Читать книгу 366 Tage - Ramona Mitsching - Страница 9

5. Kapitel

Оглавление

Während der ersten Woche hatte sie die Tage gezählt und ab der zweiten war sie bereits durcheinandergekommen. Ein erster Wochenenddienst hatte dafür gesorgt, dass sie das Gefühl für einen normalen Wochenrhythmus verloren hatte.

Maria hatte sie in die Geheimnisse des Reservierungssystems eingeweiht und Isabell hatte den Kollegen an der Rezeption über die Schulter geschaut. Als an ihrem ersten Wochenende eine Kollegin krank geworden war, war sie eingesprungen. Am Montagmorgen war sie zu ihrem normalen Dienst erschienen und nach einem freien Samstag und Sonntag hatte sie Maria am darauffolgenden Wochenende zu einer Messe begleitet. Inzwischen war sie seit vier Wochen hier und hatte so gut wie nichts vom Ort und seiner Umgebung gesehen.

Jeden Morgen, wenn sie in den Spiegel schaute, sah sie die Augenringe, die sie sogleich wegschminkte. Sie hatte bereits damit begonnen, die zweite Ladung Kosmetika, die sie für ihren Spind eingekauft hatte, zu verbrauchen. Wenn alles so weiterginge, würde sie irgendwann mitten im Gespräch einschlafen, hoffentlich jedoch nicht im Beisein von Kröger. Ihn hatte sie während der vergangenen turbulenten Wochen kaum zu Gesicht bekommen und war froh darüber gewesen, brauchte sie doch keine zusätzliche Last, die ihren Alltag noch anstrengender machte.

Vor Kurzem hatte sie Maria gefragt, wie sie den Stress handhabte und Maria hatte ihr geantwortet, dass alles eine Frage der Gewöhnung sei.

Isabell konnte dem jedoch keinen Glauben schenken. Sie war schlicht nicht in der Lage dazu, sich vorstellen zu können, künftig immer in diesem Tempo arbeiten zu müssen. Dennoch hatte ihr der Messeaufenthalt besonders gut gefallen. Auch wenn er sie das Wochenende gekostet hatte.

Plötzlich fragte sie sich, ob sie bei all dem Trubel ein weiteres Meeting mit Uwe Holdt verpasst haben konnte. Diese Frage würde jedoch allein Maria beantworten können. Isabell würde sie ihr nachher stellen.

Ihr Blick ging zur Uhr, die ihre Tage mehr als jemals zuvor in ihrem Leben bestimmte. Rasch griff sie nach ihrem Schlüssel und der Tasche, schlüpfte in bequeme Schuhe und verließ ihr Appartement.

In diesen Schuhen konnte sie nicht nur gut laufen, sondern auch entspannt stehen.

Isabell hatte schon als Bedienung gewusst, wie man viele Stunden auf den Beinen einigermaßen schmerzfrei überstehen konnte und dass alles an gutem Schuhwerk hing. Dennoch wusste sie, dass zu ihren derzeitigen Outfits Schuhe mit Absatz einfach besser aussahen. Aus diesem Grund hatte sie in ihrem Spind die weniger komfortable Variante der Fußbekleidung deponiert und wechselte jeweils zu Dienstbeginn und -ende.

Diesmal war es Isabell, die vor Maria den Personalraum betrat.

Sie öffnete ihre Schranktür und bemerkte, dass soeben ein Zettel zu Boden gefallen war. Isabell bückte sich und nahm das Blatt Papier auf.

Sie las.

Der Zettel war für sie gedacht. Maria hatte ihn wahrscheinlich gestern Abend noch durch den Schlitz gesteckt. Sie schrieb, dass sie heute einen außerplanmäßigen Termin wahrzunehmen hatte und sie sich um zehn Uhr auf dem Golfplatz zum Meeting treffen würden.

Inzwischen wusste Isabell, wo der Platz lag. An einem ihrer freien Tage hatte sie nach ihrem Auto sehen wollen und sich spontan entschieden, einzusteigen und eine Runde zu fahren, um bessere Ortskenntnis zu bekommen.

