ein Junge war. Vielleicht war er ein Auszubildender, der heimlich eine Zigarette außerhalb seiner Pause geraucht hatte. Der Geruch von Nikotin war jedenfalls deutlich wahrnehmbar.

Trotz ihrer Erklärung nahm er ihr Koffer und Tasche ab, wofür Isabell dankbar war. Hatte sie doch bereits nach wenigen Schritten das Gefühl gehabt, unter der Last zusammenzubrechen.

An der Rezeption angekommen, stellte sie zuerst sich und dann ihr Anliegen vor, was die Empfangsdame dazu veranlasste, zum Telefon zu greifen.

Isabell hatte nur Bruchstücke verstanden. Offensichtlich aber befand sich ihr Gesprächspartner nicht im Haus. Die Frau legte auf und sah sie an. Dann sagte sie: „Herr Kröger ist heute wider Erwarten nicht im Dienst. Frau von Stetten wird sich um sie kümmern.“

Sie nickte. Ihr war es einerlei, wer sie in Empfang nehmen würde.

„Nehmen Sie bitte einen Augenblick Platz. Sie werden abgeholt.“

Isabell drehte sich um und tat, was man ihr gesagt hatte. Schließlich saß sie nicht alle Tage in der Lobby eines solchen Hauses und aller Wahrscheinlichkeit nach würde sie in den kommenden drei Monaten auch nicht wieder hier sitzen dürfen.

Nach ihrem heutigen erlebnisreichen Tag mit Tom und dem Führerscheinverlust hatte sie sich eine Verschnaufpause verdient und so machte sie es sich in einem der Sessel bequem. Ihr stand der Sinn nach einem guten Kaffee. Noch während sie nach einem Hinweis auf eine Bar suchte, sah sie, für ihr Empfinden viel zu früh, eine Frau die Lobby betreten und sich umschauen. Wahrscheinlich galt diese Suche ihr. Vorsichtshalber vergaß Isabell den Wunsch nach einem Getränk und stand auf. Es war ihr wichtig, einen guten ersten Eindruck zu hinterlassen.

In diesem Moment hatte die Dame sie erspäht und kam auf sie zu.

„Herzlich Willkommen“, sagte die Frau. „Kommen Sie mit mir. Wir gehen in mein Büro.“

Der Klang ihrer Stimme war freundlich und dennoch bestimmt.

Isabell registrierte, dass sie zwischen freudiger Erregung im Hinblick auf das, was nun kommen sollte, und einer Portion Respekt, den diese Frau ihr allein durch ihre Erscheinung und die zwei gesprochenen Sätze eingeflößt hatte, schwankte.

Sie schielte nach dem Namensschild, das an deren Reverse befestigt war und noch bevor sie es lesen konnte, sagte die Frau: „Mein Name ist Sabine von Stetten. Ich bin die Leiterin dieses Hauses. Mein Vertreter, der Sie empfangen sollte, ist leider momentan verhindert. Wir haben ein wichtiges Projekt in der Endphase seiner Realisierung.“

Isabell stutze und dachte angestrengt nach.

Vor etwa einem halben Jahr hatte sie sich hier beworben. Zu diesem Zeitpunkt wurde das Haus von einem Mann geleitet, dessen Name Isabell nicht mehr parat hatte. Wenn Sabine von Stetten die Direktorin war, dann erst seit kurzer Zeit.

Bisher hatte Isabell geglaubt, Kröger sei so etwas wie der Personalchef. Nun wusste sie, dass er auch der Stellvertreter der Chefin war. Allerdings würde das für sie ohne Bedeutung sein. Im Zweifel würde sie weder mit Frau von Stetten noch mit ihm intensiver zu tun haben. Ihr Aufenthaltsgrund war lediglich ein Praktikum.

Sabine von Stetten lief indes forschen Schrittes und Isabell hatte Mühe, ihr zu folgen.

Sie waren durch zahllose Gänge gelaufen, bis sie schließlich vor einer Tür angekommen waren, deren Klinke Frau von Stetten soeben heruntergedrückt hatte. Sie stieß die Tür auf, hielt sie fest und ließ Isabell den Vortritt. „Gehen Sie hinein“, sagte sie.

Isabell sah sich um.

Der Raum war geräumig, die Einrichtung schien modern und eher minimalistisch zu sein.

