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9. Februar 2203

Südamerika / Südatlantik / Isla Deceit

Das riesige Sub war seit gut sechs Stunden in völliger Finsternis in dreihundertfünfzig Metern Tiefe unterwegs.

Es näherte sich jetzt seinem Ziel und würde zum Aufstieg an die Meeresoberfläche in wenigen Minuten seinen Antrieb drosseln, um sich vom gewaltigen Wasserwiderstand abbremsen zu lassen. Seine Reisegeschwindigkeit hatte enorme einhundertfünfzig Stundenkilometer betragen. Dies war nur aufgrund seines besonders starken Fusionsantriebs möglich, der den großen Langstrecken-Subs der Pole-Klasse vorbehalten war. Mit zweihundert Metern Länge waren sie die größten Transportmittel überhaupt.

Die letzten Kilometer im flachen Wasser vor der Insel würde es im Cruise-Modus mit fünfundzwanzig Stundenkilometern zurücklegen.

Es war an den FF-Labs auf Finistere gestartet, der Insel, auf der im Rahmen des Fixin-Projekts in den Bereichen Flora und Fauna sowie über 'Ethische Gene' geforscht wurde und die als nördlichster Außenposten Antarktikas Südamerika am nächsten war.

An Bord befand sich nur ein einziger Mensch, Jerik Morrisant, der leitende Nature-Scientist dieser Forschungseinrichtungen und Initiator dieser Expedition.

Er war schon vor zwei Stunden aufgestanden, kurz nach drei Uhr früh, denn er war bis dahin nur wach gelegen. Das bevorstehende Expeditionsprogramm beschäftigte ihn zu sehr. Er war der erste Mensch, der alleine eine Expedition hierher in diese alte, unbekannte Welt unternahm und er konnte das Öffnen der Luke und den ersten Blick hinaus auf die außergewöhnliche Insel kaum erwarten.

Sein ganzes Leben hatte er darauf hingearbeitet, einmal hier vor Ort sein zu können, um wichtige Erkenntnisse für seine Forschung zu gewinnen. Nach seiner festen Überzeugung lieferten nur eigene Erfahrungen in der Natur die nötige Inspiration, die für die erfolgreiche Arbeit als Nature-Scientist unerlässlich war. In der heutigen Welt, in der es kaum mehr Pflanzen und Tiere in einem natürlichen Umfeld gab, war dies jedoch nur schwer möglich.

Um diesen Nachteil wettzumachen, hatte er in Finistere eine Vielzahl unterschiedlicher Forschungseinrichtungen aufgebaut, mehr oder weniger große, parkartige Anlagen, in denen er in unterschiedlichen, künstlich erzeugten Klimazonen verschiedene Pflanzen und Tiere züchtete. Die Pflanzen basierten auf alten Sorten, wie sie im Gen-Tresor auf Svalbard am Leben erhalten worden waren. Die Tierarten waren dagegen weniger zahlreich, weil nur wenige bis heute überlebt hatten und Neuzüchtungen komplexer Organismen trotz aller Technologien schwierig blieben.

Immerhin konnte in diesen FF-Labs, wie die Parks wegen ihres Flora- und Fauna-Forschungsschwerpunktes auch genannt wurden, das Zusammenleben dieser Arten und ihre evolutionäre Weiterentwicklung untersucht werden.

Jerik betrieb seine Forschungen mit Enthusiasmus. Die intensive Auseinandersetzung mit unterschiedlichsten Lebewesen waren die Grundlage für sein ausgeprägtes Gespür für naturwissenschaftliche Zusammenhänge. Dies bewiesen seine Erfolge in der Entwicklung neuer Lebensformen und Stoffwechselprozesse. Letztlich, so hoffte er, könnten seine Fähigkeiten auch ausschlaggebend sein und ihn auf die richtige Spur bringen, um Bienen zu finden, die sie so dringend benötigten.

Sein Traum war, die gesamte Erde wieder mit Tieren und Pflanzen zu besiedeln, ähnlich wie es früher einmal war, sodass auch Menschen dort wieder leben konnten.

Natürlich war ihm klar, dass zunächst ausreichend günstige klimatische Verhältnisse wiederhergestellt und die Kontinente und Meere dekontaminiert werden mussten, was beides sicherlich viele Jahrzehnte in Anspruch nehmen würde.

Dies war jedoch nicht sein Arbeitsgebiet, sondern der aktuelle Forschungsgegenstand der CC-Labore. Dort arbeitete man intensiv daran, die Treibhausgase aus der Atmosphäre zu entfernen. Nur wenn das gelang, würden die Temperaturen in der Atmosphäre sinken und danach Pflanzen und Tiere auf den Kontinenten und in den Meeren angesiedelt werden können.

Er war jetzt sechsunddreißig Jahre alt und untersuchte seit dreizehn Jahren die Erzeugung temperatur- und giftresistenter Tier- und Pflanzenarten. Für diese Arbeit wollte er in den nächsten Tagen und Wochen Isla Deceit erforschen, eine kleine Insel des Hermite-Archipels, auf dem sechsundfünfzigsten südlichen Breitengrad gelegen. Hier waren die klimatischen Verhältnisse offensichtlich noch so, dass einige wenige Tiere und Pflanzen die Klimakatastrophe durch die Entwicklung raffinierter Schutzmechanismen überlebt hatten.

Als das Sub um 5: 13 Uhr die Wasseroberfläche durchstieß, war die Sonne gerade aufgegangen. Noch konnte er nichts von draußen sehen, denn die Bordkameras waren wegen einer zähen, schwarzbraunen Schicht, die den gesamten Rumpf bedeckte, noch nicht einsatzbereit.

Um sich schon etwas zu orientieren, ließ sich Jerik in seiner Eyefoil die Karte anzeigen, auf der sowohl das Ziel als auch die eintausend Kilometer lange Strecke zu sehen waren, die das Sub in der vergangenen Nacht zurückgelegt hatte. Momentan befand es sich zwölf Kilometer vor dem anvisierten Landepunkt an der Küste.

Noch knapp eine halbe Stunde! dachte Jerik, und seine Anspannung stieg weiter.

Er verließ seinen kleinen Aufenthaltsraum und ging die kurze Strecke nach vorne in den unteren Turmbereich, um für den Außenaufenthalt schon den Klima- sowie den Schutzanzug anzuziehen, die dort aufbewahrt wurden.

»Hi Jerik!«

Er zuckte zusammen und fuhr herum in Richtung Tür, von wo die Stimme gekommen war. In dieser lehnte jetzt lässig B1, sein Bot, der ihm als persönlicher Partner für die Expedition zugeteilt worden war. Jerik hatte ihn auf den 'Bester-Freund'-Modus eingestellt, sodass seine Art und sein Humor genau zu ihm passten.

B1 war als Bot der Kategorie-2 ein Humanoid, mit einer Größe von zwei Meter fünfzehn und einem Gewicht von einhundertneunzig Kilogramm. Aufgrund dieser Dimensionen waren diese Bots immer sofort als Maschine zu erkennen. Seine 'Haut' war äußerlich allerdings nicht von der eines Menschen zu unterscheiden. Sie besaßen zudem sehr realistisch aussehende und individuell gestaltete Gesichter, sodass Jerik alle an Bord befindlichen Exemplare dieser Kategorie leicht voneinander unterscheiden konnte.

B1 sah jetzt fast aus wie ein Astronaut in voller Montur, denn er trug auch schon seinen Anzug samt riesigem Helm, durch dessen Visier er Jerik angrinste.

»Hey, du hast mich erschreckt!«, schimpfte dieser nicht ganz ernsthaft.

»Gleich kannst Du einen Blick nach draußen werfen! Ich schlage vor, dass Du Deinen Helm auch schon aufsetzt. Dann können wir gleich nach oben gehen! In ein paar Minuten ist der Turm sicher frei.«

Er meinte damit den in wenigen Augenblicken beginnenden Reinigungsvorgang, der das Sub von der schwarzbraunen Schicht befreien würde. Sie nannten diese 'Blackstack', weil sie schwarzklebrig und etwa einen Zentimeter dick war. Sie bestand aus tausenden chemischen Substanzen, die alle Ozeane verseuchten. Durch die hohe Fahrtgeschwindigkeit waren sie mit den giftigen Algen zusammengebacken und überzogen jetzt das gesamte Sub.

Weil das Blackstack sehr giftig und stark ätzend war, musste es vor dem Ausstieg zumindest im Turm- und Deckbereich entfernt werden. Alles, was damit in Kontakt kam, wurde innerhalb kurzer Zeit verätzt und unbrauchbar. Die einzige Ausnahme stellte das Sub selbst dar, weil sein Rumpf aus Yanshi, einer unverwüstlichen Titan-Keramik bestand.

Damit es später auch wieder mit voller Geschwindigkeit fahren und exakt manövrieren konnte, musste der gesamte Rumpf regelmäßig gereinigt werden.

Oben am Turm, der sich im mittleren Teil des Rumpfes nur ganz flach wenige Meter über das Deck erhob, schoben sich in diesem Moment die vier kleinen Schutzplatten zur Seite, hinter denen Videosensoren und Antennen sowie die beiden Laserbrenner geschützt lagen, die zum Entfernen des Blackstacks erforderlich waren.

Jerik klickte sofort auf die Außenansicht, die jetzt endlich verfügbar wurde. Von der Insel war zu seiner Enttäuschung jedoch noch nichts zu sehen. Der Videostream in seiner Eyefoil zeigte nur das momentan leicht kabbelige Meer in direkter Umgebung des Subs und den über die Wasserlinie hinausragenden Teil seines Rumpfes.

Dieser wurde gerade schon von den beiden Laserstrahlen in seiner gesamten Breite und Länge zeilenweise abgefahren. Die hellgrauen Rauchschwaden, die dabei von dem verbrennenden Blackstack aufstiegen, wurden vom Wind schnell verwirbelt und davon geweht. Sie ließen auch die grellen violetten Laserstrahlen sichtbar werden. Die silbrigweiß glänzende Oberfläche des Rumpfes kam langsam wieder zum Vorschein.

Nach zwei Minuten war das Blackstack vollständig entfernt. Jerik konnte die Abdeckungen der Ladebuchten jetzt deutlich in seiner Eyefoil sehen. Drei befanden sich auf dem Vordeck, drei auf dem Achterdeck. In der ersten und letzten war jeweils einer der Kopter geparkt, mit denen er und die Bots zur Insel hinüberfliegen würden.

Unter den anderen verbargen sich sowohl die Container der mobilen Labore für Jeriks Untersuchungen hier vor Ort, als auch die Lazarettstation, für den Fall, dass ihm etwas zustoßen würde und die Bots ihn medizinisch versorgen müssten. Der Container, der ihm als Aufenthaltsraum diente und in dem er die Nacht verbracht hatte, befand sich direkt am Turm in der ersten Ladebucht des Achterdecks.

In dem Moment, als die Laser ihre Aufgabe beendeten, öffneten sich ein Stück weiter hinten zu beiden Seiten des Rumpfes zwei Luken. Zwei Reinigungsbots mit Ultraschallablösern auf dem Rücken glitten die Bordwände hinab, um unter Wasser auch den restlichen Rumpf vom Blackstack zu befreien.