Damals war sie auch den Hinweisschildern zum Golfplatz gefolgt und hatte am Eingang des Platzes gehalten. Sie war ausgestiegen und hatte sich angeschaut, was von außen einsehbar war. Da das nicht viel gewesen war, hatte sie keine weitere Zeit vergeudet, war wieder in ihr Auto gestiegen und weitergefahren.

Isabell dachte nach. In drei Stunden sollte sie dort sein. Für die Fahrt benötigte sie etwa zehn Minuten. Insofern würde sie noch Zeit haben.

Maria hatte ihr schon in der zweiten Woche ein ziemlich großes Schlüsselbund ausgehändigt. Seither konnte sich Isabell frei im Haus bewegen und hatte auch Zugang zu Marias Büro. Dorthin würde sie jetzt gehen.

Isabell wusste, dass Maria Ordner aufbewahrte, in denen alle Schriftstücke zum Golfplatzprojekt abgeheftet waren. Sie hatte ihr die Ablagesystematik erläutert und gesagt, dass die Dokumente nicht vertraulich waren und sie, falls sie Lust dazu haben würde, darin lesen durfte. Allein die Zeit hatte dafür bisher nicht ausgereicht.

Die plötzliche Gelegenheit begeisterte Isabell von Minute zu Minute mehr. Sie bemerkte, wie sie intuitiv ihren Schritt beschleunigte. Schon war sie angekommen und steckte den Schlüssel ins Schloss.

Nachdem sie eingetreten war, öffnete sie zuerst ein Fenster und spürte den frischen Luftzug. Für einen Augenblick harrte sie aus und atmete tief. Dann suchte sie nach einem passenden Ort für ihr Aktenstudium.

Als sie den ausfindig gemacht hatte, ging ihr Blick zur obersten Regalreihe. Dort standen die Ordner: Golfplatz allgemein, Golfplatz Protokolle (1), Golfplatz Protokolle (2),…

Die Reihe endete bei (9).

Sie würde es zeitlich nicht schaffen, alle Ordner durchzusehen, geschweige dann, intensiv zu lesen. Isabell blieb nichts weiter übrig, als sich eine Systematik zu überlegen, die sie in die Lage versetzte, innerhalb von reichlich zwei Stunden wenigstens einen Überblick zu bekommen.

Isabell stöhnte und dachte sogleich, dass die Zeit zwar knapp bemessen war, aber ausreichen musste, um sich mit dem notwendigen Koffein zu versorgen. Sofort hatte sie den ersten Schritt in Richtung der Espressomaschine getan. Dort angekommen, begann sie mit geübtem Handgriff, den köstlichen Trunk zu bereiten: Klein, fein, tiefschwarz. Isabell genoss bereits, während das Getränk, von einem Zischen begleitet, in die Tasse floss.

Schließlich war sie gerüstet. Isabell griff nach dem ersten Ordner mit der Bezeichnung „allgemein“, blätterte und las quer.

Querlesen hatte sie im Studium gelernt.

Sie blickte auf Grundbuchauszüge, Notarschreiben und Verträge. Isabell überflog die Namen der jeweiligen Vertragspartner und hielt erst inne, als sie den Namen der Betreibergesellschaft des Hotels las. Dieses Dokument schien ihr für ihr Verständnis wichtig zu sein und so begann sie, konzentrierter zu lesen.

Der Text war in einer Sprache abgefasst, die Isabell „Juristen-deutsch“ nannte. Sie schüttelte den Kopf und fragte sich, wer sich so etwas ausdachte.

Auch wenn sie nicht jedes Detail verstand, war ihr die Sache wenigstens inhaltlich klar. Dieses Werk regelte Rechte und Pflichten zwischen Golfplatzbesitzer und Hotel. Isabell suchte nach der Unterschriftszeile und blickte auf die Signaturen von Dr. jur. Uwe Holdt und einem Herrn namens Peter Hamilton.

Sie stutzte.

