Читать книгу 366 Tage - Ramona Mitsching - Страница 8
4. Kapitel
ОглавлениеIsabell war wach geworden, weil ein Traum sie aufgeputscht hatte.
Völlig desorientiert tastete sie mit der linken Hand nach ihrem Mobiltelefon, das auf dem Schränkchen neben ihrem Bett liegen sollte. Sie hatte die Absicht, auf die Uhr des Handys schauen zu wollen. Allerdings fand sie dort, wo sie es vermutet hatte, kein Telefon. Ersatzweise blickte sie zum Fenster und der Gardine, die sie nicht komplett geschlossen hatte.
Isabell mochte es nicht, wenn es nachts in ihrem Schlafzimmer stockdunkel war. Sie bevorzugte es, wenigstens einen kleinen Lichteinfall zu spüren. In der Regel klappte das. Irgendeine Straßenlaterne spendete immer Licht.
Draußen dämmerte es. Also musste es gegen vier Uhr sein. Vielleicht halb fünf. Isabell stöhnte. Ihr Schlaf war zu einer Zeit unterbrochen worden, zu der es ihr schlecht gelingen würde, noch einmal zur Ruhe zu kommen. Dabei brauchte sie doch diese Erholung so sehr!
Angestrengt dachte sie darüber nach, was genau es gewesen war, das sie um ihren Schlaf gebracht hatte.
Sie hatte geträumt, ja. Aber wovon?
Isabell steigerte ihre Konzentration und wusste zugleich, dass es für ihren Wunsch, nochmals einschlafen zu können, kontraproduktiv war. Je mehr sie bewusst nachdachte, umso wacher wurde sie.
Es half jedoch nichts, sie konnte ihr Hirn nicht mehr stoppen und plötzlich wusste sie, dass sie von Uwe Holdt geträumt hatte.
Sie hatte sich mit ihm auf dem Golfplatz getroffen und Golf gespielt.
Isabell war sich des Blödsinns ihres Traumes bewusst: Schließlich hatte sie noch nie in ihrem Leben einen Golfschläger in der Hand gehalten. Ausgenommen auf der Minigolfanlage.
Zudem hatte sie das Match auch noch gewonnen! Als Siegerin hatte er sie an die Bar eingeladen und mit ihr einen Tequila Sunrise getrunken.
Isabell führte den Zeigefinger ihrer rechten Hand an ihre Stirn und zeigte sich selbst einen Vogel.
Noch nie hatte sie sich mit einem Mann seines Alters verabredet. Und wenn sie nachdachte, hatte sie es auch in Zukunft nicht vor. Ihr Bett hatte sie stets mit Männern ihres Alters geteilt, auch wenn einige ihrer Kommilitoninnen es anders gehandhabt hatten. Das Prinzip „Sugardaddy“ hatte ihr schon immer missfallen, so dass sie lieber gekellnert hatte, als sich auf diese Weise aushalten zu lassen.
Irgendwie schien Holdt sie dennoch zu beschäftigen. Einen Traum träumte man, wenn das Hirn etwas Unverarbeitetes zu verarbeiten hatte, glaubte Isabell zu wissen und beschloss sogleich, sich bei nächster Gelegenheit im Netz schlau zu machen, ob das tatsächlich der Wahrheit entsprach.
Holdt hatte gestern angedeutet, dass es eine Geschichte zu erzählen gab. Vielleicht war es das, was sie nicht losgelassen hatte. Auf interessante Geschichten war Isabell schon immer abgefahren. Irgendwann hatte sie erkannt, dass Leute, die eine solche zu erzählen hatten, keine Langweiler waren. Zu ihrem Verdruss war es jedoch so, dass sie nicht einfach würde zu Holdt gehen können, um ihn zu fragen, ob er Lust hatte, ihr seine Story zu erzählen.
Maria hatte ihr gestern das Compliance-Handbuch der Hotelgruppe ausgehändigt. Auch wenn sie bisher keine Zeit gefunden hatte, es zu lesen, kannte sie die wichtigsten Grundregeln bereits. Maria hatte sie ihr gebetsmühlenmäßig vorgetragen.
