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12. Februar 2203

Europa / Svalbard

Svalbard, die auf halber Strecke zwischen Europa und dem Nordpol liegende Inselgruppe, war neben Antarktika die einzige Region der Erde, die heute noch bewohnt war.

Heute würde hier auf dem neunundsiebzigsten nördlichen Breitengrad die Polarnacht zu Ende gehen, die Sonne also nach vielen Wochen zum ersten Mal wieder über den Horizont kommen.

Jia Giacomelli hatte die Schutzkuppel des Forschungsinstitutes zusammen mit einigen anderen aus dem Labor für einen kurzen Aufenthalt im Freien durch die Sicherheitsschleuse verlassen.

Die Wetterbedingungen erlaubten selbst hier in Svalbard nur selten, ohne Schutzkleidung nach draußen zu gehen. Im Moment jedoch war der Wind ungewöhnlich schwach, der Himmel nur wenig bewölkt und die Luftqualität war mit Werten im gelbgrünen Bereich ziemlich gut.

Jia gehörte der hier beschäftigten Forschungselite von Nature-Scientists an, die sich der Wiederherstellung der Lebensbedingungen auf der Erde verschrieben hatten. Sie nannten ihr Projekt 'Fixin', ein Kunstwort, wie viele heute verwendete Begriffe, das von den chinesischen und amerikanischen Gründern des Projekts aus 'Fùxīng' und 'Fixing' zusammengesetzt worden war, was soviel wie Wiedergeburt und Reparieren bedeutete.

Das Projekt bestand aus zwei großen Teilprojekten. Hier in Svalbard befanden sich die Forschungseinrichtungen des CC-Projekts, in dem Meeresalgen erforscht wurden, die als Grundlage für ein intaktes Klima benötigt wurden.

Der Standort auf dieser abgelegenen, nördlichsten Inselgruppe war gewählt worden, weil sich hier auf der Hauptinsel immer noch der erste globale Gen-Tresor befand, der aus der Zeit vor der Klimakatastrophe stammte. In dieser Anlage hatten viele Pflanzensamen und Mikrolebewesen bis heute überleben können. Zudem war Svalbard mit seiner riesigen Entfernung von Antarktika gut vor Sabotage geschützt, was von höchster Bedeutung war, denn das Projekt hatte viele Gegner in der Bevölkerung.

Der zweite wichtige Forschungsbereich befasste sich mit Flora und Fauna, also der Pflanzen- und Tierwelt, wie sie einmal auf den alten Kontinenten existiert hatte. Sie nannten es abgekürzt daher auch das FF-Projekt. Darin wurde versucht, alte Arten an neue Lebensbedingungen anzupassen, wie es sie möglicherweise in Zukunft geben könnte.

Der Hauptstandort des FF-Projekts befand sich auf Finistere, einer Insel in der nördlichsten Region Antarktikas, ebenfalls weit abgelegen vom antarktischen Festland.

Die kleine Gruppe hatte sich bis etwa zwanzig Meter Entfernung von der flachen Schutzkuppel vorgewagt, die den gesamten Gebäudekomplex bis zum Boden überspannte und so rundum hermetisch von der Außenwelt abschirmte.

Alle blickten jetzt gespannt über die leere, graubraune Felswüste zum südlichen Horizont. Die dort gelegene Bergkette erschien als dunkle Silhouette unter dem schon sehr hell orangeviolett leuchtenden Himmel. In wenigen Minuten würde zwischen zwei der 'Blue End'-Gipfel, wie sie diese nannten, zum ersten Mal wieder ein kleines Stück der Sonne zu sehen sein.

Dies war ein besonderes Ereignis, denn nach dem Eingeschlossensein in der Svalbard-Anlage während der langen Dunkelperiode, sehnten sie sich nach Abwechslung von der sterilen Umgebung der Labore.

Anders als die Städte in Antarktika war dieser Außenposten der Zivilisation weder mit einem künstlichen Himmel noch einem der wunderschönen Naturparks ausgestattet. Svalbard war ein reiner Forschungsstandort. Antarktika dagegen bot seinen Bewohnern natürlich die verschiedensten Annehmlichkeiten, sodass sie die Polarnacht kaum wahrnahmen.

Die Bergspitzen der Umgebung und die weiße Kuppel der Anlage wurden jetzt schon von den ersten rötlich violetten Strahlen getroffen und zum Leuchten gebracht. Wenige Sekunden später erschien der obere Rand der Sonne am Horizont. Jia lief beim Anblick des gleißenden Lichts ein angenehmer Schauer über den Rücken, auch wenn sie wusste, dass von der extremen UV-Strahlung Gefahr für die ungeschützten Hautpartien ausging. Die Anzeige ihrer Eyefoil schnellte auch sofort auf den Wert von sechzehn und begann rot zu blinken. Der UV-C-Index lag also gefährlich hoch.

Obwohl auch sie versucht war, den Anblick noch einige Sekunden länger zu genießen, ging sie wie alle anderen schnell wieder zurück zur Schleuse. Auf dem Weg dorthin schaute sie noch einmal kurz zurück. Ihre Nase und Lippen fühlten sich schon heiß und trocken an, wie bei einem Sonnenbrand.

Ich hätte doch Helm und Schutzanzug anlegen sollen!, dachte sie.

Sie nahm einen tiefen Zug aus ihrer Fresh-Air und begab sich wieder in den Schutz der Anlage. Nachdem sie das nahe gelegene Gebäude erreicht hatte, in dem sie arbeitete, ging sie hinunter zum Labor im zweiten Untergeschoss. Dort befanden sich die großen, geschlossenen Meerwassertanks, in denen ihre technisch bisher fortgeschrittensten Algen-Experimente abliefen. Jia checkte den Status des aktuellen Tests, der hier seit Tagen lief.

