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DER AUFPRALL Thessaloniki 2012: Erste Begegnung mit der Krise

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Der Krise begegnete ich in Person von Elissavet Vourtsaki, 45, die sich Veta nannte. Es war nachmittags, die Hitze staute sich in den Straßen von Thessaloniki, das Leben hatte sich verkrochen. Aber Veta war nicht müde, seltsamerweise.

Die Aussicht, ihre Geschichte erzählen zu können, elektrisierte sie. Veta war gewohnt, dass die Leute nichts von ihr hören wollten. Gewohnt, in einer Schlange warten zu müssen, an deren Ende sich herausstellte, dass alles mal wieder umsonst war. Gewohnt, vertröstet zu werden, auf morgen, auf irgendwann. Genauer ließ es sich oft ja wirklich nicht sagen in diesem Sommer 2012, dem vierten Sommer der Krise. Ihrem gefühlten Höhepunkt. Heute wissen wir: Es war nur der erste Höhepunkt.

Veta trug eine weiße Brille, die blonden Strähnen fielen ihr ins Gesicht. Ihr Körper war schmal geworden. Sie kochte Kaffee, dann gingen wir auf den Balkon. Die Nachbarn hatten die Vorhänge zugezogen, vielleicht schliefen sie. Man hörte den Windhauch von Ventilatoren, sonst nichts. So saßen wir zu dritt vor Veta: eine deutschgriechische Kollegin, die übersetzte, ein Fotograf und ich.

Leukämie also. Gebetet hatte sie: Gott, bitte lass mich nicht krank werden, nicht jetzt. Ihre kleine Firma, sie gestaltete Taufkleider, hatte sie aufgeben müssen. Auf Taufkleider verzichteten die Menschen als Erstes: schön, aber nicht zwingend.

Veta hatte sich vorbereitet. Vor ihr auf dem Tisch lagen ihre Unterlagen. Nachweise darüber, wie viel sie in die Krankenkasse eingezahlt hatte. 335 Euro im Monat waren es zuletzt gewesen, bevor sie krankgeschrieben wurde. Zwei Jahrzehnte lang hatte sie gearbeitet, bis der Krebs sie nicht mehr ließ.

Und jetzt? Hätte sie das System gebraucht. Ein Krankenhaus mit Ärzten, die ihrer Behandlung die höchste Priorität zuweisen. Eine Krankenversicherung, die nicht zögert, die Kosten zu übernehmen. Eine Apotheke, die ihr die verschriebenen Medikamente aushändigt. Alles das eben, was das Gesundheitssystem eines europäischen Landes ausmacht, in dem die Menschen ihr Leben lang Beiträge zahlen, damit ihnen, wenn es einmal ernst wird, schnell geholfen wird.

Veta ging die Papiere durch, wieder und wieder, als müsste sie begründen, dass ihr eine Behandlung zustand. Das war es, was sie in den Wochen und Monaten gelernt hatte: Sie musste sich wegen ihrer Krankheit verteidigen. Es nagte an ihr, und sie wurde immer lauter, je länger sie darüber sprach. Sie sei keine Bittstellerin, sie wolle doch nur, was ihr zustehe. Es sei nicht irgendjemandes Geld, sondern ihres.

Niemand konnte Veta sagen, wo das Geld geblieben war. Fest stand nur: Von der Krankenkasse bekam sie keinen Cent mehr. Die Medikamente und Spritzen, die sie brauchte, zahlte sie aus eigenen Ersparnissen. Ein für sie lebenswichtiges Medikament ließ sich auch gegen Bargeld nirgendwo mehr auftreiben. Es fehlte seit drei Wochen. Veta war im fortgeschrittenen Stadium.

An diesem Morgen war sie um sechs aufgestanden und hatte den Bus Richtung Zentrum genommen, das war jetzt ihr täglicher Weg. Sie stieg an dem Platz aus, der an einer Seite an die Küstenpromenade reicht, umgeben von Hotels, Cafés, Restaurants. Hier verabredet man sich in Thessaloniki im Sommer.