Entlang der längsten Zimmerwand war ein Schrank eingebaut. Seine Türen waren in einem leicht hellgrau schimmernden Farbton gehalten. Seitlich der Fensterfront stand ein großer Schreibtisch aus Glas oder einem Glasimitat. Isabell hätte ihn berühren müssen, um herauszufinden zu können, aus welchem Material er tatsächlich gefertigt war.

Das Prunkstück des Zimmers war der Tisch. Der dahinter stehende Stuhl sah eher zierlich und unauffällig aus. Komplettiert wurde die Einrichtung durch eine schwarze Ledergarnitur, die aus zwei Sofas bestand, welche über Eck angeordnet waren. In den so entstandenen Winkel war ein relativ großer und flacher Tisch gestellt worden. Er schien eher für Getränke als für Akten gedacht.

Frau von Stetten wies mit ihrer Hand auf die Sitzgruppe und sagte: „Lassen Sie uns Platz nehmen.“

Isabell ging zu dem Sofa, das gegenüber vom Schreibtisch stand und wartete. Sie war nicht sicher, ob sie den richtigen Platz ausgewählt hatte.

„Setzen Sie sich doch“, sagte Frau von Stetten und nickte.

Isabell war froh, die zweite Hürde erfolgreich genommen zu haben. Die Direktorin strahlte etwas aus, das sie noch nicht genau benennen konnte. Auf alle Fälle fühlte es sich so an, als würde Isabell am liebsten immer nur dann atmen wollen, nachdem Frau von Stetten bereits geatmet hatte.

Ohne Umschweife begann die Direktorin zu reden. Darüber, wer Isabell in den kommenden Wochen zur Seite stehen würde, um das Haus und seine Abläufe kennenzulernen und darüber, wie ihr weiterer Einsatz geplant war.

Isabell hörte zu und fragte sich mit jedem weiteren Satz, den sie hörte, wann für sie Zeit zum Schlafen eingeplant worden war. Währenddessen bemerkte sie, wie ihre Konzentration nachzulassen begann. Sogleich wurde ihr bewusst, dass sie zuletzt heute Morgen etwas gegessen und Kaffee getrunken hatte. Lediglich zur Wasserflasche hatte sie während der Fahrt und ihres unfreiwilligen Aufenthaltes bei Tom gegriffen. Isabell spürte plötzlich den Hunger, den sie aller Wahrscheinlichkeit nach in absehbarer Zeit nicht würde stillen können, denn Frau von Stetten schien noch längst nicht am Ende ihrer Ausführungen angekommen zu sein.

Sie musste sich inzwischen zwingen, nicht aufzustöhnen. Immer mehr Fakten und Aufgaben drangen an ihre Ohren, bis sie kurz davor war, den Faden komplett zu verlieren.

Vermutlich hatte Isabell mit weit aufgerissenen Augen auf diesem edlen Sofa gesessen, wie sonst wäre Frau von Stetten auf die Idee gekommen, ihren Redeschwall abrupt zu unterbrechen. Plötzlich fragte sie: „Haben Sie Hunger?“

Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Isabell geglaubt, sich tapfer geschlagen zu haben. Nun hatte sie wohl mit einer einzigen Geste den guten Eindruck zerstört, den es ihr bis dahin gelungen war zu vermitteln. Intuitiv schüttelte sie den Kopf und antwortete: „Nein, nein. Ich höre Ihnen zu.“

Frau von Stetten lachte und sagte: „Geben Sie sich keine Mühe. Ich bin sicher, dass sie hungrig und durstig sind. Sie erwecken gerade den Eindruck, als sei ihr Blutzuckerspiegel in den Keller gerutscht. Bevor Sie Ihr Zimmer beziehen, werden Sie bei den Kollegen in der Küche vorbeigehen und sich ein Gericht ihrer Wahl zubereiten lassen.“

Isabells Kraft reichte in diesem Augenblick lediglich für ein kurzes zustimmendes Nicken.

Das Wort „Küche“ beherrschte ihre Gedanken, während sie gehorsam einer jungen Frau folgte, die die Hoteldirektorin herbeigerufen und an die sie Isabell weitergereicht hatte.

Sie lief, schwieg und spürte die bleierne Müdigkeit, die sich in ihr breitzumachen begann.