Wegen ihres kugelförmigen Körpers mit acht Beinen wurden sie auch 'Spinnen' genannt. Sie waren mit einem schwarzen, flexiblen und mechanisch wie chemisch stabilen Kunststoff beschichtet. Da sie für den Einsatz im Wasser konzipiert waren, besaßen sie Schwimmhäute zwischen den Beinen. Zu deren Bewegung waren unter ihrer Außenhülle künstliche Muskeln aus einem elektrisch sensitiven Elastomer vorhanden, der wie bei Menschen oder Tieren auf elektrische Steuerimpulse reagierte.

Jerik hatte inzwischen den Klima- und den Schutzanzug angezogen, als B1 die aktuellen Windbedingungen mitgeteilt bekam.

»Du musst Dich leider noch ein paar Minuten gedulden. Es sind gerade ein paar heftige Böen aus Ost, Stärke neun bis zwölf im Anmarsch. Danach geht's aber wieder runter auf maximal Stärke sechs. Ab da kannst Du raus. Ich gebe Dir das Go. «

B1 streamte die dreidimensionale Windgraphik mit der Karte des Seegebiets einschließlich der Lage des Archipels und des Subs an Jerik, und fügte hinzu: »Wir können aber schon mal hoch.«

»Alles klar«, antwortete Jerik ruhig. »Ich kann warten.«

Dass er bei seinem Projekt zur Wiederbesiedlung der Erde jede Menge Geduld brauchte, hatte er in den letzten Jahren durch viele Rückschläge gelernt.

Er folgte B1 die Rampe hinauf. Sie führte in fünf Zickzack-Abschnitten vom mittleren Deck zum zehn Meter höher gelegenen ersten Schleusenraum direkt unterhalb des Turms.

Nachdem Jerik und B1 diesen durch die ovale Bodenluke betreten hatten, senkte und verriegelte sich deren Verschlußplatte völlig lautlos wieder hinter ihnen. Da dies ein wichtiger Vorgang war, wurde er selbst im Realmodus von Anfang bis Ende mit künstlichen Geräuschen versehen.

Im nächsten Moment schob sich über ihnen schon die Platte zum eigentlichen Turmbereich zur Seite. Jerik und B1 gingen die Treppe an der Turminnenwand hinauf und erreichten die unterste Ebene des oberen Turmbereichs. Dieser ähnelte mit seinen fünfzehn kreisartigen Stufen am Rand einem kleinen Amphitheater. Die riesige, in die Außenwand integrierte tonnenschwere Verschlussplatte darüber stellte die letzte Barriere zur Außenwelt dar und machte diesen Raum zu einer zweiten Schleuse, sodass das Sub doppelt zur Außenwelt hin abgesichert war.

»Müsste gleich so weit sein.«, meldete B1.

Er hatte soeben die Lidardaten über die hereinkommenden Böen gecheckt.

»Okay, bin echt gespannt. Ich bleibe auf real.«, erklärte Jerik.

Seine Eyefoil übertrug ab diesem Moment den unverfälschten Ton der Umgebung. Das Donnern der Wellen und das scharfe Heulen des gerade wieder auffrischenden Winds wirkten jetzt so kurz vor dem Ausstieg viel furchterregender als bei den Simulationen.

Nach etwa zwei Minuten waren die Böen vorüber und ein moderater Wind stellte sich ein. Kurz darauf erfolgte die Freigabe.

Sie erschien in Jeriks Eyefoil:

Go for EVA

EVA war ein gebräuchlicher Begriff für Extra Vehicular Activity, also Außenbordaktionen.

»Na, was habe ich gesagt?« freute sich B1, als sich die Außenplatte scheinbar mühelos mit leisem Surren anhob und für ihre Größe ziemlich schnell nach achtern schob.

Jerik war wie elektrisiert, als sein Anzug jetzt heftig im Wind zu flattern begann. Die Temperaturanzeige schnellte von dreiundzwanzig Grad Celsius, die in dem klimatisierten Sub herrschten, auf einundvierzig Grad hoch. Wegen des Anzugs spürte er natürlich nichts von der extrem feuchten Hitze. Er hastete die Stufen empor, den Blick schon in Fahrtrichtung nach Westen gerichtet.

Der Anblick, der sich ihm jetzt bot, sollte sich tief in sein Gedächtnis einbrennen.

Isla Deceit lag jetzt nur noch wenige Kilometer entfernt vor ihnen. Der schneeweiße Bambuswald, der die Insel vollständig bedeckte und die kleinen, bauschigen Cumuluswolken, die der Ostwind am leicht violett erscheinenden Himmel nach Westen trieb, leuchteten in kräftigem Orange im Morgenlicht. Das Meer dagegen war wegen der hier vorkommenden Algen gelbgrün milchig trüb.

Jerik checkte kurz die wichtigsten Wetterdaten, um sich zu vergewissern, dass die Chancen für einen Aufenthalt auf der Insel immer noch gut waren:

Wind5erwartet6
Luftdruck1055erwartet1057
Niederschlag0erwartet2
Luft- Tmp.41erwartet57
UVI31erwartet55
Wasser-Tmp.47erwartet57

Die Werte hatten sich sogar stabilisiert, ein auch in dieser Region extrem seltenes Ereignis. Die weitergehende Prognose für die nächsten Tagen zeigte sogar noch leicht bessere Werte.

Der Sturm, der seit Tagen diesen Teil des Südatlantiks unzugänglich gemacht hatte, war in der vergangenen Nacht weitgehend abgeflaut. Das Meer war daher hier in Küstennähe mit Wellen von nur zwei bis drei Metern Höhe entsprechend ruhig. Das Sub, mit zweihundert Metern doppelt so lang wie die sonst üblichen U-Boote und um ein Vielfaches schwerer, hatte damit keinerlei Probleme. Neben der durch seine reine Masse gegebenen Trägheit besaß es kräftige Stabilisatoren, die es spielend in seiner Ideallage hielten. Nur die Dünung, die noch vom Sturm herrührte, bewegte es während der Weiterfahrt zu seinem Zielpunkt langsam periodisch einige Meter auf und ab.

Jerik musste kurz daran denken, dass erst vor etwa einem Jahr Bewegung in sein Projekt gekommen war. Er hatte damals endlich die Genehmigung bekommen, die alten Kontinente zu erforschen und sollte dazu die erste Expedition vorbereiten. Als Ziel hatte er diese Inselgruppe gewählt, weil man von Satellitenaufnahmen wusste, dass es hier Vegetation gab. Außerdem war sie von Antarktika schnell zu erreichen. Vor sechs Monaten konnte er zum ersten Mal eine Gruppe Bots herschicken, vor drei Monaten dann noch eine zweite. Vorsichtshalber waren bei beiden Expeditionen keine Menschen beteiligt gewesen. Jetzt bei der aktuellen dritten Expedition hatte es auch grünes Licht für ihn selbst gegeben.

So wurde endlich sein Wunsch war und er könnte die Verhältnisse vor Ort zum ersten mal selbst erleben. Selbst die perfekte Technik und Unterstützung durch die intelligenten Bots bei den ersten beiden Expeditionen, die er von Finistere aus mitverfolgt hatte, konnten die viel intensivere, eigene Wahrnehmung nicht ersetzen.

Die Bots waren bei den ersten beiden Expeditionen mit dem Kopter direkt vom FF-Lab hierher geflogen. Jerik hatte sich jedesmal auf die Datenströme der Bots geschaltet, sodass er über seine Eyefoil die identischen Bilder sehen und Geräusche hören konnte, so als ob er selbst an ihrer Stelle gewesen wäre. Die Bots hatten versucht, eine vollständige Analyse der Flora und Fauna von Isla Deceit zu erstellen. Das Auffälligste dabei war ein bizarrer Bambuswald. Jerik war fasziniert von den ungewöhnlichen weißen Bäumen.

Der größte Erfolg dieser Expedition war jedoch die Entdeckung einer Vielzahl kleiner Löcher im Mark von abgeknickten und abgestorbenen Bambusstämmen. Sie hatten offensichtlich Insekten als Bruthöhlen gedient. In einigen davon hatten sie auch Reste von winzigen, stiftförmigen Eiern gefunden. Sogar Bruchstücke von Chitinpanzern, also Skelettteilen von Insekten, lagen über den Boden verstreut. Jerik hatte diese natürlich analysiert, allerdings wusste er danach immer noch nicht, um welche Art Insekten es sich dabei handelte, weil die wenigen gefundenen DNA-Reste sich nicht in bekannte Muster einordnen ließen. Die einzigen lebenden Tiere, die sie entdecken konnten, waren riesige Ameisen einer neuen, sehr giftigen Art. Jerik hatte sich sowohl vom Bambus als auch von diesen Ameisen einige Exemplare mitbringen lassen, um auch sie in seinem Labor zu untersuchen. Dabei erkannte er, dass sowohl Blätter, Äste und Stämme des Bambus als auch die Ameisen denselben Abwehrmechanismus gegen die extreme UV-Strahlung hervorgebracht hatten. Sie waren rundum mit einer dichten Schicht feinster, weißer Härchen überzogen, die für die Strahlung undurchdringlich war.

Da die erste Expedition wegen schlechtem Wetter abgebrochen werden musste, waren sie bei der Suche nach Bienen, dem eigentlichen Hauptziel bei der Erkundung dieses einzigartigen Ökosystems, leider nicht weitergekommen.

Die Bienen gehörten zu den empfindlichsten Insekten überhaupt. Trotz seiner vielen Versuche, Exemplare davon im Labor zu erzeugen, die auch in der von Giften verseuchten realen Umwelt überlebensfähig waren, hatte er bislang keinerlei Erfolg gehabt.

Die Situation war daher ähnlich wie bei der Suche des CC-Teams nach geeigneten, giftresistenten Algen.

Auch alle Versuche, die Bienen durch ähnliche Insekten-Bots zu ersetzen, waren bisher gescheitert, da es nicht gelungen war, diese so zu konstruieren, dass sie sich von Verschmutzungen, die sie sich während ihres Bestäubungseinsatzes zuzogen, selbst befreien konnten, so wie echte Bienen. Die Bienen-Bots fielen immer schon nach kurzem Einsatz defekt zu Boden.

Die zweite Expedition hatte er knapp drei Monate später gestartet, weil er herausgefunden hatte, dass der Bambuswald dann in Blüte stehen würde. Dies hätte die beste Zeit für das Auffinden von Bienen sein können. Der komplette Wald würde nach seiner Blühphase absterben, um eine neue Bambusgeneration hervorzubringen. Die für Jerik größte Überraschung war dabei die enorm schnelle Generationenfolge des Bambus. Dieser schien alle sechs bis acht Wochen zu blühen und sich zu erneuern, eine absolute Besonderheit, denn bei den bisher bekannten Arten war dies nur im Abstand mehrerer Jahrzehnte der Fall.

Bei dieser zweiten Expedition entdeckten sie sogar eine weitere, kleinere Bambusart, deren Auftreten eigentlich nur durch Mutationen der schon vorhandenen Art zu erklären war, nicht jedoch durch ein später einsetzendes, jahreszeitlich bedingtes Wachstum. Diese neue Art stand im Gegensatz zur ersten nicht in Blüte.

Leider fanden die Bots auch bei dieser Expedition nicht die erhofften Bienen, was allerdings noch kein Beweis war, dass es sie nicht doch gab. Denn die Situation war ähnlich wie beim ersten Mal und ein gewaltiger Wirbelsturm, der durch eine Burst-Wetterlage blitzschnell und völlig unerwartet entstanden war, zwang sie erneut zum vorzeitigen Abbruch.