Der Peter musste kein deutscher Peter, sondern ein Brite oder Amerikaner sein. Zügig schloss sie die Akte und dachte nach. Dann griff sie nach dem Ordner mit der Bezeichnung

„Protokolle (9)“.

Sie hatte nicht mehr genügend Zeit, um auch die anderen durchzublättern. Ihre Armbanduhr hatte sie vorhin ab- und neben sich auf den Tisch gelegt. Dann und wann konnte sie so einen Blick auf das Ziffernblatt werfen.

Die Zeit verrann, wie Isabell seit vier Wochen rannte, ganz ohne Jogging am See. Sie musste die Ordner an ihren Platz zurückstellen und das Büro verlassen. Ihr Auto stand zwar nicht weit entfernt, aber auch diese Distanz würde sie noch zu überwinden haben. Auf gar keinen Fall durfte sie zu spät am Golfplatz ankommen.

Während sie auf die Straße trat, musste sie schon wieder daran denken, dass sie so gut wie nichts von diesem Ort gesehen und schon gar nicht von seinen Freizeitmöglichkeiten Gebrauch gemacht hatte. Von ihrer Libido ganz zu schweigen.

Isabell schüttelte den Kopf. Sie fragte sich, wie sie auf diesen Gedanken gekommen war. An ein Liebesleben hatte sie tatsächlich vor vier Wochen ein letztes Mal gedacht.

Der Erste, den sie sah, war Kröger.

Isabell war aus ihrem Auto ausgestiegen und hatte sich umgeschaut. Der Parkplatz sah aus, wie der neben ihrem Hotel. Wenngleich er um diese frühe Stunde noch nicht sehr gefüllt war.

Ihr Auto passte einfach nicht zu den hier abgestellten Karossen und so hatte sie sich eine Sekunde lang gefragt, ob es auch hier einen Parkplatz für das Personal gäbe. Sie hatte bereits mit dem Gedanken gespielt, wieder einzusteigen, als sie Kröger auf sich zukommen und ihr die Hand reichen sah.

Nach einer durchaus unterkühlten Begrüßung sagte er: „Es war der ausdrückliche Wunsch von Herrn Dr. Holdt, dass wir Sie heute mitbringen.“

Isabell wusste nicht, was sie antworten sollte. Zu ihrem Glück sah sie jedoch Maria kommen.

„Ja, dann“, hatte sie zu Kröger gesagt und war zu Marias Wagen gelaufen.

„Du hast meinen Zettel gefunden.“ Maria schien erleichtert zu sein. „Ich habe doch tatsächlich deine Nummer versiebt. Ansonsten hätte ich angerufen.“

Isabell nickte abwesend und Maria fragte: „Was ist los?“

„Kröger hat mir mitgeteilt, dass es nicht sein Wunsch war, mich heute hier sehen zu wollen.“

„Ich frage mich, was der gegen dich hat. Ich finde, du machst dich gut, bist fleißig, hilfsbereit, obwohl dich der Job im Moment körperlich überfordert.“

„Sieht man mir das an?“, fragte Isabell und Maria nickte. „Jetzt lass ihn quatschen, komm, wir gehen rein. Immerhin wird Holdt sich freuen, dich zu sehen. Und wenn du Glück hast, lernst du heute Peter Hamilton kennen. Der ist ganz süß.“

Gut, dass Isabell bereits wusste, wer Hamilton war. Dieses Wissen würde sie jedoch für sich behalten und sich überraschen lassen. Zusätzlich war sie jetzt darüber im Bild, dass sie einen attraktiven Mann zu erwarten hatte. Zumindest glaubte sie das, denn Maria hatte bisher nichts bezüglich ihres Männergeschmacks durchblicken lassen. In wenigen Augenblicken würde Isabell nun ein Ansichtsexemplar präsentiert bekommen.

„Ah, die Praktikantin“, hörte Isabell ihn sagen, als Holdt auf sie zukam und sie sogleich herzlich begrüßte.