Regel eins lautete: Kein privater Kontakt zu Gästen oder Geschäftspartnern des Hauses. Jedenfalls galt das wohl bis Hierarchieebene unter Hoteldirektion.
Isabell dachte nach.
In drei Monaten minus einem Tag würde ihr Praktikum vorbei sein. Dann würden für sie die Regeln nicht mehr gelten. Theoretisch gesehen, würde sie sich einfach nur gedulden müssen.
Blieb ein Unsicherheitsfaktor: Holdt wollte seine Geschichte nicht preisgeben.
Isabell nahm beide Hände zu Hilfe, um sich frustriert die Bettdecke über den Kopf zu ziehen. Langsam fragte sie sich, wie ihre Tage und Abende aussehen würden. Mit Gästen oder Partnern durfte sie nicht sprechen, Freunde hatte sie hier und aller Wahrscheinlichkeit nach auch anderswo nicht. Die ehemaligen Kommilitonen arbeiteten verstreut in allen Landesteilen. Wie sie dort lebten, entzog sich ihrer Kenntnis.
Je genauer Isabell ihre Situation analysierte, umso mehr kam sie zu dem Schluss, dass sie sich in einer beschissenen Lage befand: Sie manövrierte sich nämlich gerade allein durch diese Welt.
Maria war bereits im Haus, als Isabell eintraf.
Sie hatte versucht, die Spuren der letzten zwei Stunden zu beseitigen, was ihr allerdings nicht gelungen zu sein schien.
Maria schaute ihr ins Gesicht und fragte: „Hast du geweint?“
Isabell überlegte einen kurzen Augenblick lang und war beinahe entschlossen, den Kopf zu schütteln, als sie sich anders entschied.
„Ja“, antwortete sie und sah Marias fragenden Blick. Kurz entschlossen winkte sie ab und sagte: „Vergiss es. Wird schon wieder. Aber sag mir doch bitte, woher Uwe Holdt kommt. Er hat gestern erzählt, dass er nach dem Mauerfall zum ersten Mal hier war. Damals fuhr er einen Golf 3. Das bedeutet, dass er auch aus dem Westen stammt.“
Maria nickte und antwortete: „Ja, der kommt gebürtig aus Hamburg, hat aber in Heidelberg studiert und promoviert.“
Isabell schwieg. Dann sagte sie: „Da du das weißt, gehe ich davon aus, dass du ihn schon länger kennst und ihr ab und zu auch mal außerhalb des Protokolls miteinander geredet habt.“
Maria nickte, während sie sagte: „Holdt ist ganz umgänglich. Ich kenne ihn seit etwa zehn Jahren.“
Isabell fragte sich sogleich, was es bedeutete, wenn Maria einschätzte, dass er umgänglich sei. Sie selbst hatte nie darüber nachgedacht, wie es sich für die Leute hier angefühlt haben musste, als der Grenzzaun sich geöffnet hatte und ihre Landsleute über diese Region hergefallen waren. Erst als sie sich selbst dazu entschlossen hatte, hierher zu kommen, hatte sie sich darüber Gedanken gemacht, dass sie in eine Gegend kommen würde, die sie nie zuvor zu Gesicht bekommen hatte und deren Menschenschlag samt Befindlichkeiten sie nicht kannte.
Tatsächlich hatte sie sich letztlich bewusst zu diesem Cut entschieden.
Sie war hierhergekommen, um einmal zu sehen, wie es sich anderswo lebte. Und wenn sie ehrlich war, war sie auch auf der Suche nach dem Leben, das sie künftig leben wollte.
Während Isabell noch immer grübelte, hörte sie plötzlich das Klingeln eines Telefons.