Um in dieser Frage endlich weiterzukommen, war diesmal auch ein Sub im Einsatz, denn es konnte als Rückzugsort bei schlechtem Wetter dienen, erlaubte also einen nahezu unbegrenzten Aufenthalt. Daher hatte das SSI auch die Teilnahme von Jerik genehmigt, auch weil es die Gefahren der Insel nach den ersten beiden Expeditionen als akzeptabel einschätzte.

Jerik hoffte, dass die Insel ein ideales Freilandlabor sein könnte, in dem er auch das Entstehen weiterer, neuer Arten direkt mitverfolgen konnte. Es war klar, dass die mit Sicherheit vorhandenen Insekten und der Bambus ausgefallene und komplexe Strategien anwenden mussten, um in diesem verseuchten Gebiet überleben zu können. Wie diese genau funktionierten, war eine der grundlegenden Fragen in seinem Projekt und wenn er diese Mechanismen verstand, konnte er sie auch gezielt bei der Entwicklung neuer Pflanzen und Tiere anwenden. Insbesondere hoffte er, damit auch in der Neuzüchtung von Bienen weiterzukommen.

Weil sie diese für die Bestäubung von Pflanzen in Zukunft dringend benötigten, wollte er die wenigen Regionen der Erde, die noch irgendwie belebt waren, nach resistenten Exemplaren durchsuchen. Er wusste, dass die Chancen auf einen Treffer ziemlich schlecht standen, denn die letzten wild lebenden Bienen waren offiziell schon vor über einhundertfünfzig Jahren ausgerottet worden. Jedenfalls konnten Nature-Scientists trotz intensivster Suche seitdem keine Exemplare mehr finden.

Das Sub hatte inzwischen seine Zielposition an der Ostseite der Insel erreicht und war dort in der größten Bucht, rund siebenhundert Meter bevor die Brecherzone begann, auf Parkmodus gegangen.

Jerik checkte kurz den aktuellen Status der Kopter und der Bots. Alle ihre Werte waren grün.

»Okay, wir starten! befahl Jerik. »Wir müssen die Zeit optimal nutzen!«

»Aye aye, Captain!« gab B1 mit professionell regungsloser Miene zurück, zwinkerte dann aber doch mit seinem linken Auge und lachte Jerik an:

»Alle warten nur auf Dich!«

Sie verließen beide den Turm mit Ziel K-1, dem Kopter, der in der hinteren Ladebucht geparkt war.

Jerik war sehr froh, dieses Sub mit seiner riesigen Ladekapazität für die Expedition bekommen zu haben. So konnte er alle Geräte seines Labors und gleich zwei Kopter samt Besatzung mitnehmen, was die Chancen auf einen Treffer deutlich erhöhen sollte.

Das Sub war eigentlich als Transportschiff für Raketenmodule konzipiert worden, die zur Startbasis nach Westafrika gebracht werden mussten. Natürlich wurde es aber auch sonst eingesetzt, wenn sein besonders großes Ladevolumen wichtig war, keine anderen Transportmittel zur Verfügung standen oder besondere Sicherheitsvorkehrungen notwendig waren, wie es jetzt bei dieser Expedition der Fall war.

Dass bei Expeditionen auf die alten Kontinente durchaus tödliche Gefahren lauerten, wusste Jerik seit drei Jahren, als sie eine Expedition nach Zentralasien entsandt hatten. Es war die allererste überhaupt, die von Antarktika aus auf die alten Kontinente unternommen worden war, abgesehen von der Svalbard-Anlage, die ununterbrochen und mit allergrößtem Aufwand am Laufen gehalten wurde sowie der Raketenbasis in Westafrika.

Das Zielgebiet damals waren die Sümpfe des zentralasiatischen Hochlands gewesen. Das ziemlich flache Gelände lag zwischen viereinhalb- und fünftausend Metern über dem Meer und war damit die höchstgelegene und damit auch am wenigsten heiße Region der Erde. Von Satellitenaufnahmen war seit langem bekannt, dass dort eine riesige, einzigartige Seenlandschaft von rund eintausend Kilometern Durchmesser existierte. Sie war damit sehr viel größer als die wenigen anderen Gebiete, in denen es noch Anhaltspunkte für etwas Vegetation gab.

Die Bilder zeigten dichten Schilfbewuchs und wegen der Lage und Größe der Fläche war sogar eine gewisse Vielfalt an neuartigen Pflanzen und Tieren zu erwarten gewesen.

Möglicherweise hatten diese in ihrem Überlebenskampf ebenfalls neue Gifte und Strategien entwickelt, ähnlich wie die Algen. Da diese sehr wahrscheinlich auch für Menschen eine Gefahr darstellten, hatten sie damals sicherheitshalber nur Bots losgeschickt.

Wie richtig das war, zeigte sich sehr schnell. Sechs der acht Bots wurden sofort von aggressiven Schleimpilzen befallen, die sich innerhalb weniger Minuten durch die Schutzanzüge und Aussenhaut fraßen und ihre Steuerung lahmlegten. Sie wurden zurückgelassen. Nur zwei Bots waren in einer anderen Region abgesetzt worden, wo es diese Pilze nicht gab. Sie waren dort jedoch auf eine riesige Python gestoßen. Ihre Länge übertraf die bis dahin größte bekannte Art aus der alten Welt um die Hälfte. Zu einer direkten Auseinandersetzung zwischen dem aggressiven Tier und den Bots war es dabei nur deshalb nicht gekommen, weil diese den schnellen Rückzug angetreten hatten.

Die beiden hatten dann noch eine ganze Reihe unbekannter Insekten und Pflanzen sammeln können, die Jerik in seinem Labor weiterzüchtete und mit deren Untersuchung er bis heute beschäftigt war. Sowohl die Insekten als auch alle Pflanzen waren tatsächlich sehr giftig und nicht weiter hilfreich, weswegen er sich dann auch entschied, seine erste eigene Expedition in eine andere, tiefer gelegene Region zu unternehmen, die weniger Gefahren barg und so vielleicht auch eher die Chance bot, doch noch auf Bienen zu stoßen.

Bei seiner Suche nach einer Alternative war er auf das Hermite-Archipel gestoßen, der kleinen Inselgruppe bei Kap Horn an der Südspitze Südamerikas. Isla Deceit war mit knapp zehn Quadratkilometern winzig im Vergleich zum asiatischen Hochland, weshalb nicht mit großen Raubtieren zu rechnen war. Zudem stand das Gelände nicht wie dort unter Wasser.

Um bei der Expedition hierher besser vorbereitet zu sein als sie es im Hochland gewesen waren, hatten die Bots bei der ersten Expedition auf die Insel alle Gefahren sehr vorsichtig und genau untersuchen müssen. Mit den gewonnenen Erkenntnissen waren neue Schutzanzüge entwickelt, die weder von den Giften der Meeresalgen noch von denen der hier an Land vorkommenden Pflanzen, Pilzen oder den chemischen Giftstoffen im Boden zerstört oder durchdrungen werden konnten.

Sie umschlossen den gesamten Körper einschließlich der Hände und Füße, und natürlich auch den Kopf mit einem Helm. Man spürte sie beim Tragen wegen ihres geringen Gewichts kaum, auch weil die im Rückenteil integrierten Energie- und Sauerstoffspeicher, die für die Kühlung der Anzüge sowie das Atmen bei Einsätzen in großen Höhen benötigt wurden, äußerst kompakt und sehr flach waren. Ihr Vorrat reichte auch unter extremen Bedingungen für mindestens sechsunddreißig Stunden. Zum Schutz vor den Giften beim Atmen waren die Lufteinlässe, die sich unter dem Kinnteil des Helms befanden, mit einer Dekontaminationsanlage ausgerüstet.

Abgesehen von diesen wenigen Orten waren auf der Erde die Lebensgrundlagen völlig zerstört. Die im Krieg freigesetzten chemischen Substanzen vergifteten alle Kontinente und Meere, Die extreme Hitze aufgrund der Treibhausgase führte zu so starker Verdunstung und entsprechender Luftfeuchtigkeit, dass in den meisten Regionen die Sturzfluten der gewaltigen Niederschläge immer wieder alles überschwemmten und mit sich rissen.

Auch auf dem südamerikanischen Festland, das nur wenige Kilometer nördlich des Hermite-Archipels begann, gab es daher keinerlei Vegetation. Denn an den Bergen der Anden kondensierte der Wasserdampf, der im Sog der dort herrschenden gewaltigen Thermikwinde sowohl vom Pazifik als auch Atlantik herbeigeführt wurde. Weil der gewaltige Gebirgszug auch heute noch Höhen von viertausendzweihundert Metern erreichte und sich über tausende von Kilometern von Süden nach Norden erstreckte, gingen sowohl an seiner West- als auch Ostseite so große Wassermassen nieder, dass sie den Kontinent nahezu vollständig unter Wasser setzten. Auf den Satellitenaufnahmen war er oft kaum von Pazifik und Atlantik zu unterscheiden.

Es gab weltweit jedoch auch viele Regionen, in denen es trotz oft bedecktem Himmel geringere Niederschläge gab, beispielsweise in Nordamerika, Sibirien und Australien. Die UV-Werte waren dort aber trotzdem so hoch, dass jegliche Ansätze von Vegetation schon alleine dadurch sofort wieder vernichtet wurden.

Das Hermite-Archipel hatte eine Sonderstellung. Es lag sowohl noch außerhalb der katastrophalen südamerikanischen Wetterzonen als auch auf einem Breitengrad mit weniger extremen UV-Werten. Schon bei der ersten Expedition nach Isla Deceit hatte sich zudem gezeigt, dass der Boden durch chemische Substanzen nur so stark verseucht war, dass hier noch einige Pflanzen und Tiere der alten Kontinente überleben konnten.

Jerik und B-1 befanden sich auf dem Weg nach hinten zu K-1. Das Innere des Subs war aus Sicherheitsgründen unbeleuchtet, da es sich um Eigentum des Militärs handelte. Es gab nur eine minimale Notbeleuchtung, die aber so schwach war, dass erst nach einer halben Stunde Gewöhnung der Augen an die herrschende Dunkelheit grobe Umrisse wahrnehmbar waren. Jerik hätte im Moment nicht die Hand vor Augen erkennen können. Da er jedoch für viele Bereiche des Subs freigeschaltet war, tastete seine Eyefoil die Umgebung mit ultrakurzen und für das menschliche Auge unsichtbaren Laserstrahlpulsen ab. Sie wurden auf seine Eyefoil zurückreflektiert, woraufhin die Rechner das Bild der Umgebung erzeugen konnten und mit den erforderlichen Zusatzinformationen versahen. Einige Objekte wurden auch ausgeblendet, da er Zivilist war. Sie waren dann als gesperrte Areale mit gelb-rot gestreiften virtuellen Wänden und Flächen ausgewiesen. Jerik hielt sich streng an das Verbot. Bei Missachtung wäre er von der Besatzung festgesetzt worden und hätte mit harten Strafen rechnen müssen.

Jerik fielen die Geräusche der Stabilisatoren auf, die über den gesamten Rumpf verteilt waren und das Sub stabil hielten. Sie sprangen auch im Park-Modus immer wieder kurzzeitig an, was ähnlich wie das Schlagen eines Hammers klang. Im riesigen Keramik-Rumpf des Subs hallte dies wider wie in einem Bergwerk.