Wenn er sie jetzt in den Arm nehmen und auf die Wange küssen würde, hatte sie verloren, schoss ihr durch den Kopf und Isabell machte ihren Körper steif. Dabei versuchte sie zu lächeln, allerdings nur so viel, dass es als ein Lächeln erkennbar war. Aus dem Augenwinkel sah sie fortwährend zu Kröger und bemerkte, dass der jedes Detail dieser Begegnung abzuspeichern schien.

„Guten Tag, Herr Dr. Holdt“, sagte sie. „Ich freue mich, Sie zu sehen.“

Holdt lachte und meinte: „Ganz meinerseits.“ Dabei unternahm er klar erkennbar keinen Versuch, ihr zu nahe kommen zu wollen.

Isabell blickte in die Runde und stellte fest, dass außer Kröger, Maria und Holdt niemand zu sehen war. Vermutlich standen sie alle hier, um auf Herrn Hamilton zu warten.

Kröger musterte Isabell derweil ohne jede Scham.

Isabell wusste, was sie im Normalfall in einer solchen Situation getan hätte. Aber das hier war kein Normalfall und so tat sie, als würde sie nichts bemerken.

Inzwischen hatte Uwe Holdt mehrfach unruhig auf seine Uhr geschaut und sagte nun: „Bitte gedulden Sie sich noch einen Moment. Ich erwarte Mr. Hamilton. Sein Jet ist erst vor einer Viertelstunde gelandet. Es wird noch ein wenig dauern, bis er bei uns ist. Ich schlage vor, wir besichtigen inzwischen unser aller Baufortschritt.“

Während er den letzten Satz sprach, lächelte er schon wieder entspannt.

„Kommen Sie“, sagte Holdt zu Isabell. „Sagen Sie mir: Sind Sie eine Golfspielerin?“

Isabell schüttelte den Kopf und antwortete: „Nein, Herr Dr. Holdt, leider nicht.“

„Dann wird es aber Zeit“, sagte er und Isabell sah die Lachfältchen in seinem Gesicht. Zugleich fragte sie sich, ob er sie auf die Schippe nahm.

Holdt kannte ihr altes Auto. Golfspieler fuhren nicht mit solchem Schrott durch die Gegend und aller Wahrscheinlichkeit nach absolvierten sie auch kein Praktikum und ließen sich von den Krögers dieser Welt drangsalieren.

Holdt schien in ihren Gedanken gelesen zu haben. Ernst sagte er: „Nein, Isabell, Golf ist ein Sport für jedermann.“

Während Isabell nichts erwiderte, fiel ihr Blick auf Kröger. Dem schienen soeben die Gesichtszüge entgleiten zu wollen.

Isabell hatte noch nie zuvor einen Golfplatz betreten. Uwe Holdt wich ihr nicht von der Seite und schien Gefallen daran zu haben, sie zu führen.

Unmittelbar hinter dem Zaun und unweit der Parkplätze standen die Gebäude, auf die Holdt sofort zugesteuert war. Im Zentrum des Ganzen befand sich ein großes modernes Haus mit einem imposanten Freisitz, das Clubhaus. Hier waren die Umkleideräume und sanitären Anlagen untergebracht und ein Restaurant beheimatet. Uwe Holdt hatte soeben davon gesprochen, dass es zum Hotel gehörte. Hier war auch die Verwaltung ansässig und ein Shop eingerichtet, in dem man sich für das Spiel ausrüsten konnte.

Isabell hatte vorsichtig auf eines der Preisschilder geschielt, das an einem solchen Equipment befestigt worden war, wie sie es bei einem der Gäste gleich nach ihrer Ankunft im Hotel gesehen hatte. Der Satz, Golf sei ein Sport für jedermann, relativierte sich in diesem Moment so sehr, dass Isabell sich beinahe auf die Zunge hatte beißen müssen, um keinen Laut von sich zu geben.

Uwe Holdt war zügigen Schrittes weitergegangen und hatte sie zu einem flachen Gebäudekomplex geführt, in dem allerlei Gerätschaften untergebracht waren, von denen Isabell glaubte, sie seien für die Pflege des Geländes notwendig. Während sie ihren Blick schweifen ließ, erblickte sie jedoch auch diverse Ausrüstungen und dachte, dass die wahrscheinlich für die Ausleihe an arme Schlucker wie sie vorgesehen waren.