Intuitiv griff sie nach ihrem Gerät, das auf dem Pausentisch vor ihr lag. Es handelte sich jedoch nicht um einen Anruf für sie, wie sie soeben feststellte. Isabell blickte zu Maria, sah sie nicken und hörte sie sagen: „In Ordnung. Ich gebe ihr Bescheid.“
Maria schwieg. Sie schien nachzudenken. Kurz darauf meinte sie: „Du sollst zu Kröger kommen. Keine Ahnung, was er von dir will. Seine Assistenz wusste es auch nicht.“
Isabell beschlich eine Ahnung.
Hatte dieser Besuch mit der unerlaubten Nutzung des Gästeparkplatzes zu tun? Sie runzelte die Stirn und dachte, dass, träfe ihre Vermutung zu, Kröger aus einer Mücke einen Elefanten machte.
„Dann werde ich mal gehen“, sagte sie und war bereits aufgestanden.
Auf gar keinen Fall wollte sie ihre Situation noch verschlechtern. Deshalb lief sie forschen Schrittes zur Tür. Bevor sie die hinter sich zuzog, drehte sie sich noch einmal um und sagte: „Maria, halt mir meinen Platz frei.“
Während sie auf Krögers Büro zusteuerte, gingen ihre Gedanken wild durcheinander. Nicht ohne Grund hatte sie den Satz zu Maria gesagt. Isabell war tatsächlich im Moment nicht sicher, ob Kröger vorhatte, ihr Praktikum zu beenden, bevor es begonnen hatte. Am gestrigen Nachmittag hatte sie sein Verhalten studiert und war zu keinem endgültigen Schluss gekommen. Auf alle Fälle hatte sie jedoch bereits während des Meetings gedacht, es sei besser, ihm aus dem Weg zu gehen. Sein übertriebenes Gehabe, während er sie vorgestellt hatte, seine Gestik, als der Vertriebschef sprach und widersprach und letztlich sein Verhalten gegenüber Uwe Holdt, hatten sie zur Vorsicht gemahnt. Auch aus diesem Grund hatte sie sich an der Bar weit entfernt von ihm niedergelassen.
Isabell hatte sein Büro erreicht und angeklopft. Prompt hörte sie von innen ein „Ja“ und trat ein. Sie begrüßte die Dame, die im Vorzimmer saß und ihr in diesem Moment mit einem Wink zu verstehen gab, dass sie zu Kröger durchgehen sollte. Seine Tür stand offen und Isabell konnte ihn hinter seinem Schreibtisch sitzen sehen.
Nachdem sie eingetreten war, hob Kröger zuerst den Kopf und anschließend seinen Hintern vom Stuhl. Er kam auf Isabell zu und reichte ihr die Hand. Im Gegensatz zu gestern, bot er ihr einen Stuhl an und nahm selbst Platz, nachdem Isabell sich gesetzt hatte.
„Ich will nicht lange um den heißen Brei reden“, sagte er und setzte fort: „Sie wissen bereits, was ich Ihnen sagen will.“ Vorsichtshalber nickte Isabell und schwieg.
„Ihr Fahrzeug gehört nicht auf den Gästeparkplatz“, belehrte er sie und Isabell hoffte, das Thema möge sich nun erledigt haben. Sie war inzwischen fest entschlossen, sich bei ihm hochoffiziell für ihr Fehlverhalten entschuldigen zu wollen. Vielleicht würde er sie dann gehen lassen.
Bevor sie jedoch irgendetwas sagen konnte, sprach Kröger weiter: „Und unsere Geschäftspartner sind für Sie tabu.“
Isabell hatte mit allem gerechnet, nur nicht damit, dass er sie wegen Uwe Holdt angehen würde. Sie hatte nichts verbrochen. Wenn es nach ihr gegangen wäre, hätte sie nicht an der Bar gesessen. Eine Stunde früher hätte sie ihre Einkäufe erledigen können und ebenso eine Stunde früher hätte sie schlafen können.
Isabell atmete tief durch und schwieg.
„Ich hoffe, wir haben uns verstanden“, sagte Kröger. „Sie können an ihre Arbeit zurückgehen.“
Isabell stand auf, sah ihn an, sagte „Auf Wiedersehen“ und verließ erhobenen Hauptes den Raum. Als sie die Tür seines Vorzimmers hinter sich geschlossen hatte, schaute sie sich um.