»Ganz schön unheimlich auf real, was?« grinste B1.

»Allerdings!«, stimmte Jerik ihm zu, und flachste: »Wenn Du nicht dabei wärst, würde ich sofort wieder nach Hause fahren!«

B1 lachte mit seiner tiefen Stimme laut auf.

»Da haben wir es wieder! Was wärt ihr nur ohne uns!«

Da hat er sicher Recht, dachte Jerik, sagte aber nichts weiter dazu. Er stellte fest, dass er sich B1 gegenüber immer häufiger so verhielt, wie bei einem richtigen Menschen, obwohl er dies eigentlich ablehnte.

Kurz darauf hatten sie die knapp einhundert Meter lange Strecke zurückgelegt. Beim Betreten der hinteren Ladebucht warf Jerik einen kurzen Blick auf den Kopter. Es war ein kleineres Modell, wie die meisten ganz in weiß, mit quaderförmigem Kabinenteil und spitz nach unten zulaufendem Bug. Das Heck mit der Ladeluke verlief dagegen schräg nach oben.

Abgesehen davon besaßen die Kopter generell keine aerodynamische Form. Sie waren damit sehr kompakte Fluggeräte. Ihre Spitzengeschwindigkeit war mit achthundert Stundenkilometern relativ gering, dafür waren sie extrem wendig und verfügten über eine absolut sichere Technik. Obwohl sie in großer Zahl eingesetzt wurden, hatte es noch nie einen Unfall mit ihnen gegeben.

K-1 hatte eine Länge von elf Metern, an der breitesten Stelle einen Durchmesser von knapp fünf Metern und eine Höhe von vier Metern. Der Boden war etwas breiter, weil hier links und rechts außen sowohl die Steuerdüsen als auch an der Rumpfunterseite die Düsen für den Auftrieb integriert waren. Ganz hinten neben der Heckluke saßen schließlich die vier großen Hauptantriebsdüsen.

Auch der Dachbereich war bei diesem Typ Kopter rundum mit Auftriebsdüsen ausgestattet. Damit konnten sie sowohl in Normallage als auch auf dem Rücken auf der Stelle schweben und alle denkbaren Flugpositionen einnehmen und Manöver fliegen. Das reichte von extrem langsamen Loopings, bei denen sie zu jedem Zeitpunkt an Ort und Stelle stehen bleiben konnten, bis hin zu blitzschnellen Orts- und Richtungswechseln. Solche Flugmanöver wurden bei speziellen Montagearbeiten oder Rettungseinsätzen benötigt. Für die Expedition hierher war dieser Koptertyp daher vom SSI vorgeschrieben worden, dem Safety and Security Intelligence Sicherheitssystem, das alles in Antarktika überwachte.

Wie fast alle Fluggeräte oder Fahrzeuge waren auch die Kopter fensterlos. Ihre Energie für Antrieb und alle Instrumente bezogen sie aus einem eigenen Fusionsreaktor an Bord. Auch die Bots konnten ihre Energiespeicher darüber in Sekundenbruchteilen berührungslos aufladen.

Die Kopter waren wie die Bots ebenfalls direkt mit den Rechnern verbunden. Sie konnten daher wie diese auch völlig autonom Entscheidungen treffen und benötigten zum Fliegen weder menschliche Piloten noch humanoide Bots. Da sie auch ständig untereinander sowie mit allen Bots in Kontakt standen, hatten sie zu jeder Zeit einen vollständigen Überblick über die Expedition und ihren aktuellen Status.

Insbesondere in Gefahrensituationen konnte dieser schnelle Informationsaustausch sehr nützlich sein.

Jerik und B1 betraten K-1 über die heruntergelassene Klappe der Heckluke, gingen durch den hinteren Teil des Kopters, vorbei an den Transportkisten mit den Ausrüstungsgegenständen und weiter zu ihren Plätzen ganz vorne im Cockpit. Die drei anderen Bots, die auch in K-1 mitfliegen würden, saßen schon in der Sitzreihe dahinter. Sie hatten bereits die ganze Nacht und Überfahrt beim Kopter verbracht und ihn technisch gewartet und startklar gemacht.

Manchmal beneidete Jerik diese Maschinen fast, nicht nur, weil sie natürlich keinen Schlaf benötigten, sondern auch um ihre Intelligenz und ihr allumfassendes Wissen. Beides basierte auf den Algorithmen, die heute überall in Antarktika auf den Quasarrechnern liefen. Auch an Bord des Subs gab es drei der leistungsfähigsten Exemplare, weil die Verbindung zu den Rechnern auf dem Festland unter Wasser nicht immer aufrecht erhalten werden konnte.

Auch die Bots verbanden sich dann damit, sodass ihnen auch an Bord jede Information ohne Verzögerung zur Verfügung stand.

Ihr Verhalten war dabei immer ausgesprochen freundlich und ihre Entscheidungen von hoher Ethik geprägt, was Jerik besonders gut gefiel. Außerdem arbeiteten sie mit ihrer Schnelligkeit, Robustheit und Kraft auch bei schwierigen Einsätzen höchst effektiv.

Ein Großteil der Bots an Bord gehörte wie B-1 der Kategorie-2 an, dem zweithöchsten Standard, den es gab. Sie wurden auch für Einsätze verwendet, die vom Militär autorisiert werden mussten, so wie diese Expedition.

Weil sie miteinander agierten, konnten sie auch in komplexen Gefahrensituationen und schwierigen Rettungsaktionen eingesetzt werden. Sie waren daher auf dieser Expedition auch für Jeriks Schutz verantwortlich.

Auch diese drei Bots im Kopter hatten bereits ihre Schutzanzüge und Helme angelegt. Im Gegensatz zu B1 arbeiteten und kommunizierten sie im Standard-Modus.

Jerik überprüfte noch einmal den Status. Alle Kenngrößen erschienen immer noch grün, auch die von K-2, dem anderen Kopter, der vorne im Sub auch startbereit war.

Im Moment gab es noch keine Startfreigabe, denn die Wellen, die gerade gegen die Bordwand schlugen, waren noch zu hoch und Wasser und Gischt wurden aufs Deck hochgewirbelt. Um das Sub mit den Koptern verlassen zu können, musste eine Phase abgewartet werden, in der nichts davon durch die geöffneten Luken gelangen konnte. Das Lidar oben am Turm analysierte dazu ständig die heranrollenden Wellen und Böen und errechnete daraus den passenden Zeitpunkt. Es konnte so die Situation für zehn Sekunden vorhersagen, dem Zeitraum, der auch für den gesamten Startvorgang einschließlich dem Öffnen und Schließen der Luken notwendig war.

Nach zwei Minuten war die Lage entsprechend günstig.

»Bingo!«, meinte B1, »Let's have fun!«

Das Sub zählte die Sekunden herunter. Jerik beobachtete den Countdown auf dem Hauptmonitor des Kopters. Der Laser oben auf dem Turm zerstrahlte vier Sekunden lang das auf Deck stehende Wasser im Bereich der Luke, dann öffnete sich diese blitzschnell.

Fast wie von einem Katapult beschleunigt schoss K-1 zunächst senkrecht nach oben auf einhundert Meter Höhe. Jerik wurde mit brachialer Gewalt in seinen Sitz gedrückt, dann ließ die enorme Kraft nach und er stieg mit moderater, konstanter Geschwindigkeit weiter. Jerik sah das Sub unter sich langsam kleiner werden. Als sie die Zielhöhe von fünfhundert Meter erreicht hatten, hielt er den Kopter auf dieser Position, um auf K-2 zu warten, der noch auf sein Go wartete.

Dies konnte auch noch etwas dauern, denn das Deck des Subs wurde gerade wieder von einigen Wellen überspült und die in seine Eyefoil eingeblendete Lidar-Grafik zeigte einen roten Wind- und Wellenbereich von Osten auf das Sub zukommen.

Jerik blickte sich solange um. Isla Deceit war von hier in seiner gesamten Ausdehnung zu sehen. Die sichelförmige Insel erstreckte sich unter ihnen in einem nach Osten geöffneten Halbkreis von etwa zehn Kilometern Länge. In diesem wiederum gab es weitere, kleinere Buchten, im Gegensatz zur Westseite, die nur eine durchgängig steile Flanke aufwies.

In der mittleren und schmalsten Bucht lag jetzt das Sub auf Parkposition. Es wirkte von hier oben mit seinem frisch gereinigten, riesigen weißen Rumpf dabei fast wie ein zur Insel gehörender, vorgelagerter Teil.

Einige Kilometer weiter im Westen waren auch die Nachbarinseln zu sehen. Auch sie waren von Bambuswäldern überzogen und leuchteten, wie jetzt auch Isla Deceit, schneeweiß im Licht der inzwischen schon deutlich höher stehenden Sonne. Auch jenseits ihrer nördlichen Ausläufer waren weitere Inseln des Archipels zu erkennen und ganz am Horizont waren im Dunst sogar die Ausläufer des südamerikanischen Festlands zu erkennen.

Auf dem großen Kontrollschirm direkt vor sich sah Jerik, dass jetzt auch der Countdown für K-2 startete. Der Wind hatte gerade nachgelassen und betrug noch Stärke vier und für die nächsten zehn Sekunden rollten auch keine höheren Wellen heran. Jerik schaute hinunter. An Deck des Subs öffnete sich blitzschnell die vordere Luke und der zweite Kopter schoss so schnell in die Höhe, dass Jerik ihn sofort aus den Augen verlor.

K-2 bewegte sich viel schneller als K-1, weil er nur vier Bots an Bord hatte. Er hatte daher maximal beschleunigt und schwebte daher fast augenblicklich auf derselben Höhe wie K-1, etwa einhundertfünfzig Meter weiter westlich. In Jeriks Eyefoil erschien die von K-2 genommene Flugbahn jetzt als hellgrüne Linie. An deren oberem Ende schwebte der weiße Kopter, der jedoch wegen des schneeweißen Bambuswalds im Hintergrund kaum zu erkennen war.

Um ihn künftig in der Umgebung dieser grellweißen Insel auch im Realmodus besser sehen zu können, markierte Jerik ihn in der Eyefoil durch einen Klick und aktivierte den Normalmodus dafür. Daraufhin hob sich K-2 deutlich dunkler und schwarz umrandet vor dem Hintergrund ab.

»Nettes Fleckchen!« bemerkte B1.

Jerik schaute ihn mit einem fragenden Blick von der Seite an.

»Hey, ich weiß, dass Du das nicht wirklich meinst.«

B1 lachte.

»Okay, ich gebe es zu. Kein Platz zum Urlaub machen. Echt gefährlich hier! Nicht nur wegen der Hitze und dem Gift. Schau Dir mal den Müll an, den sie hier haben liegen lassen«

Jerik wusste, dass es auf den Inseln jede Menge Wracks aus den Jahren der Massenflucht gab. Millionen Menschen waren hier vor über einhundert Jahren über die Südspitze Südamerikas unter katastrophalen Bedingungen nach Antarktika geflohen. Ihm schossen kurz die Geschichten durch den Kopf, die jeder in Antarktika kannte. Hier war eine der Haupt-Fluchtrouten nach Finstere verlaufen, der am leichtesten zu erreichende Teil Antarktikas. Auch einige von Jeriks Vorfahren waren über diese Route geflohen.