So früh am Morgen war der Platz noch leer, nur vor einem Hauseingang stand schon eine Gruppe von Menschen. Sie warteten darauf, dass sich die Tür öffnete. Dahinter befand sich eine der Sozialapotheken. Wer hier stand, hatte entweder keine Krankenversicherung, oder die Kasse zahlte nicht mehr. Oder es fehlte, wie in Vetas Fall, an einer bestimmten Arznei, weil die Lager der Apotheken leer waren. Die Lieferkette war unterbrochen, das System kollabiert. Die Sozialapotheken versorgten sich mit Hilfe von Organisationen, die sonst in Entwicklungsländern tätig waren. So arbeitete die griechische Sektion von »Ärzte der Welt« nun im eigenen Land.

Vetas Prognose wäre auch in Deutschland nicht gut ausgefallen. Die Leukämie war ihr Schicksal. Aber dass die Krankheit sie gerade jetzt und hier befiel, machte ihr Überleben unwahrscheinlicher.

Sie sprach nicht über den Tod. Vielleicht weil sie uns schonen wollte, vielleicht weil sie ihn selbst verdrängte. Veta redete schnell, laut, fordernd. Veta klagte nicht. Sie klagte an. Wenn sie zwischendurch einen Moment schwieg, stand eine Frage im Raum, auf die Veta keine Antwort fand: Was ist hier eigentlich los?

Ich war zum ersten Mal als Reporter in Griechenland. Als ich im Flieger nach Thessaloniki saß, hatte ich Bilder im Kopf. Von Rentnern, die vor Geldautomaten Schlange stehen. Von Demos gegen die Sparpolitik, von Straßenschlachten, Tränengaswolken. Ich dachte an das Titelbild des Magazins Focus, auf dem eine Aphrodite den Mittelfinger zeigte. Ich dachte an die dröhnende Stimme von Alexis Tsipras, dem jungen Oppositionspolitiker, der gerade in Europa vielen Angst und, wie ich hörte, in Griechenland vielen Hoffnung machte.

Eine Woche würde ich bleiben. Zusammen sollten wir eine größere Geschichte recherchieren, die erklärte, was mit Griechenland gerade geschah. Wir stellten uns ein Vorher-Nachher vor. Dazu suchten wir Griechen, die bereit waren, uns von ihrem persönlichen Absturz zu erzählen, und uns Fotos aus ihrem alten, besseren Leben zeigten.

Es war Juni 2012, die Woche vor der zweiten Parlamentswahl des Jahres. Die erste, gerade fünf Wochen her, hatte zu keiner Regierung geführt. Der Interims-Premierminister, ein Technokrat, hatte gerade einen Brief an den Staatspräsidenten geschrieben: Sollte nicht schnell irgendetwas passieren, würde der Staat in diesem Monat nicht mal mehr seine Beamten bezahlen können.

Vieles erschien auf einmal ungewiss. Konnte Griechenland in der Eurozone bleiben? Gab es einen Weg hinaus aus dieser Krise? Das betraf erst mal die Wirtschaft, ging aber schnell tiefer: Passten Griechenland und das restliche Europa noch zueinander? Wozu gehörte Griechenland überhaupt, zu Westeuropa, wie ich immer gedacht hatte? Oder eher zum Balkan, zum Osten, zum Orient?

Später merkte ich, dass es genau diese Fragen waren, die die Menschen in Griechenland verunsicherten. Sie wussten nicht mehr, wer sie waren. Sie hatten, jeder für sich, den Halt verloren.

Was war geschehen? In der Finanzkrise, die ab 2008 weltweit ausbrach, war Griechenland besonders verwundbar. Auch die Regierung in Athen schickte sich an, die angeschlagenen Banken des Landes zu retten, so wie es die meisten Regierungen taten, allerdings hatten die Griechen weniger Spielraum. Das Land war vorher schon viel höher verschuldet als andere, zum Beispiel Deutschland. Aber die Regierung konnte die Schulden noch bedienen, weil die Wirtschaft jedes Jahr zuverlässig stark wuchs. Griechenland galt als kreditwürdig.