„Sehen Sie, Isabell, diese Driving Ranch haben wir ganz neu gestaltet. Hier könnten auch Sie üben.“

Immerhin wusste sie nun, wozu eine Driving Ranch nutze war und schmunzelte. Nie und nimmer konnte sie sich vorstellen, hier zu stehen, um einem kleinen Ball weh zu tun.

Dann hatte sie ihn gefragt, wie groß der gesamte Platz war und hatte gestaunt. 60 Hektar waren eine Menge Holz und sofort hatte sie gedacht, dass man ein solch großes Areal auch anders hätte nutzen können.

Holdt musste schon wieder in ihren Gedanken gelesen haben, denn er sagte sofort: „Isabell, wir arbeiten hier nach ökologischen Gesichtspunkten. Das Gelände wurde ehemals militärisch genutzt. Wir haben klein angefangen und es jetzt nach hohem Standard aufgemöbelt. Wenn wir einmal mehr Zeit zur Verfügung haben, begleiten Sie mich über den Platz. Ich zeige Ihnen dann den Rest, also alles das, was man zum Spielen braucht. Sie werden sehen, wie harmonisch sich Gräben, See und Bunker in die Landschaft einfügen. Wir haben noch einmal richtig Geld in die Hand genommen.“

Isabell musste ein Schmunzeln unterdrücken, als sie sich vorstellte, wie die ehemaligen Schützengräben und Bunker einer anderen Nutzung zugeführt worden waren, als Uwe Holdt eine ausladenende Armbewegung machte, auf eine in der Ferne sichtbare Sandkuhle zeigte und sagte: „Dort hinten können Sie den Bunker im Ansatz sehen.“

Vorsichtshalber hatte Isabell geschwiegen und gedacht, dass sie sich unter einem Bunker etwas anderes vorgestellt hatte.

Nach einer halben Stunde hatten sie ihren Rundgang beendet und als hätte Holdt es gewusst, fuhr draußen am Eingang ein Cabrio vor.

„Da ist er“, sagte Holdt und ging auf den Herrn zu, der in diesem Moment sein Auto verließ. Die beiden begrüßten sich und Isabell sah, dass plötzlich neben ihnen ein Bediensteter aufgetaucht war. Der Cabriofahrer warf lässig seinen Autoschlüssel in dessen Hände und ging gemeinsam mit Holdt durch das Eingangstor.

Als Peter Hamilton ihr die Hand reichte, stutzte Isabell. Woher kannte sie diesen Mann?

Marius hatte zu Tisch gebeten, als Maria und sie von ihrem Außentermin zurückgekehrt waren.

Diese Stunde war es, die Isabell jeden Tag genoss. Eine Stunde unter freiem Himmel beim Mittagessen zu verbringen, das würde sie vermissen, wenn sie ihren Aufenthalt hier beendet haben würde.

Marius war nie um ein Wort verlegen und führte selbst gern das Wort. Immer, wenn Isabell ihn sah, erinnerte sie sich an ihr erstes Zusammentreffen.

Sie mochte Marius und das nicht nur, weil er exzellent kochte. Er ließ sie den Stress vergessen und obwohl seine Arbeitsbedingungen nicht die besten waren, vor allen Dingen um diese Jahreszeit und bei diesen Temperaturen, gab er ihr immer das Gefühl, sich extra für sie große Mühe beim Zubereiten der Speisen zu geben.

Isabell selbst hatte in Sachen Kochen nur ein eingeschränktes Programm auf Lager. Weit kam sie über das Thema Pasta nicht hinaus, wenngleich sie gern aß.

Marius konnte jedoch auch anders und heute schien er es wieder einmal besonders bunt zu treiben.

Sie hatten ihn schon von Weitem gehört, als er Anweisungen an die Lehrlinge erteilte und die in Angst und Schrecken versetzte. Dabei meinte er es nicht, wie er es sagte. Isabell war zügig zu dieser Erkenntnis gekommen. Sie glaubte zu wissen, dass hinter dieser manchmal harten Schale ein weicher Kern steckte.