Heute Morgen war sie gegen fünf Uhr aufgestanden und hatte anschließend viele hundert Kilometer Autofahrt hinter sich gebracht. Als sie bei Tom gestrandet war, hatte sie etwa sechs Stunden Fahrt in den Knochen gehabt. Inzwischen war es drei Uhr nachmittags und dieser Tag war noch nicht zu Ende. Wenn sie endlich etwas gegessen haben würde, musste sie ihr Zimmer beziehen, ihre Sachen auspacken und duschen.

Frau von Stetten hatte ihr gesagt, dass sie morgen um sieben Uhr zum Dienstbeginn erwartet würde.

Sieben Uhr.

Das war eine Zeit, die für eine Studentin mitten in der Nacht lag. Sieben Uhr war sie manchmal erst von einer Party nach Hause gekommen. Dann hatte sie geschlafen und gefrühstückt, zu einer Stunde, zu der mancher Mensch bereits zu Abend aß.

Aus der Hotelküche schlug ihnen brütende Wärme entgegen. Ihrer Begleiterin schien es jedoch nichts auszumachen. Anscheinend war sie daran gewöhnt. Isabell hingegen rang nach Luft.

Wie konnte man bei solchen Temperaturen arbeiten?

Sie prustete laut und fächelte sich mit ihrer rechten Hand Frischluft zu.

„Aus dem Weg“, hörte Isabell plötzlich jemanden hinter sich rufen und sprang intuitiv beiseite. Ihr stand nicht der Sinn danach, eine Ladung heißes Essen übergekippt zu bekommen.

Die Frau neben ihr lachte und sagte: „Keine Angst, Marius tut nichts. Er will nur spielen.“

Völlig erschöpft, aber immerhin nicht mehr hungrig, ließ sich Isabell auf ihr Bett fallen.

Sie würde hier liegenbleiben und nichts mehr tun, schwor sie sich, bevor ihr die Augen zufielen.

Mindestens vier Stunden lang musste sie geschlafen haben, denn es dämmerte bereits, als sie erwachte. Ein Blick auf ihre Uhr verriet ihr, dass es 22 Uhr war.

Isabell war weder geduscht noch hatte sie etwas anderes erledigt. Insofern kam es einem Ding der Unmöglichkeit gleich, einfach liegen zu bleiben. Morgen würde sie gar keine Zeit haben, dachte sie und brachte sich in die Senkrechte.

Statt jedoch damit zu beginnen, ihr Gepäck auszupacken, suchte Isabell nach ihrem Mobiltelefon. Immerhin konnte es gut sein, dass sie eine Nachricht verpasst hatte.

Enttäuscht starrte sie auf das Display, nachdem sie registriert hatte, keinen Anruf versäumt zu haben.

Früher war kein Tag vergangen, an dem sie nicht wenigstens ein Mal mit Lars telefoniert hatte. Nun schwieg er. Kein Wunder, hatte sie ihm doch gesagt, dass sie ihn weder sehen noch hören wollte. Und Lars hielt sich daran. Auch Tom hatte sich nicht gemeldet, um nachzufragen, ob sie gut angekommen war. Wie auch hatte sie damit rechnen können, hatte er sie ja nicht einmal nach ihrer Nummer gefragt.

Wer keine Nachrichten empfing, musste auch keine beantworten. Folglich würde sie sich nun doch ihrem Gepäck und der Dusche widmen können. Vielleicht würde sie anschließend noch ein paar Schritte vor die Tür gehen können, bevor sie wieder schlafen ging, um morgen ausgeruht ihren ersten Arbeitstag zu absolvieren.

Die Luft war angenehm kühl. Isabell genoss die leichte Brise, die sie umfing. Der Tag war einfach nur heiß und anstrengend gewesen.

Sie hatte das Grundstück, auf dem sich das Wohnheim der Angestellten befand, verlassen.

Vor ihr lag der Gästeparkplatz. Als sie die Autos erblickte, durchzuckte sie ein Gedanke: Sie hatte tatsächlich vergessen zu fragen, wo sie ihr Fahrzeug parken durfte.