Das änderte sich jetzt: Mit der Finanzkrise brach die Konjunktur ein, die Staatseinnahmen sanken, die Bankenrettung kam erdrückend hinzu. Es war der perfekte Sturm: die Wirtschaft im freien Fall, die Schulden dramatisch steigend. Der Staat konnte es sich nicht mehr leisten, Geld in die Wirtschaft zu pumpen, aber durch die Rezession stiegen die Schulden erst recht.

Schnell war klar, dass es das Land allein nicht schaffen würde. Von den Banken bekamen die Griechen kein neues Geld mehr. Früher, vor dem Euro, wäre der Staat jetzt bankrott gegangen, aber in der Eurozone war ein Bankrott ausgeschlossen. Außerdem hatten auch Irland, Portugal und Spanien massive Probleme. In Europas Hauptstädten fürchteten die Regierenden, dass der ganze Euro scheitern könnte, die Angst vor einem Domino-Effekt ging um. In Panik schufen sie Konstrukte mit unaussprechlichen Namen: erst die EFSF, die »europäische Finanzstabilisierungsfazilität«, später den ESM, den »europäischen Stabilitätsmechanismus«. Ihn gibt es bis heute. Mithilfe von Bürgschaften aller Euro-Staaten soll er Darlehen an notleidende Länder vergeben.

Der Deal war: Wir helfen euch, wenn ihr reformiert und vor allem spart, damit ihr die Schulden auch bedienen könnt. Die EU-Kommission holte zwei Institutionen ins Boot, mit denen sie die betroffenen Länder überwachte: Die Europäische Zentralbank (EZB) und den Internationalen Währungsfonds (IWF). Die EZB sollte als Notenbank vor allem beraten, der IWF kam wohl auf deutschen Druck dazu: Angela Merkel wollte einen neutralen Akteur, der nicht allzu sehr von Politikern beeinflusst war. Die »Troika« war geboren.

Der IWF gab Griechenland einen Kredit, und die Konstrukte mit den seltsamen Namen, erst EFSF, dann ESM, übernahmen Griechenlands Schulden bei den Banken. Von nun an war Griechenland bei seinen europäischen Freunden verschuldet. Und ihnen Rechenschaft schuldig.

Die Vertreter der Troika reisten alle drei Monate nach Athen, stiegen im Hilton ab und ließen sich von den Griechen erklären, wie es mit Reformen und Kürzungen so lief. Die Ergebnisse schickten sie nach Brüssel, zur Eurogruppe, dem Gremium der Euro-Finanzminister. Denen fiel beim Überwachen der Griechen die Schlüsselrolle zu. Wolfgang Schäuble, der deutsche Finanzminister, hatte zwar nicht den Vorsitz, war aber so etwas wie der Doyen der Gruppe. So jedenfalls beschrieb ihn Yanis Varoufakis später. Nur, wenn die Eurogruppe zufrieden war, gab es weitere Kredite.

Schon die Begriffe waren politisch. Die einen bezeichneten das, was die Troika und die Griechen aushandelten, als Rettungsprogramme. Andere sagten Sparprogramme. Ich will mich an den offiziellen Begriff halten: »Memorandum of Understanding«, kurz Memorandum. Jetzt, im Sommer 2012, lief bereits das zweite. Es schrieb der griechischen Regierung im Detail vor, was sie an Reformen und Kürzungen umzusetzen hatte. Seit drei Jahren schon sparten die Griechen, ihre Löhne und Renten sanken, der Staat plünderte die Sozialkassen, um zahlungsfähig zu bleiben.

Das, was da ablief, hieß »innere Abwertung«. Ohne den Euro hätten die Griechen ihre Währung abwerten können, damit wären ihre Waren billiger geworden und das Land wieder attraktiver für Investoren. Aber beim Euro, der Gemeinschaftswährung, hatten sie keinen Einfluss auf den Kurs. Nur die Löhne: Die konnten sie senken. Und genau das geschah.

Die Unterhändler der Troika brauchten in Athen inzwischen Polizeischutz. Sie verschanzten sich im Hotel, während draußen die Lage immer schlimmer wurde.

Die Griechen, mit denen ich in Thessaloniki sprach, hofften längst nicht mehr, dass sich das alles wieder legen würde. Manche scheuten sich nicht davor, laut zu werden, ihre Wut hinauszuschreien. Andere fingen mitten in Interviews an zu weinen. Wenn sie die Fassung verloren hatten, entschuldigten sie sich oft.