»Lass sie noch mal sehen!« forderte er B1 auf.

»Aye, Captain!«

B1 folgte sofort Jeriks Befehl und ließ in seiner Eyefoil die Trümmer erscheinen, die von den Detektoren bei der zweiten Expedition erfasst worden waren. Damit sie auf der felsigen Inseloberfläche gut zu erkennen waren, blendete B1 alles darüber aus. Der Wald und die Bodenschicht erschienen in Jeriks Eyefoil jetzt nur noch transparent.

»Wahnsinn, oder?«, staunte er, als er sah, dass die gesamte Insel mit tausenden Helikopterwracks verschiedenster Bauart und Größe übersät war. Sie waren alle stark zerstört und verrostet. Dazwischen lagen Berge unzähliger primitiver Waffen wie Macheten, Speere, Äxte sowie verschiedene einfache Werkzeuge.

«Hier müssen echt Millionen vorbeigekommen sein.«

Er meinte die riesigen Flüchtlingsströme, die hier einen letzten Stopp eingelegt haben mussten, bevor sie mit Schiffen oder Koptern nach Antarktika übergesetzt hatten.

»Ein echter Schrottplatz.« stellte B1 fest.

»Und eine Giftmülldeponie!« Jerik checkte die soeben von ISA eingeblendete Liste der dort vorkommenden chemischen Substanzen.

ISA war die Datenbank des Fixin-Projekts. Die Abkürzung stand für Information System of Antarctica. ISA enthielt sämtliche Informationen, welche die Menschheit bis heute zusammengetragen hatte, einschließlich der alten Daten, die über die Klimakatastrophe und den großen Krieg hinweg gerettet werden konnten. Alle Nature-Scientists waren über die Eyefoils mit ISA verbunden, ebenso alle im Projekt verwendeten Kopter und Bots von Kategorie-3 aufwärts.

ISA meldete soeben hochgiftige Brom- und Chlorverbindungen, Dioxine, Schwermetalle sowie viele neue unbekannte Stoffe, die sich erst hier aus den anderen gebildet hatten. Davon wurden nur die chemischen Formeln und Strukturen angezeigt. Viele lagen in extrem hoher Konzentration vor und die SSI-Toxizitätsklassifizierung dieser Bodenschicht lag beim Maximalwert 10. Da die gesamte Insel von Wald bewachsen und von dessen abgestorbenen Überresten bedeckt war, aus denen sich neuer Boden gebildet hatte, lagen heute glücklicherweise große Teile dieser Schrott- und Giftschicht viele Meter tief im Untergrund.

»Gut, dass das meiste heute nicht mehr offen rumliegt! Vor ein paar Jahrzehnten hätten wir hier noch ein großes Problem gehabt«, stellte B1 fest.

Jerik nickte. »Ja, keine Chance!«

In der Anfangsphase, als sich gerade die ersten Bambuspflanzen angesiedelt hatten, wäre eine Expedition hierher für Menschen kaum möglich gewesen und nicht erlaubt worden. Auch heute noch ragten an einigen Stellen scharfkantige Gegenstände aus dem Waldboden, insbesondere entlang der Felsen im Küstenbereich. Auch ein Kontakt mit den Giftstoffen war somit nicht völlig auszuschließen.

Überall sonst auf der Insel bestand er aus einer fünfundzwanzig bis fünfunddreißig Meter dicken Torfschicht, die aus von Pilzen und Bakterien zersetzten Bambusrohren bestand. Ihre enorme Mächtigkeit erklärte sich aus dem extrem schnell ablaufenden Zyklus von Verrottung nach dem Absterben und neuem Wachstum.

Jerik schaltete wieder die normale Ansicht ein.

»Was sagt das SSI?« fragte er B1. Es musste jetzt die Freigabe für die Landung auf der Insel erteilen. Voraussetzung dafür war, dass die Wetterbedingungen mindestens für die nächste Stunde ausreichend gut blieben.

»Wir haben Go für die Insel!« meldete B1 in nüchternem Ton und blickte dabei weiter starr gerade aus.

Jerik blickte ihn prüfend von der Seite an, obwohl ihm eigentlich klar war, dass er sich immer auf die Aussagen von B1 verlassen konnte.

Die vor ihnen liegende Landschaft kannte er schon von den Streams der ersten und zweiten Expedition, die er von Finistere ja live mitverfolgt hatte. Allerdings fühlte sich die Situation heute doch ungewohnt und viel realer und spannender an. Die lange Fahrt mit dem Sub hatte ihm die Abgeschiedenheit Isla Deceits bewusst gemacht und dass er sich nicht nur in einem Umgebungssimulator befand. Insbesondere jetzt, wenige Minuten bevor er den Kopter verlassen und die Insel betreten würde, verschärfte sich die seltsame, ganz ungewohnte Anspannung noch einmal. Sein allererster Kontakt mit der alten Welt stand direkt bevor. Er wusste, dass es neben dem scharfkantigen Schrott und den extremen Giften möglicherweise auch noch andere Gefahren geben konnte, die auch von den beiden Vorexpeditionen nicht entdeckt worden waren.

»Wir fliegen zuerst die A-Route.« erklärte Jerik.

B1 schickte nur ein »okay« zurück, das in Jeriks Eyefoil im Com-Feld unten grün aufleuchtete.

Wie erwartet, stimmte B1 zu, denn auf Finistere hatten sie bereits abgesprochen, zunächst selbst über die Insel zu fliegen, um sich ein aktuelles Bild von den hier herrschenden Verhältnissen zu verschaffen, trotz der schon mehrfach durchgespielten Simulationen. Jerik hatte die Genehmigung des SSI für diese Vorgehensweise bekommen und durfte die Routen auch selbst bestimmen. Nur bei Gefahr würde das System natürlich die Steuerung wieder übernehmen.

Jerik wies die Kopter über Audiobefehl an, in einer großen Schleife zuerst über den Hauptkamm und dann zur Nordspitze der Insel zu fliegen. Dabei skizzierte er genau die gewünschte Route auf der Karte und klickte den Flug-Button im Kopter-Steuerfeld in seiner Eyefoil.

Beide Kopter meldeten ein 'Ready Go Fly' und setzten sich in Bewegung.

Jerik blickte hinunter. Die nackten, dunkelgrauen Klippen, kamen langsam näher. Diese trennten wie ein dunkles Band den grellweißen Wald und das milchig trübe, gelbgrüne Meer in der Bucht, die sie jetzt schnell hinter sich ließen.

Als sie die Felsen der Küstenlinie überflogen, sahen sie, wie die hochspritzende Gischt der gerade dagegen krachenden Brecher vom Wind in den Wald getrieben wurde. Das SSI markierte sofort die betroffenen Bereiche als grellviolette Gefahrenzonen. Ein breiter Bereich entlang der gesamten Küstenlinie war rot eingefärbt.

Jerik steuerte den Kopter darüber hinweg und ging in dreißig Metern Höhe über den Wipfeln des Bambuswaldes in Tiefflug. Dazu bremste er den Kopter stark ab und schwebte im Schritttempo weiter. K-2 verlangsamte sein Tempo ebenfalls, um den Abstand zu ihnen zu halten.

Da die Blätter des Bambus im Wind und Luftstrom der Kopterdüsen stark hin- und herwedelten, machte er erst gar keinen Versuch, sie von hier aus im Zoom seiner Eyefoil näher zu betrachten.

Die Stämme selbst bewegten sich jedoch selbst jetzt überhaupt nicht. Er wusste, dass es sich um eine neue Art von Bambus handelte, mit kleinen lanzenförmigen, silbrigweiß glänzenden Blättern. Die Stämme erreichten eine Höhe von etwa zwölf bis fünfzehn Metern und standen so dicht, dass von hier oben kein Blick weiter in den Wald hinein oder gar zum Boden möglich war.

Die beiden Kopter schwebten weiter langsam über die Ostflanke auf die höchste Erhebung der Insel zu.

Rechts von ihrer Flugbahn erhob sich jetzt der Ausläufer, welcher die Bucht, in der das Sub lag, an ihrer Nordseite begrenzte. Seine Südflanke verlief zunehmend steiler und bot so beim Vorbei- und Hinaufschweben momentan die beste Sicht auf die seltsam weißen Bäume. Jerik betrachtete sie fasziniert. Ihre Äste und Blätter wiegten sich im Wind hin und her und sahen wie von Raureif überzogen aus.

Die Sonne, der violette Himmel, die strahlend weiße Insel, …. diese kaputte Welt kann sogar schön erscheinen, dachte Jerik.

Ihm fiel die Landschaft in Nähe des Südpols ein und den seltenen weißen Kappen in dieser antarktischen Hochgebirgsregion.

Die beiden Kopter gewannen weiter an Höhe und überquerten jetzt den Hauptkamm. Hier im nördlichen Teil der Insel fiel die Westseite deutlich flacher zum Meer ab, als die Ostseite, während es im südlichen Inselteil genau umgekehrt war.

In einer langen Rechtskurve flogen die beiden Kopter nach Norden weiter. In auffallend gleichmäßigen Abständen von etwa einhundertdreißig Metern existierten hier überall runde und leicht ovale Lichtungen, die von abgefallenen, jedoch nach wie vor weißen Bambusblättern bedeckt waren. Wegen des Schattenwurfs der Bäume am Rand dieser Vertiefungen waren diese Stellen im weißen Wald gut zu erkennen. Als Ursache für ihre Existenz hatte Jerik schon nach der ersten Bot-Expedition herausgefunden, dass rivalisierende Ameisenvölker hier mit ihrer Überlebensstrategie das Wachstum des Bambus verhinderten.

Nach einer weiten Linkskurve aufs Meer hinaus nahmen die beiden Kopter Kurs auf den südlichen Inselteil. Dort lag die Lichtung, die sie als ersten Landeplatz ausgewählt hatten. Sie befand sich in sicherer Höhe vor der Gischt auf dem Grat des Höhenzuges und bot ausreichend Fläche zum gleichzeitigen Landen beider Kopter.

»Wusstest Du, dass es hier auch mal richtig gekracht hat«, fragte B1, als sie gerade in rund einhundert Metern Höhe den flachen Nordwestteil der Insel überflogen.

»Was meinst Du mit 'richtig'?« Jerik fiel gerade nur ein, was sich hier vor einhundert Jahren ereignet hatte. Das meinte B1 aber offensichtlich nicht.

»Ich habe gerade etwas Neues entdeckt!«, erklärte dieser. Ich zeig's Dir! Achtung, ich schalte den Kopter weg!«

B1 wusste, dass Jerik schwindelfrei war und es ihm nichts ausmachte, wenn die Ansicht des Kopters und der komplette Innenraum aus seiner Eyefoil ausgeblendet wurde.

Okay, no Prob! dachte Jerik, Bird's-Eye-View!

»Schau mal runter!«

Er folgte B1's Aufforderung. Isla Deceit lag wieder ohne den Bambuswald unter ihnen. Selbst das Meer war jetzt verschwunden, sodass Jerik nur den felsigen Untergrund der Insel und des Meeresbodens sah. In dieser Steinwüste war jetzt ein ziemlich erodierter Einschlagskrater zu erkennen, der sich über die gesamte Breite der Insel und mit eintausendsiebenhundert Metern Durchmesser weiter bis in die Bucht erstreckte. Dort, direkt über seinem äußersten östlichen Punkt, sahen sie auch das Sub an der nicht mehr sichtbaren Meeresoberfläche schweben.