Maria hatte sich neben Isabell gesetzt, die ihre Chance sogleich nutzte und fragte: „Sag mal, kann es sein, dass ich Peter Hamilton schon irgendwo einmal begegnet bin?“

In diesem Augenblick war sie sich der Absurdität ihrer Frage bewusst. Woher sollte Maria wissen, wer ihr wo schon einmal begegnet war und wer nicht. Insofern verstand Isabell sofort den Blick, den Maria ihr sendete.

Sie schüttelte den Kopf und meinte: „Blöde Frage, ich weiß. Aber kannst du mir sagen, welchen Beruf er ausübt?“

Maria kaute bereits und es dauerte einen Moment, bis sie antwortete: „Hamilton ist Steuerberater und Wirtschaftsprüfer. Du hast doch BWL studiert, vielleicht bei irgendeinem Praktikum?“

Isabell antwortete: „Nein, ich habe keine Praktika in Kanzleien absolviert. Über das Kellnern bin ich nicht hinausgekommen.“

Maria verputzte den nächsten Bissen und sagte: „Vielleicht hast du ihn irgendwann einmal bedient?“

Isabell schüttelte den Kopf und fragte: „Weißt du, wo er zu Hause ist? Er spricht Akzent“, fügte sie hinzu. „Brite oder Amerikaner?“

„Brite“, antwortete Maria. „Goldgräber aus Wendezeiten.“

Wahrscheinlich irrte sie sich. Sie konnte Peter Hamilton nicht schon einmal begegnet sein.

Genüsslich wendete sich Isabell ihrem Gericht zu.

Marius hatte heute, so schien es, genug gezetert und brauchte jetzt selbst eine Auszeit. Er griff nach einem der Stühle, zog ihn heran und setzte sich schwungvoll neben Isabell.

„Kannst du segeln?“, fragte er unverhofft und Isabell registrierte, dass diese Frage nicht an Maria, sondern an sie gerichtet war.

Isabell zog die Stirn kraus und antwortete beinahe entschuldigend: „Marius, seitdem ich hier bin, weiß ich, dass ich eine sportliche Niete bin. Ich kann weder golfen noch segeln. Und ehrlich gesagt, finde ich es selbst langsam schade.“

Sie sah, dass Marius nickte. Dann sagte er: „Macht nichts. Schließlich kann man das ändern. Ich lade dich am Samstag auf meine Jolle ein und dann segeln wir gemeinsam. Du wirst sehen, es ist gar nicht schwer. Dabei gehe ich mal davon aus, dass du schwimmen kannst.“

Isabell war entschlossen, ihn zu necken. Deshalb fragte sie: „Und was, wenn nicht?“

„Dann bekommst du zur obligatorischen Schwimmweste zusätzlich Schwimmflügel, so wie die Kinder“, antwortete er und wollte sich vor Lachen ausschütten.

Sie schaute ihm nach, als er aufgestanden und gegangen war.

Dass er in ihrem Alter sein musste, hatte sie bereits am ersten Tag gesehen und dass sie ihn mochte, schnell gefühlt. Nun würden sie gemeinsam segeln gehen und wer wusste schon, wie das ausgehen würde?

Sie war nicht abgeneigt, mit ihm zu schlafen, wenn es sich ergeben sollte. Konnte sie sich doch nicht einmal mehr daran erinnern, wann sie ihren letzten Orgasmus erlebt hatte.

Marius war ganz sicher nicht der Mann fürs Leben, aber vielleicht für eine Nacht. Oder zwei. Auch drei. Und dann wäre sie fast schon wieder weg.

Für einen Moment lang schloss sie die Augen und stellte sich vor, wie es mit ihm wäre. Allerdings fragte sie sich inzwischen auch, ob es vielleicht doch eine Alternative für sie gäbe. Wenngleich sie dafür über sein Alter hinweg schauen müsste.