Sie wollten kein Mitleid. Vielen ging es um die Schuldfrage, was sie schnell zu dem führte, was sie »System« nannten: den Klüngel aus Regierung, Medien und Oligarchen, der sie, wie sie meinten, in diese Situation gebracht hatte. Daneben machten viele den deutschen Finanzminister Schäuble verantwortlich, der dem Spardiktat ein Gesicht gab.

Wenn es ein Trauma ist, das die Krise bei den Griechen hinterlassen hat, dann wurde es nicht zuletzt durch das Gefühl hervorgerufen, nichts tun zu können. Vetas Geschichte mag extrem gewesen sein, deswegen besuchten wir als Reporter sie, aber ihre Erfahrung war typisch: Sie hatte das Gefühl, ihr Schicksal nicht mehr in der Hand zu haben. Viele, mit denen wir in Thessaloniki sprachen, beschrieben es so: Als hätte man sie, erwachsene Menschen, entmündigt. Die Krise platzte in ihre Leben, unterbrach ihre Biografien, veränderte ihren Alltag, verhinderte Pläne, und sie konnten so gut wie nichts dagegen tun.

Sie lebten mit den Nachrichten. Die Talkshows, die um 23 Uhr begannen und oft drei Stunden dauerten, gerieten zu Wortgefechten. Politiker und Journalisten schrien sich an. Und es war nicht die übliche Show, man merkte: Auch für sie, die Figuren im Fernsehen, ging es gerade um alles.

Jeden Abend zogen Demos durch Thessaloniki, die Griechen suchten ein Ventil. Viele fanden es, indem sie Parolen gegen Wolfgang Schäuble und »die Deutschen« brüllten. Die Krise war eine nationale Kränkung. Aber auch eine persönliche. Die Menschen mussten ihren Kindern erklären, warum sie es sich diesmal nicht leisten konnten, in den Ferien zu den Großeltern aufs Dorf zu fahren. Die Mautgebühren waren zu teuer geworden, die paar Euro zusätzlich konnten sie nicht mehr aufbringen.

Sie strichen alles, was nicht überlebensnotwenig war, was das Leben nur schöner gemacht hätte. Geschenke. Süßigkeiten. Ein Glas Wein. Musikunterricht für die Tochter, für den Sohn eine dritte Fremdsprache. Was nicht sein musste, war nicht mehr drin.

Verheerend für die Psyche der Menschen war aber, dass es so bald nicht besser werden würde, im Gegenteil. Die Zukunft stand ja im Memorandum, das die Regierung unterschrieben hatte: noch mehr Kürzungen. Am Anfang geschah es schockartig: Im ersten Quartal 2011 betrug die Rezession 9,9 Prozent. Jetzt ging es kontinuierlich, Jahr für Jahr, weiter bergab.

Wenn man durch die Stadt ging, konnte man die Krise sehen. Die Tristesse der geschlossenen Läden, jeder für sich eine gescheiterte Existenz. In Thessaloniki fiel die Krise noch härter aus als in Athen, die Löhne waren hier immer schon niedriger gewesen, die Arbeitslosigkeit höher als in der Hauptstadt.

Vor dem Gerichtsgebäude trafen wir einen älteren Mann, der in seinem Auto wohnte. Sein Name war Sokratis Mourmouris. Und auch seine Geschichte handelt davon, was passiert, wenn sich eine private Krise mit der großen Krise überschneidet.

Mourmouris war ein Verlorener, mit dem Schicksal, in einem Land der Verlorenen zu leben. Er sei zu früh in Rente gegangen, erzählte er. Wie er später erfahren habe, hatte er nicht genügend Marken in seinem Rentenheft gesammelt. 20 Arbeitstage fehlten ihm. Seine Frau und er hatten sich schon vorher getrennt, und so fand er sich auf einmal ohne Wohnung und ohne Einkommen wieder. Drei Jahre lang fuhr er in seinem Hyundai durch die Stadt, jede Nacht schlief er woanders.