B1 lieferte sofort eine Analyse, die er von den Rechnern gerade hatte erstellen lassen.

»Vor dreiundzwanzig Millionen Jahren ist hier ein mächtiger Brocken reingerauscht. Durchmesser siebzig Meter, Typ S. Ähnelt damit Asteroid 2197LJ.«

»Bis auf die Größe!, natürlich«, korrigierte er seine Aussage, denn er sah Jerik an, dass dieser nicht ganz mit seinem letzten Satz einverstanden war.

Wie alle in Antarktika wussten, stellte Asteroid 2197LJ eine globale Bedrohung dar, denn er war wesentlich größer, als es dieser vergleichsweise kleine Felsbrocken hier gewesen sein musste. Mit dem enormen Durchmesser von dreiundzwanzig Kilometern war 2197LJ neben der Klimakatastrophe immer noch die größte Bedrohung für die Menschheit. Bei einem Einschlag würde er mit Sicherheit auch gewaltige Schäden an den Kuppelbauten und der Infrastruktur hervorrufen, wenn er nicht sogar Antarktika vollständig zerstören würde. Die vorhergesagte Einschlagstelle lag im südlichen Afrika und damit ziemlich nahe am Südkontinent. Er war erst im Jahr 2197 entdeckt worden und die Wahrscheinlichkeit, dass zumindest Teile von ihm im Jahr 2211 tatsächlich die Erde treffen würden, lag nach heutigem Stand bei über fünfzig Prozent. Genauer ließ sich dies nicht berechnen, weil er kurz vor dem Einschlag Jupiter passieren würde. Es war sicher, dass er dabei unter dem Einfluss der enormen Schwerkraft des Riesenplaneten in mehrere Bruchstücke zerbrechen würde. Wie diese geformt sein würden und welche Größe sie im einzelnen haben würden, war prinzipiell nicht vorhersagbar und damit auch nicht ihre genauen weiteren Flugbahnen, die auch noch durch die Monde des Planeten weiter beeinflusst würden.

Seit der Entdeckung von 2197LJ arbeiteten hunderte Spezialisten an seiner Zerstörung oder Abwehr, sodass es erst gar nicht zu diesem Szenario kommen würde. Ob sie ihn rechtzeitig vernichten oder ablenken konnten, war wegen seiner enormen Größe überhaupt nicht sicher. Die Vorwarnzeit war extrem kurz und sie hatten durch die Klimakatastrophe wertvolle Jahre verloren. Er war, wie sie seit seiner Entdeckung wussten, der Erde im Jahr 2105 schon einmal sehr nahe gekommen. Die Menschen waren damals aber ausschließlich mit ihrem Überleben und dem Aufbau Antarktikas beschäftigt gewesen und hatten ihn nicht bemerkt. Teleskope gab es zudem erst wieder seit wenigen Jahrzehnten.

»Danke für die Info, sehr schön! Was weißt Du noch?«

Jerik tippte auf die virtuelle Schaltfläche für die normale Ansicht in seiner Eyefoil. Der Wald und das Meer erschienen wieder.

B1 setzte eine besorgte Miene auf.

»Das wird Dir wahrscheinlich noch weniger gefallen. Die aktuellen Daten aus Finistere.«

»Tsunami?«

B1 lächelte kurz.

»Bingo! Die Spannungen im Meeresboden nördlich sind schlagartig angewachsen. Stehen jetzt kurz vor dem kritischen Punkt. Die Wahrscheinlichkeit für ein Zehner-Beben in den nächsten drei Tagen, über fünfundneunzig Prozent! Das SSI wird uns noch mehr an die Kette nehmen.«

Jerik wusste, was das bedeutete.

»Okay, klar! Keine Alleingänge und immer nur so weit weg von der Lichtung, dass wir schnell starten können.«

B1 nickte kurz und schickte ein 'no prob'.

Das SSI hatte schon beim Eintreffen der Tsunamiwarnung den Realmodus in Jeriks Eyefoil deaktiviert, damit er wieder alle AR-Anzeigen sehen konnte, die der Normalmodus bot.

Daher erschien jetzt der Höhenzug, den sie gerade auf der Westseite passierten, in transparenter Darstellung. So war auch das Sub zu erkennen und die soeben neu angewiesene Parkposition weit draußen in tiefem Wasser, auf die es gerade schon Kurs genommen hatte.

»Schau mal, das Sub fährt schon raus in tiefes Wasser!«

Jerik checkte die neuesten Informationen.

Das Sub hatte wegen des bevorstehenden Bebens vom SSI die Order bekommen, sich sofort in tiefem Wasser in Sicherheit zu bringen. Denn das schlimmstmögliche Szenario war, dass Schockwellen im Meeresboden von Antarktika aus mit einer Geschwindigkeit von über viertausend Metern pro Sekunde auch Isla Deceit erreichen würden. Falls sich hier ebenfalls Spannungen aufgebaut haben sollten, was im Moment aber niemand wusste, könnte auch hier ein gewaltiges Beben und mit bis zu sechzig Meter hohen Flutwellen ausgelöst werden.

Bei der hohen Ausbreitungsgeschwindigkeit der Schockwellen könnte dies schon in knapp vier Minuten der Fall sein. Das Sub musste den Gefahrenbereich in Ufernähe daher sofort verlassen, denn gegen die enorme Kraft solcher Tsunamis konnten nicht einmal die Boote der Pole-Klasse etwas ausrichten.

Auch die Küste rund um die Insel erschien auf der Inselkarte, die soeben in Jeriks Eyefoil eingeblendet worden war, bis auf achtzig Meter Höhe in tiefem Rot. Dieser Bereich des Bambuswaldes war jetzt gesperrt, denn das SSI verlangte immer einen Sicherheitszuschlag. Die Lichtungen darin und damit die Anzahl der möglichen weiteren Landeplätze hatte sich damit schlagartig fast halbiert.

Auch die gewaltigen Erdbeben in Antarktika waren die Folge der Aufwärtsbewegung der Landmasse, nachdem die Eiskappe verschwunden war. Diese hatte die gesamte antarktische Kontinentalplatte über Millionen von Jahren in den unter ihr liegenden Erdmantel hineingedrückt. Wegen dessen elastischer Konsistenz bewegte sich die gesamte Antarktis wieder nach oben, weil über ihr das Gewicht des riesigen Eispanzers fehlte.

Da unterschiedliche Gesteine und Strukturen im Untergrund dieser Aufwärtsbewegung Widerstand entgegensetzten, verlief diese nicht gleichmäßig, wodurch sich enorme Verspannungen zwischen den verschiedenen geologischen Formationen aufbauten. Sie lösten sich erst, wenn der Widerstand in den Gesteinen den darin aufgestauten Kräften der Anhebung nicht mehr Stand hielt. An der betroffenen Stelle bildete sich schlagartig eine Bruchlinie, auf deren einen Seite der Boden schlagartig um viele Meter in die Höhe schnellte, auf der anderen entsprechend nach unten sackte.

Diese Erschütterungen des Bodens besaßen extrem zerstörerische Gewalt, die auf der Bebenskala oft Stärke 10,0 erreichten, den höchsten Wert, den es geben konnte, da keine Gesteinsformation mehr Widerstand bieten konnte.

Sie traten im Abstand einiger Wochen auf und würden die Bewohner Antarktikas noch für die nächsten Jahrhunderte begleiten.

»Und es gibt noch etwas! Das wird Dir besser gefallen!«

»Was?«

»Wir haben gerade eine neue Art entdeckt!«

»Wie? Du machst Witze, oder?«

»Sicher nicht! Schau mal! Die gab es hier bislang noch nicht, zumindest nicht für uns sichtbar.«

An vielen Stellen unter ihnen flammten jetzt halbdurchsichtige, orangefarbene Sphären auf, die als Halbkugel die Spitzen einer anderen Baumart umgaben. Einige Exemplare überragten sogar das Blätterdach des Bambuswaldes um einige Meter. Jerik schaute auf die Legende unten in der Eyefoil.

»Was? Schachtelhalme!«

»Ja, und nicht wenige!«

Jerik schaute auf die Beschriftung. Sie lautete:

Equisetum giganteum

Okay, dachte er, Ein Riesiger Schachtelhalm! Darauf

wäre ich auch alleine gekommen.

Während des Fluges war ihm diese bisher unentdeckte Pflanzenart daher auch noch nicht aufgefallen. Die Videosensoren der Kopter hatten jedoch auch heute schon wieder die Waldoberfläche neu gescannt und analysiert.

»Und ebenfalls schneeweiß!«, stellte Jerik fest.

»Keine Überraschung auf dieser Insel, oder?« fand B1.

»Absolut nicht! Außerdem scheint das eine recht aggressive Art zu sein!«

»Ja, schau Dir die Werte an! Sie scheinen schneller zu wachsen als der Bambus, mindestens zwei Meter pro Tag.«

Tatsächlich waren viele Stämme schon innerhalb der wenigen Minuten, in denen Jerik und die Bots über dem nördlichen Teil der Insel unterwegs gewesen waren, um fast eineinhalb Zentimeter gewachsen. Der Unterschied war auf den während des Fluges erfassten Videos zwar mit bloßem Auge nicht zu sehen, aber die Lidars konnten die veränderten Maße leicht erkennen. Die Algorithmen hatten daraus sofort die Wachstumsrate berechnet.

Jerik war begeistert.

»Hey, das müssen wir uns mal näher anschauen!« und checkte schon auf der Inselkarte des Kopterdisplays, ob sich vielleicht eine der orangenen Halbkugeln in der Nähe einer Lichtung befand. Leider war dies bei den bisher entdeckten Exemplaren nicht der Fall.

»Bis jetzt keine günstige Konstellation.«, erkannte auch B1. »Aber geh doch mal nach dort oben, da steht einer weit heraus!

Jerik blickte in die Richtung, auf die B1 mit der rechten Hand soeben zeigte. Welche Stelle B1 genau meinte, erkannte er sofort, weil dieser die orangefarbene Sphäre dort in seiner Eyefoil pulsieren ließ, um sie aus der Vielzahl der anderen hervorzuheben.

Keine zweihundert Meter entfernt, kurz unterhalb des vor ihnen liegenden Grats, schwebte diese jetzt über einem auffallend großen Schachtelhalm, der seine Umgebung um viele Meter überragte.

»Wir können solange K-2 weiterschicken.«, schlug Jerik vor. »Er soll die Übersicht über den Südteil erstellen! Vielleicht gibt es ja dort eine gute Gelegenheit!«

B1 schaute ihn an und nickte. »Okay, das können wir machen!«

K-1 nahm sofort Kurs auf die Sphäre, die etwa achtzig Meter oberhalb ihrer momentanen Flugroute lag, während B1 mit K-2 kommunizierte. Jerik sah, wie dieser momentan auch nach oben weg beschleunigte und hinter der vor ihnen liegenden Bergflanke verschwand, um im Südteil nach Schachtelhalmen zu suchen, die in der Nähe oder am besten direkt am Rande von Lichtungen wuchsen.