Schon von Weitem sah sie ihren Golf und den Porsche, der noch immer neben ihrem Gefährt stand. Nervös kratzte sie sich mit ihrer rechten Hand am Hinterkopf. Einen Augenblick lang überlegte sie, ob sie zur Rezeption gehen und den Nachtportier fragen sollte, wohin sie das Auto zu fahren hatte. Allerdings würde sie dann zurückgehen und ihren Autoschlüssel holen müssen. Dabei wollte sie doch nichts sehnlicher, als spazieren zu gehen. So vertagte Isabell kurz entschlossen das Umparken auf den nächsten Tag.

Das Hotel schien unweit einer Fußgängerzone zu liegen. Isabell bemerkte mit einem Blick durch die kleine Gasse vor ihr, dass in geringer Entfernung Leute flanierten. Autos hingegen konnte sie weder erkennen noch hören.

Sie lief geradeaus und hatte nach wenigen Metern tatsächlich die Promenade erreicht.

Dass es sich hier nicht um eine der typischen innerstädtischen Fußgängerzonen handelte, erkannte sie daran, dass vor ihr, entlang des gepflasterten Weges, ein Ufer verlief. Dank der Straßenbeleuchtung glitzerte das Wasser des Sees in der Dunkelheit der Nacht.

Isabell atmete tief. In diesem Moment machte sich ein Urlaubsgefühl in ihr breit und sie bemerkte, dass sie die Großstadt so gar nicht vermisste.

Dabei liebte sie die.

Ihre ehemalige Universität befand sich in einer der größten deutschen Städte Süddeutschlands. In einer Stadt, von der man den Eindruck hatte, sie würde niemals schlafen. Nun war sie in einer Kreisstadt im Norden angekommen und fühlte sich tatsächlich nicht unwohl. Isabell lächelte vor sich hin und dachte an Tom und seine Wortkargheit. Und an seinen Akzent.

Vorhin, im Hotel, hatten weder Frau von Stetten, noch die Rezeptionsmitarbeiterin Dialekt gesprochen. Isabell würde sich bemühen müssen, ihren eigenen zu verdrängen. Sie war mit Mundart aufgewachsen und innerhalb der Familie und im Alltag wurde sie gesprochen. Daheim fiel man damit nicht auf. Auffallen taten nur die Fremden.

Und hier war sie die Fremde.

Tom hatte gesagt, er sei viele hundert Kilometer von hier entfernt zur Welt gekommen. Schon vorhin hatte sie sich gefragt, welcher Ort das wohl sein konnte. Er hatte weder einen baden-württembergischen noch einen bayrischen Einschlag in der Sprache gehabt. Er klang auch nicht, als käme er aus Nordrhein-Westfalen.

Isabell dachte angestrengt nach. Im Prinzip hatte er tatsächlich norddeutsch geklungen, was jedoch nicht zu seiner Entfernungsangabe passte. Blieb eigentlich nur Ausland.

War er vielleicht Skandinavier?

Isabell war so dermaßen in Gedanken versunken, dass sie das Pärchen mit dem Hund nicht gesehen hatte. Plötzlich hörte sie ein Quietschen unter ihrem linken Schuh, schaute nach unten und sah, dass sie auf etwas getreten war, was sie nicht sofort identifizieren konnte. Als sie wieder aufblickte, sah sie in das Gesicht eines Mannes, der entschuldigend sagte: „Das wollte ich nicht.“

In dem Moment hatte sie registriert, dass sie auf ein Hundespielzeug getreten war. Offensichtlich hatte der Besitzer des Tieres es geworfen.

Isabell sah erneut nach unten und in zwei runde Knopfaugen, die sie aufzufordern schienen, das Spielzeug freizugeben. Sie trat einen Schritt beiseite, bückte sich und griff zu. Dann warf sie das quietschende Etwas in Richtung des Ufers. Blitzschnell setzten sich vier Hundebeine in Bewegung, um Sekunden später samt Spielzeug wieder vor ihr zu stehen.

Isabell lachte und hatte erkannt, dass sie wahrscheinlich den ersten Freund am neuen Ort gefunden hatte. Sie wiederholte die Prozedur, winkte und setzte ihren Weg fort.

Noch immer musste sie über das soeben Erlebte schmunzeln und dennoch spürte sie plötzlich Wehmut in sich aufkommen.

Sie war allein. Weder besaß sie einen Hund, noch hatte sie einen männlichen Freund in ihrer Nähe.

Isabell seufzte und dachte zuerst an Lars und dann schon wieder an Tom.

366 Tage

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