Eine Rente stand ihm wohl zu, wenn auch eine geringere, und so hatte er geklagt. Doch er wusste: Es konnte Jahre dauern, ehe die Justiz seinen Fall bearbeitet. Irgendwann beschloss Mourmouris, vor dem Gericht zu parken, so lange, bis sich etwas tun würde. So gab er sich wenigstens symbolisch nicht auf.

Mourmouris war ein Bürger, der etwas vom Staat wollte. Langsam und ineffizient war der griechische Staat immer schon gewesen, jetzt aber führte der Stellenabbau dazu, dass die Ämter oft wie eine Satire auf sich selbst wirkten. Und die Bürger wie Ausgelieferte, die sich nur mit Spott zu helfen wussten. Mourmouris schrieb Sprüche auf sein Auto. »Egal, was ihr tut«, stand da zum Beispiel, »es werden Diebe ins Parlament kommen.«

Wut, Apathie, Zynismus. Oft erinnerte mich die Recherche in Thessaloniki an meine Arbeit in Krisengebieten, an die Gleichzeitigkeit der Emotionen, wenn das Leben durchgeschüttelt wird. Mourmouris war Zyniker geworden. Bei Veta war es Wut, wenn sie darüber sprach, wer Schuld hatte. An der großen Krise im Land, und damit auch an ihrer eigenen.

Die Krise, meinte sie, war nicht einfach über Griechenland gekommen. Sie war kein Schicksal, wie ihre Krankheit. Es gab Schuldige, und für Veta saßen sie in der Regierung in Athen. Genauer gesagt: in all den Regierungen der letzten Jahre und Jahrzehnte. Veta fühlte sich betrogen, nicht nur als Patientin, auch als Bürgerin, die gearbeitet und sich an die Regeln gehalten hatte und dafür jetzt nichts zurückbekam. Darin lag, dachte ich nach dem Gespräch mit ihr, die tiefere Krise: Die griechischen Bürger, die dem Staat immer schon misstraut hatten, und oft zurecht, standen diesem Staat nun in offener Abscheu gegenüber.

Sie lebten zwar nach wie vor in einer Demokratie, aber was hieß das noch? Das Parlament, das sie am Sonntag wählen würden, konnte am Sparprogramm nichts ändern. Die Politiker, die das Memorandum umsetzten, obwohl sie es selbst unsinnig fanden, diskreditieren sich, konnten ihre Wiederwahl abschreiben.

Etwas ging kaputt. Bürger, die Steuern zahlen sollen, wollen im Grundsatz damit einverstanden sein, was mit dem Geld geschieht. Jemand, der vorhat, ein Unternehmen zu gründen, muss an das Gemeinwesen glauben, damit er sich auf das Risiko einlässt. Ein Paar, das überlegt, ein Kind zu bekommen, will wissen, ob es einen Kindergartenplatz bekommt und ob es sich die Gebühren dafür leisten kann. Und es sollte daran glauben können, dass das Kind eine Zukunft hat.

In Griechenland galten diese Prämissen nicht mehr, und es erschütterte die Menschen in ihrem Grundverständnis, Bürger eines Landes zu sein, in dem es möglich ist, mit Arbeit zu Wohlstand zu kommen. Also: Wut, Zynismus. Aber auch eine Tendenz zur Apathie, je länger die Krise dauerte.

Lag dieses Land, in dem Veta in jenem Sommer auf ihre Medikamente wartete, noch in Europa? Manche Griechen hätten vielleicht geantwortet: Kommt darauf an, was Europa heißt – ist es eine Währungsunion oder eine kulturelle? Kommt es aufs Haushaltsdefizit an oder darauf, ob ich mir einen Arzt leisten kann?

Vor der Wahl machte die deutsche Bundesregierung keinen Hehl daraus, dass sie auf einen Sieg der Konservativen hoffte, so wie viele andere europäische Regierungen auch. Die Konservativen der Nea Dimokratia (ND), die vor der Krise an der Macht waren, versprachen vor allem Ruhe und Stabilität. Alexis Tsipras und seine linke Syriza dagegen, die bei der Wahl im Mai zur zweitstärksten Kraft geworden waren, versprachen das Ende des Sparens.