Peter Hamilton verkörperte nach ihrem Empfinden nicht das, was Maria als „süß“ bezeichnet hatte. Peter Hamilton war heiß! Wahrscheinlich das Heißeste, was ihr in den letzten zehn Jahren begegnet war. Holdt war ein durchaus attraktiver Mann, aber Peter Hamilton übertraf ihn.

Dieser große, dunkelblonde, schlanke Mann verstand es, sich zu bewegen. Alles an seinem Bewegungsablauf schien flüssig und leicht zu sein. Seine Sportlichkeit war nicht zu übersehen. Allerdings vermutete Isabell, dass es noch etwas anderes geben musste, was ihn so auffallend machte.

Mit Sicherheit kam er aus gutem Hause und man hatte ihm von Geburt an Etikette gelehrt.

Isabell lächelte. Ja, Peter Hamilton verkörperte einen Gentleman der Generation 2.0: jung geblieben, elastisch, trotz fünftem Lebensjahrzehnt.

Sie war vorhin vorsichtig geblieben und hatte sich ihm nicht wesentlich genähert. Aus der Ferne hatte sie ihn jedoch studiert und während der gesamten Zeit immer auch einen Blick auf Kröger geworfen. Dabei hatte sie gesehen, dass er sie unter Dauerbeobachtung gestellt zu haben schien.

Der Gedanke befiel Isabell spontan und sie erschrak: Was war, wenn dieser Gentleman nicht kleinen Mädchen wie ihr hinterher hechelte, sondern sich für Frauen seines Alters interessierte?

„Sag mal, sind Holdt und Hamilton liiert? Ich meine jeweils, nicht miteinander“, fragte Isabell und musste über ihre eigene Formulierung lachen.

„Hamilton ist wohl noch verheiratet, Holdt war es nach meiner Kenntnis nie“, antwortete Maria.

Isabell fragte sich, was das „wohl noch“ in Marias Antwort zu bedeuten hatte und Maria wiederum schien zu wissen, dass ihre Antwort mindestens eine neue Frage aufgeworfen hatte.

„Seine Frau ist vor etlichen Jahren nach England zurückgegangen. Allerdings hat sie auch nur zwei oder drei Jahre lang hier gelebt.“

„Und sonst, ich meine, außer Ehefrauen?“, fragte Isabell.

Maria schaute sie an und fragte: „Was genau geht in deinem Kopf vor? Was willst du? Geh mit Marius segeln.“ Den letzten Satz hatte sie mit Schroffheit ausgesprochen.

Isabell erschrak und sagte: „Du verstehst das falsch. Ich frage mich lediglich, weshalb Holdt mich heute eingeladen hatte und weshalb Kröger so sauer ist.“

„Holdt hat ein Herz für junge Frauen im Allgemeinen und für Praktikantinnen im Besonderen“, sagte Maria. „Meistens bekommt er, was er will. Und Kröger möchte das auch haben, ist jedoch in der Regel chancenlos. Schau dir die beiden an und vergleiche, dann verstehst du, falls du noch nicht verstanden haben solltest.“

Isabell schwieg. Marias Tonfall gefiel ihr nicht. Sie hatte nicht vorgehabt, Holdt anzubaggern oder sich von ihm anbaggern zu lassen. Und Maria musste gesehen haben, wie sie Distanz gehalten hatte. Außer dem kleinen Flirt im ersten Meeting, hatte es keinerlei Annäherungsversuche gegeben. Von beiden Seiten. Und ihr Gedankenspiel bezüglich Peter Hamilton konnte Maria nicht erraten haben.

Langsam aber sicher fragte Isabell sich, inwieweit Maria interessiert war oder aber eine Affäre bereits beendet und sie eifersüchtig war. Maria und sie hatten in den vergangenen Wochen viel Zeit miteinander verbracht und viel geredet, auch außerhalb ihres Dienstes. Isabell wusste inzwischen, dass Maria einen kleinen Sohn hatte und mit einem Mann zusammenlebte. Allerdings ohne Trauschein, was aus Isabells Sicht auch Vorteile besaß.

Was also hatte Maria gerade so dermaßen auf die Palme gebracht?

366 Tage

Подняться наверх