Nach wenigen Sekunden durchdrang K-1 schon die immer noch pulsierende, orangene Sphäre. In ihrer Mitte ragte die seltsame Pflanze mit ihren symmetrisch angeordneten Ästen aus dem Bambusblätterdach heraus.

Jerik hielt den Kopter wenige Meter davor an.

»Wow! Der Stamm sieht fast genauso aus wie beim Bambus!«, stellte er sofort fest.

Der Stamm des Schachtelhalms bestand tatsächlich aus fast gleichartig aussehenden Segmenten wie der Bambus hier, ebenfalls rund, von etwa einem Meter Länge und wie dieser vollständig mit feinen weißen Härchen überzogen.

Der einzige Unterschied schien, dass die Länge der Segmente des Bambus bis an dessen Spitze gleich blieb, während sie beim Schachtelhalm kürzer wurden.

B1 checkte die gerade eingehenden Daten.

»Ja, und extrem stabil! Er bewegt sich nicht einen Millimeter, und das bei Wind Stärke sechs. Er hat hier oben einen Durchmesser von gut fünfzehn Zentimetern.«

»An der Basis dürften es mindestens zwanzig sein«, vermutete Jerik.

»Ja, gut möglich! Und schau Dir die Blätter an! Ganz glasig! Und diese Symmetrie! Fantastisch!« Selbst B1 schien ganz euphorisch.

Aus den Übergangsstellen der Stammsegmente wuchsen rund um den Stamm in regelmäßigem Abstand immer genau zwanzig vollkommen identisch aussehende, astähnliche Blätter heraus, ähnlich wie die Speichen eines Rades. Sie besaßen eine Länge von etwa drei Metern, bestanden dabei selbst aus einzelnen Segmenten und verjüngten sich leicht zur Spitze hin.

»Und es gibt hier auf der Südseite deutlich mehr davon«, bemerkte B1.

Jerik nickte und beobachtete auf der Inselkarte den Flug von K-2.

»Ja, schau Dir mal die Verteilung an! K-2 findet immer mehr .«

Während K-2 dort entlang flog und gerade schon wieder von der Südspitze der Insel zurückkehrte, poppten über dem weißen Bambuswald immer noch mehr orangene Sphären auf.

»ISA wird sich freuen!«, scherzte B1.

Jerik verstand. Neue Arten zu entdecken, war heute ein extrem seltenes Ereignis.

»Ja, das passiert wirklich nicht alle Tage!«

»Die ersten Exemplare sind ganz offensichtlich zuerst an der Südspitze aufgetreten. Und sie scheinen sich rasend schnell auszubreiten!«

»Vielleicht verdrängen sie den Bambus bald komplett.«

B1 checkte die neuen Schachtelhalmdaten von K-2 und sah, dass keiner in der Nähe einer Lichtung wuchs, also nicht ohne weiteres zu erreichen war.

»Mag sein. Leider gibt es keine günstigen Landemöglichkeiten.«, meldete B1 und warf Jerik einen kurzen Blick zu.

»Lass uns zu unserem ersten Ziel fliegen! Das ist auf jeden Fall der beste Landeplatz.«

B1 nickte. »Okay, machen wir. Vielleicht kommen wir ja von dort weiter.«

Jerik klickte auf die blaue Zielsphäre der großen Lichtung, die oben am Grat im südlichen Inselteil lag und noch etwa zwei Kilometer entfernt war.

Während der Kopter langsam darauf zuflog und Höhe gewann, ging Jeriks Blick hinaus aufs Meer und hinüber zu Isla Herschel, der westlichen Nachbarinsel von Isla Deceit.

Sie hob sich mit dem schneeweißen Wald, der auch sie bedeckte, heute um einiges deutlicher vom Meer ab als Isla Deceit, denn sie war von einer in grellem Türkis leuchtenden Algenkolonie umgeben.

Diese erstreckte sich bis etwa zur Mitte zwischen beiden Inseln, wo eine scharfe Trennlinie zu den milchig gelbgrünen Algen verlief, die heute auch hier an der Westseite von Isla Deceit im Wasser trieben.

Das ISA blendete dazu in Jeriks Eyefoil die Algengattung

Dinozoa 90 %

ein, die es für am wahrscheinlichsten hielt.

»Sieht hübsch aus zusammen mit unserer Galdieria!« fand B1 und meinte damit die gelbgrünen Algen, die Isla Deceit umgaben.

»Wir sind gleich da!«, meldete er wenige Sekunden später. Jerik hob den Kopf und blickte nach vorne aus dem Cockpit. Etwa fünfhundert Meter vor ihnen leuchtete jetzt schon die hellblaue, halbdurchsichtige Zielsphäre über dem Höhenzug auf. Sie sah wegen der dargestellten Reflexe wie eine Glaskugel aus, damit sie vor dem in dieser Richtung teilweise violettblauen Himmel gut zu erkennen war. Sie schwebte hoch über ihrem eigentlichen Ziel, weil dieses hinter der vor ihnen liegenden Bergkuppe noch nicht direkt zu sehen war. Neben der Sphäre waren die für Zielkoordinaten üblichen Daten eingeblendet.

Gefahrenklasse5
Windstärke5-6
Temperatur62
UVI71

Kurz bevor sie an der höchsten Erhebung der Insel vorbeiflogen, kamen von K-2 seine gerade in diesem Bereich erfassten Daten.

B1 schien erfreut.

»Hey, wir haben Glück! Hier kommt noch ein besonders schönes Exemplar, sogar ganz in der Nähe unserer Lichtung!«

Jerik schaute auf die Karte. Das gerade eben gemeldete Exemplar befand sich auf der flacheren Ostseite und war tatsächlich nur knapp einhundertzwanzig Meter von der Lichtung entfernt. Er markierte es als Ziel und der Kopter beschleunigte über den Grat hinweg darauf zu. Nach wenigen Sekunden waren sie schon da und bremsten wieder ab. Jerik schaute nach vorne hinaus. Zehn Meter vor ihnen stand ein riesiges Schachtelhalm-Exemplar. Mit einer Höhe von sechzehn Metern war es das bisher größte und überragte den Rest des Waldes hier um gut fünf Meter.

»Okay«, entschied Jerik, »lass uns landen! Den schauen wir uns genauer an!«

Der Kopter senkte leicht die Nase und beschleunigte wieder. Knapp zehn Sekunden später hatten sie die Lichtung erreicht. Sie durchstießen die hellblaue Sphäre, die sich während ihrer Annäherung immer weiter abgesenkt hatte und jetzt nur noch als Halbkugel die Lichtung virtuell zu überspannen schien, fast wie eine Schutzkuppel. Auch K-2 traf in diesem Moment aus Süden kommend auf der anderen Seite ein. Die Sphäre wurde nun schnell immer noch transparenter und verschwand innerhalb weniger Sekunden ganz.

B1 übergab die Kontrolle für die Landesequenz an die beiden Kopter. Jerik beobachtete die Kommunikation zwischen diesen und B1, die auch als Kommadofolge auf dem Hauptmonitor erschien.

Die beiden Kopter begannen jetzt die Lichtung langsam zu umkreisen, um die Verhältnisse am Boden genau zu scannen. Dieser war ziemlich eben und in den dort stehenden, dunkleren Wasserlachen spiegelten sich der weiße Wald und der Himmel. Auf der Westseite blitzte auch die Sonne immer wieder kurz darin auf.

Nach zwei Umrundungen stieg K-1 zunächst auf einhundert Meter über dem Höhenzug. Jerik konnte von dort gut beobachten, wie K-2 auf der sonnenbeschienenen Seite der Lichtung zu Boden schwebte, dabei langsam seine sechs Teleskopbeine ausfuhr und vorsichtig aufsetzte. Die starke Luftströmung, die von seinen Auftriebsdüsen ausging, wirbelte dabei fast alle Blätter auf der Lichtung sowie einen dichten Wassernebel auf, der rundum an den Bambusbäumen am Rande der Lichtung in die Höhe stob. K-1 schwebte in sicherer Höhe so weit darüber, dass nichts davon in die Ansaugöffnungen gelangen konnten, die wie die Düsen über die gesamte Oberfläche verteilt waren.

Nach wenigen Sekunden war die Lichtung freigeblasen. Der Wassernebel samt der hochgewirbelten Blättern wurde vom Wind über den Wald hinweg weiter nach Westen aufs Meer hinaus getrieben. Jerik zoomte hinunter und sah den Kopter jetzt inmitten einer Kolonie von ein Meter hohen, kugel- und kissenförmigen Büschen stehen, die dort gerade zum Vorschein gekommen waren. Über ihnen erschienen gerade orangefarbene Sphären, direkt neben diesen die Bezeichnung der Pflanzen 'Kali tragus'.

Jerik kannte sie schon von der zweiten Expedition. Zuerst hatte er sie für Kakteen gehalten und die Bots angewiesen, einige Exemplare auszugraben, um sie auf Finistere untersuchen zu können. Das Ergebnis war interessant. Die vermeintlichen Kakteen mit den glasigen Dornen waren eigentlich Büsche mit normal verzweigten Ästen im Inneren. Es handelte sich um eine neue Art, die laut ISA wegen der violetten und weißen Längsstreifen der Äste eine gewisse Ähnlichkeit mit einer nelkenartigen Pflanze besaßen, die früher vor allem in Steppen vorgekommen war.

Allerdings waren die daran wachsenden Blätter aus mehreren Gründen etwas Besonderes. Sie waren einerseits ebenso transparent wie die Blätter der Schachtelhalme. Zudem bildete jedes an seinem Ende einen feinen glasigen Dorn. Die geschlossen wirkende Oberfläche der Pflanzen kam daher, dass die ganz unterschiedliche Wuchslänge der Blätter diese Form vorgab und ihre dornigen Blattenden somit alle nebeneinander lagen. Die Büsche wirkten daher fast wie riesige Glasgebilde, die ihr Inneres durch eine geschlossene Oberfläche hermetisch von der Außenwelt abschotteten.

Nur auf der Unterseite, direkt um den Stamm, befand sich ein kleiner Bereich von wenigen Zentimetern Breite, in dem keine Dornen und Blätter vorhanden waren. Diese Stelle nutzten die Ameisen, die auf der Lichtung und in den Büschen lebten, als Zugang zu diesen.

K-2 sank wie erwartet beim Aufsetzen in den Morast ein. Sein Antrieb lief daher noch weiter, bis sich seine Teleskopbeine mit den tellerförmigen Füßen so dem unterschiedlich tiefen Untergrund angepasst hatten, dass sie eine Schräglage des Kopters verhinderten. Nach einigen Sekunden waren sie bis zu dreißig Zentimeter tief eingesunken. Dann stand der Kopter fest und vollkommen horizontal und meldete an K-1 das Ende seines Landevorgangs.

Während des Landevorgangs hatten die Bewegungssensoren von K-2 bereits wieder die ersten Exemplare der Ameisen detektiert, die sie schon von den ersten Expeditionen her kannten. Jerik schaute sich den Videostream an und sah, wie die Tiere schnell auf dem braunen, feinen torfähnlichen Boden zwischen den Kugelbüschen und dem angrenzenden Bambuswald hin- und herhuschten.