Als pro-europäisch galten die Konservativen, weil sie nicht vorhatten, eine Revolution anzuzetteln. Sparen schien der wichtigste europäische Wert zu sein. Und Tsipras stand dagegen als Populist da, weil er, wie immer mehr Griechen, darin keinen Sinn mehr sah.

Tatsächlich trat er auf wie ein Populist: laut, aggressiv. Er machte Versprechen, die er nicht würde halten können, und befeuerte die Wut auf die Deutschen. Seine Kritik, dass die aktuelle Politik die Krise nur verschlimmere, drang anderswo in Europa nicht durch. In Thessaloniki sahen viele in ihm den einzigen Politiker, der nicht aus dem System kam, nicht korrupt war und der ihnen aus der Seele sprach.

Griechenland lag offenbar so lange in Europa, wie es weiter sparte, seine Zinsen zahlte und damit den Euro behielt. Aber konnte sich ein Land noch europäisch nennen, in dessen Apotheken es an Medikamenten und selbst an Verbandszeug fehlte? Die Wirtschaftskrise war längst zu einer humanitären Krise mutiert. In Thessaloniki sagte mir einer, der sich für Zynismus entschieden hatte: »Wir sind das nördlichste Land Afrikas.«

Europa, schien mir, war dabei, ein Versprechen aufzugeben: dass man sich auf diesem Kontinent gegenseitig hilft. Nord- und Südeuropäer redeten nur noch über Geld, über ihr gemeinsames Geld, den Euro, und wurden sich dabei immer fremder.

An einem unserer Abende in Thessaloniki lud uns Vetas Schwester Vana, eine Lehrerin, in ein kleines Kellertheater ein. Ein paar Lehrer hatten sich mit arbeitslosen Schauspielern verbündet und machten jetzt hier ihr eigenes Krisentheater. Auf der Bühne spielten sie Opfer und Täter der Gesamtsituation. Das Stück hatten sie selbst geschrieben, Vana hatte es als Regisseurin inszeniert, und sie lieferten, wonach die Lage verlangte: eine sehr direkte, harte Satire, fast mehr Kabarett als Theater. Sie hatten etwas zu sagen. Es musste raus.

Nach dem Stück sprangen die Schauspieler von der Bühne und tranken mit uns, es gab Tsipouro-Schnaps aus einer großen Karaffe. Tsipouro ist billig und macht schnell betrunken, das Getränk der Stunde also.

Ich unterhielt mich länger mit Vana und mit einem der jungen Schauspieler, deren Stellen in der Krise als Erste gestrichen worden waren. Es war seltsam: Alle waren wir Europäer, unterhielten uns auf Englisch, auf Augenhöhe, hatten denselben kulturellen Hintergrund. Doch uns unterschied etwas Wesentliches. Ich lebte mit einem doppelten Boden, konnte mich auf ein System verlassen, das mir immer selbstverständlich vorgekommen war. Zu Hause in Hamburg musste ich nur meine Krankenkassenkarte vorlegen, damit ein Arzt für mich Zeit hatte. Der Schauspieler war nicht mehr versichert, wie damals jeder dritte Grieche. Wäre ihm etwas zugestoßen, hätte er selbst für die Behandlung aufkommen müssen. Er hätte es sich nicht leisten können, hätte zur Sozialapotheke gehen müssen, wie Veta, oder zur Sprechstunde einer Hilfsorganisation.

Veta. Sie war eine von den vielen Menschen, denen ich als Reporter in den letzten Jahren begegnet bin. Eine von denen, die mich in ihr Leben vorließen. Ich schrieb über sie und zog weiter, blieb nicht in Kontakt, was ich heute bereue. Ich kann nur hoffen, dass sie noch am Leben ist.

Bei der Wahl damals wurde die ND abermals stärkste Kraft, offenbar hatte der Wunsch nach Stabilität nochmal über die Wut gesiegt. Tsipras’ Syriza allerdings sprang auf knapp 27 Prozent, ihr bisher bestes Ergebnis.

Es wurde ruhiger, zunächst. Aber es war nicht vorbei.

Der Anfang nach dem Ende

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