Isabell wollte sichergehen, allein zu sein. Nachdem sie sich davon überzeugt hatte, dass wirklich niemand in der Nähe war, sagte sie leise: „Arschloch“. Währenddessen verdrehte sie die Augen.
„Ich hatte eine Nacht lang mein Auto auf dem Gästeparkplatz stehen. Kröger hat das gestern mitbekommen und mir soeben einen hochoffiziellen Tadel ins Klassenbuch geschrieben“, sagte Isabell an Maria gerichtet, die im Pausenraum auf sie gewartet hatte. Dabei hatte sie sich genau überlegt, was sie Maria sagen würde und was nicht. Schließlich kannten sie sich keine 48 Stunden.
„Lass uns nochmal über Uwe Holdt reden. Weißt du, was er tut, wenn er sein Geld nicht in Golfplatzerweiterungen steckt? Er ist doch Jurist“, fragte Isabell, um von ihrem Kurzbesuch bei Kröger abzulenken.
„Holdt arbeitet in einer ziemlich bekannten Rechtsanwalts- und Steuerberatungskanzlei. Soweit ich weiß, ist er dort Partner“, antwortete Maria. „Die sind seit mehr als zehn Jahren hier tätig. Sind auf Bauträger und Immobiliengeschäfte spezialisiert.“
Offensichtlich besaß Maria ein ziemlich umfangreiches Portfolio an Informationen. Isabell nickte und beschloss spontan, diese Quelle später nochmals anzuzapfen zu wollen. Maria schien nichts bemerkt zu haben. Somit würde Isabell heute Abend in Ruhe darüber nachdenken können, wie sie weiter vorgehen wollte. Das, was Kröger ihr unterstellt hatte, würde sie nicht auf sich beruhen lassen. Unabhängig davon, weshalb Kröger diese Nummer abgezogen hatte.
Der zweite Tag war mindestens ebenso anstrengend gewesen wie der erste. Isabell spürte die Müdigkeit. Ihr Kopf fühlte sich leer, die Glieder schwer an.
Sie hatte geahnt, dass ein Arbeitstag so aussehen würde. Nicht grundlos hatte sie sich über Lars und seinen Eifer gewundert.
Schon vor etwa einem Jahr, als er in den Beruf gestartet war, hatte sie sich gefragt, wie man auf die Idee kommen konnte, ein stinknormales Arbeitsleben herbeizusehnen. Wenngleich sie gewusst hatte, dass sie für ihren Lebensunterhalt zu jeder Zeit selbst würde sorgen müssen.
Bereits als Studentin hatte sie sich mit diversen studentischen Aushilfsjobs über Wasser gehalten. Von ihren Eltern hatte sie keine Unterstützung zu erwarten gehabt. Das, was sie verdienten, brauchten sie selbst. So hatte es dann auch keine Probleme gegeben, als sich abgezeichnet hatte, dass Isabells Studium über die Regelstudienzeit hinaus reichen würde. Und ihr war es sowieso gleichgültig gewesen, ob sie nun zwei oder vier Semester dranzuhängen hatte.
Schließlich war sie 27 Jahre alt geworden, bis sie ihren Master in der Tasche gehabt hatte. Zwischendurch hatte sie keinen Vierundzwanzigjährigen beneidet, der die Uni mit Abschluss verließ.
Soeben ertappte Isabell sich dabei, dass ihre Gedanken schon wieder um Uwe Holdt zu kreisen begannen. Als Typ war er durchaus interessant und Kröger hatte mit seiner Ansage von heute mehr denn je ihre Neugier geweckt. Und irgendwie auch ihren Jagdinstinkt gekitzelt.
Isabell war zu müde, um weiter nachdenken zu können und schloss die Augen. Vielleicht hatte sie Glück und der Zufall kam ihr zu Hilfe. Schließlich konnte man nie wissen, war das Letzte, was sie dachte, bevor sie einschlief.