Laut ISA handelte es sich um eine neue Art, die zu achtunddreißig Prozent von Myrmeciinae, australischen Bulldogameisen, abstammte. Schon diese hatten Körperlängen von fünf Zentimetern erreicht, die Exemplare der neuen Art hier waren jedoch zwischen sieben und elf Zentimetern lang. Zudem waren sie geflügelt, sodass ihre Körper schwarzen asiatischen Riesenwespen ähnelte. Die Ameisen hier waren jedoch nicht schwarz wie es diese Wespen waren, sondern silbrigweiß glänzend, genauso wie der Bambuswald und die Schachtelhalme. Ihr Kopf, die Beine und die Mundwerkzeuge waren ebenfalls von feinen weißen Härchen bedeckt, die fast alles Licht reflektierten. Auf diese Weise schützten sich auch die Tiere vor der starken UV-Strahlung sowie Überhitzung. Laut ISA waren sie auch zu zweiundzwanzig Prozent mit sogenannten Silberameisen verwandt, die früher in der Sahara gelebt und denselben Schutzmechanismus verwendet hatten.

Jerik hatte auch das Gift analysiert, das sie bei Bedrohung aus dem Stachel am Ende ihres Hinterleibs versprühten. Es bestand aus einer Vielzahl verschiedener Peptide, die zur Pilosulin-Reihe gehörten. Es war damit so giftig, dass die bei einem einzigen Stich abgegebene Giftmenge leicht einhundert Menschen töten könnte.

Jerik wusste, dass sie hier mit entsprechenden Attacken rechnen mussten. Die Tiere konnten ihr Gift in einem Strahl bis zu zwei Meter weit sprühen. Schon ein winziges Tröpfchen davon in Auge, Nase oder Mund oder in eine kleine Hautverletzung würde absolut tödlich sein. Er hatte daher die notwendigen Schutzmaßnahmen getroffen und ein Antiserum entwickelt, trotz der schon für die Insel optimierten Schutzanzüge. Es war in beiden Koptern sowie im Lazarett auf dem Sub gelagert, und auch die Bots hatten Spritzen dabei, um ihm im Notfall sofort helfen zu können.

»Übel giftig, was!« fand B1.

»Ja, aber nur für mich«, antwortete Jerik, und fing schon fast wieder an, B1 zu beneiden.

«Trotz allem toll! Lass uns da runter gehen. Ich will in den Wald! Vielleicht gibt es sie ja doch irgendwo.«

Er meinte natürlich die Bienen.

Dass er hier live die Ameisen sehen konnte, sie zudem heute auch schon mit den Schachtelhalmen eine neue Pflanzenart gefunden hatten und schon bei den beiden vorangegangenen Expeditionen auf typische Brutstellen und mögliche Überreste von Bienen gestoßen waren, verstärkte in ihm die Hoffnung, weitere Entdeckungen zu machen und vielleicht doch noch auf Bienen zu treffen, eventuell sogar kleinere Kolonien.

Auch Jeriks Kopter begann jetzt den Sinkflug hinab zur Lichtung.

K-2 hatte die Luft vor Ort schon analysiert. Sie war erfüllt von Fäulnis- und Verwesungsgasen, vor allem Schwefelwasserstoff, Buttersäure und Thiolen, die überall aus dem feuchtheißen Boden entwichen, worin sie bei der Zersetzung der riesigen Mengen abgestorbener Pflanzen freigesetzt wurden. Die Werte erschienen in grellem Rot im zentralen Info-Feld in Jeriks Eyefoil, was sofort signalisierte, dass man sich hier tatsächlich nicht ohne Atemschutz aufhalten konnte.

Jerik kannte die Analysewerte auch schon von den Vorexpeditionen und wusste, dass diese Substanzen in der vorliegenden Konzentration sehr giftig waren. Jede für sich würde schon unmittelbar einen starken Brechreiz hervorrufen.

Das SSI machte daher in diesem Moment auch mit seinem typischen schrillen Warnton und grellroten, pulsierenden Atemluft-Icons darauf aufmerksam, dass es Jeriks Helm für den Außenaufenthalt soeben auf 'Deko'-Modus umgeschaltet, die Dekontaminationseinheit darin also aktiviert hatte. In seiner Eyefoil fing das blaue Deko-Symbol zu blinken an. Sie funktionierte ähnlich wie die große Deko-Anlage an Bord des Subs. Die Luft wurde dazu chemisch analysiert und Giftstoffe mit elektromagnetischen Wellen bestrahlt, die sie in ungefährliche Komponenten zerlegten. Giftige Elemente wurden ganz herausgefiltert.

»Oh Mann, das riecht ja sicher super!« meinte B1 und lachte, denn er benötigte ja keine Atemluft.

»Kein Problem für uns, oder?!« antwortete Jerik cool, »Dir kann es ja ohnehin egal sein, und ich werde mich eben auf die Deko verlassen.«

B1 nickte.

»Natürlich!«

Jerik blickte sich noch einmal kurz um, um sich zu vergewissern, dass der riesige Schachtelhalm tatsächlich das interessanteste Ziel hier war und auch von der Lichtung aus relativ leicht zugänglich. Etwas weiter unterhalb von ihrer momentanen Position wuchsen zwar auch einige große Exemplare, sogar ziemlich dicht nebeneinander, allerdings war dieser Teil der Insel hier an der Westflanke ziemlich steil, weshalb sie für ihn momentan nicht weiter in Betracht kamen.

»Okay, wir gehen runter!,« entschied Jerik und markierte die Sphäre über dem Sechzehn-Meter-Exemplar als neues Ziel, worauf diese sofort blau wurde.

»Ich schicke die Bots schon los, okay?« wollte B1 wissen, und meinte damit die Gruppe an Bord von K-2.

Sie mussten zunächst eine Schneise von sechs Metern Breite von der Lichtung aus dorthin schlagen, weil Jerik nicht einfach so durch den Wald gehen durfte. Die Bots mussten ihn dort gegen mögliche Angriffe gefährlicher Tiere schützen können, was ausreichend freie Sicht und genügend Platz in seiner Umgebung erforderlich machte.

Jerik beobachtet, wie der Kopter unten auf der Lichtung soeben seine Heckklappe herunter ließ. Sie stoppte kurz bevor sie die Kugelbüsche berührt hätte in horizontaler Position. Sofort erschienen die vier Bots in ihren weißen Schutzanzügen in der Luke und glitten geschmeidig fast gleichzeitig über die Klappe hinunter auf die Lichtung, wo sie ganz gezielt zwischen den Büschen aufkamen. Jeder hatte einen großen Ultraschall-Cutter in der rechten Hand, um damit gleich die Bambusstämme entfernen zu können und so die Schneise zu dem riesigen Schachtelhalm anzulegen. Mit geschmeidigen Bewegungen liefen sie weiter auf den im Schatten liegenden Ost-Rand der Lichtung zu, wobei bei jedem ihrer Sprünge das Wasser aus dem vollgesogenen Torfboden weit zur Seite spritzte.

»Okay,« meinte B1,« ich denke, wir können auch.«

Es war 7: 48 Uhr.

Die Bots waren unten gerade schon im Wald verschwunden. Sie würden von nun an wie eine einzige Maschine zusammenarbeiten, um die Bambusstämme im Sekundentakt vom Boden abzutrennen und diese gleichzeitig zu zerlegen und zur Seite zu schaffen.

Doch dazu kam es nicht mehr.

In Jeriks Eyefoil wurde in diesem Moment der Hinweis auf eine sogleich eingehende Kategorie-1-Nachricht eingeblendet, was bedeutete, dass diese nicht einfach zu Seite geschoben werden konnte, um sie später zu lesen. Es musste also etwas sehr Wichtiges sein.

»Warte! Oh Mann! Hinchiranan! Wichtige Nachricht!« las er B- 1 vor.

Pussana Hinchiranan war die Chefin der CC- und FF-Labore auf Byrd Island und Finistere und damit Jeriks direkte Vorgesetzte. Dass sie sich auf diese Weise bei ihm meldete, war noch nie vorgekommen und Jerik wusste sofort, dass nur gravierende Veränderungen an den geplanten Aktivitäten der Grund dafür sein konnten.

Selbst B1 schien verblüfft und zog die Augenbrauen hoch.

»Hoppla, was liegt an, sind wir umsonst so früh aufgestanden? Hat sie das Projekt gestrichen? Oder geht es jetzt erst richtig los? «

»Das war's wohl für heute«, prognostizierte Jerik, und er hatte Recht.

Hinchiranan schickte gerade schon die neue Order.

Streng geheim !!!

Expedition auf Isla Deceit sofort beenden!

Benötigen Deine Unterstützung!

Schnellstmögliche Rückkehr nach Byrd Island!

K-2 und Besatzung können Untersuchungen auf Isla

Deceit wie geplant heute noch weiterführen.

Rückkehr heute Nacht mit Sub!

Dein Neues Ziel: São Tomé / West-Afrika.

Ende der Nachricht

»Wir fliegen zurück«, antwortete Jerik. »Sofort! Byrd Island.«

»Mehr darf ich nicht sagen.«

Jerik legte den Helm ab und strich sich leicht verärgert mit beiden Händen über die kurzen, fast schwarzen Haare. Sein Gesicht wirkte jetzt noch schmaler als sonst.

»Meiner Einschätzung nach ist es eine positive Nachricht.«, fand B1. »Auch wenn Du das gerade offensichtlich nicht so siehst!«

Er hatte Jeriks sehr nachdenkliche Miene registriert.

»Was soll ich sagen?«, gab dieser mit einem resignierten Lächeln zurück. »Bei Hinchiranan ist immer alles 'positiv'!«

Er schüttelte den Kopf und hob beide Hände zu einer Geste der Hilflosigkeit.

Sie war für ihren unerschütterlichen Optimismus bekannt, mit dem sie grundsätzlich allem etwas Positives abgewann. Selbst wenn sie sich irrte, was selten der Fall war, weil ihre Entscheidungen immer extrem klar durchdacht waren, schätzte sie den damit verbundenen Erkenntnisgewinn sehr hoch ein.

Jerik kam daher auch gar nicht auf die Idee, Widerspruch einzulegen, um länger auf der Insel bleiben zu können.

Er war jetzt sehr gespannt darauf von ihr erfahren, was ihr neuer Plan war. Nach seiner ersten Enttäuschung war er sich inzwischen eigentlich sicher, dass dieser letztlich auch in seinem Sinn sein würde.

»Regle das bitte mit K-2 und der Crew«, wies er B1 an.

»Sie sollen heute noch weitermachen wie geplant. Ich will die üblichen Proben! Vor allem sollen sie auf Bienen achten! Die sind das Wichtigste!«

»Wǒ tóngyì nǐ!« stimmte B1 zu, diesmal auf chinesisch, was er genauso wie englisch verwendete, und gab Jeriks Befehle an die Bots in K-2 und das Sub weiter.

»Ich bleibe noch etwas drauf«, erklärte Jerik.

Wie schon bei den ersten Expeditionen würde er auch jetzt während des Flugs die Aktionen und möglichen Entdeckungen der Bots über seine Eyefoil mitverfolgen.

Der Kopter drehte auf der Stelle in Richtung Süden und beschleunigte mit dem typischen Fauchen seiner verschiedenen Düsen. Kurz darauf war Jerik mit siebenhundertsiebzig Stundenkilometern auf Kurs Byrd Island, Antarktika. Auf dem Display erschien die genaue Position des Ziels:

CC-Lab

Byrd Island, Antarktika

76°45'2.53"S, 144°17'50.30"W

ETA 12: 36 SAT

Fixin

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