Nach acht Wochen in Svalbard war sie froh, morgen zurück nach Antarktika zu fliegen, auch wenn der Grund die nach wie vor ungelösten und sehr bedrohlichen Probleme waren.

Svalbard war aus historischen Gründen einer der Hauptsitze ihres Projekts. Hier war vor über zweihundert Jahren, also schon zu Beginn der Klimakatastrophe, eine Art Arche Noah im damals noch vorhandenen Dauerfrostboden errichtet worden.


Die Inselgruppe war zu dieser Zeit von mächtigen Gletschern und Schnee bedeckt gewesen, der felsige Boden darunter bis in große Tiefe das ganze Jahr über minus achtzehn Grad kalt. In diesem Permafrost herrschten vermeintlich für alle Zeiten ideale Bedingungen zur Konservierung von Pflanzensamen. Die Nature-Scientists dieser Zeit hatten daher Millionen Exemplare aus der ganzen Welt gesammelt und klimatisierte Räume in tiefen Stollen eines Berges angelegt, um sie dort vor Wärme zu schützen. Es war der Weitsicht der Planer zu verdanken, dass sie die Anlage weit oberhalb der Wasserlinie gebaut hatten. So wurde sie nicht sofort überflutet, als der Meeresspiegel im Jahre 2035 in unvorstellbarem Tempo zu steigen begann und Sturmfluten die Küstenregionen mehr und mehr unbewohnbar machten.

Ob und in welchem Ausmaß dies überhaupt jemals eintreten würde, hatte zuvor natürlich niemand genau gewusst. Die meisten gingen wohl eher davon aus, dass durch die Erwärmung der Erde nur die eine oder andere Tier- und Pflanzenart aussterben würde und das Abschmelzen des antarktischen und grönländischen Eispanzers erst in tausenden von Jahren stattfinden würde. Dass bald alle Kontinente, mit Ausnahme von Antarktika, unbewohnbar sein würden, hätte damals kaum jemand für möglich gehalten.

Innerhalb weniger Jahrzehnte stiegen die Temperaturen durch eine Kaskade vollkommen unvorhergesehener Rückkopplungsprozesse jedoch weltweit auf extrem hohe Werte. Dies zerstörte alles Leben auf den alten Kontinenten.

Die Eispanzer der Antarktis und Grönlands sowie alle Permafrostböden schmolzen sehr schnell vollständig ab, auch in den Hochgebirgen, was den Meeresspiegel um fünfundneunzig Meter ansteigen ließ.

Weil sich die zuvor eisbedeckten Landmassen wegen der Entlastung des Untergrunds auch heute noch hoben, kam es dort ständig zu Erdbeben als auch Bergstürzen gewaltigen Ausmaßes. Die Beben hatten oft eine Stärke von 10,0, und wenn sie im Küstenbereich auftraten, was sehr häufig der Fall war, lösten sie riesige Flutwellen aus, genauso wie die enormen Felsmassen, die sich durch die Beben lösten und ins Meer abstürzten.

Die so in Grönland ausgelösten Wellen jagten über den Nordatlantik und donnerten als bis zu sechzig Meter hohe Tsunamis auch gegen Svalbards Küste. Die Gen-Tresor-Anlage, die sich an einem Fjord der Westküste befand, lag nun unglücklicherweise genau an einer der am schlimmsten betroffenen Regionen und war dadurch in höchster Gefahr.

Um den wertvollen Inhalt vor der Zerstörung zu bewahren, wurde schon während des Zusammenbruchs der alten Welt eine neue Anlage errichtet. Um sie auf lange Sicht auch vor den weiter steigenden hohen Temperaturen zu schützen, war sie mit riesigen Kühlsystemen ausgestattet und lag an einem der wenigsten heißen Orte der Insel auf eintausend Metern Höhe.

Von ganz besonderer Bedeutung und für sie alle heute vielleicht sogar lebensrettend war, dass dort auch Reservoire für Kleinstlebewesen der Meere errichtet worden waren. Diese konnten wie die Millionen Pflanzensamen bis heute konserviert und am Leben erhalten werden.

Diese zweite Anlage war glücklicherweise selbst im Krieg während der Klimakatastrophe vor Zerstörung bewahrt geblieben, weil alle kriegführenden Parteien an ihrer Unversehrtheit interessiert gewesen waren. In der Zeit danach, während des Aufbaus von Antarktika, wurde die Anlage mit größter Sorgfalt weiter aufrechterhalten. Selbst heute noch wurde sie aus Sicherheitsgründen parallel zu den Laboren in Byrd Island in Antarktika betrieben und immer wieder auch erweitert.

Die Erhaltung der hier konservierten Pflanzen war für viele Jahre eines der wichtigsten Vorhaben überhaupt, denn sie waren für die Besiedlung von Antarktika und die Ernährung seiner Bevölkerung überlebenswichtig. Die riesige Entfernung zwischen Svalbard und Antarktika war dabei anfangs ein großes Problem.

Die Distanz von fast zwanzigtausend Kilometern konnte damals nur mit U-Booten überwunden werden, denn Flugzeuge waren wegen der extrem starken Stürme vor allem bei Start und Landung nicht mehr beherrschbar. Aus diesem Grund wurde versucht, so schnell wie möglich auch in Antarktika einen Gen-Tresor aufzubauen. Dazu war schon in den 2120er Jahren die Forschungsanlage auf Byrd Island gegründet worden, einer weit vom Festland abgelegenen und unbewohnten kleinen Insel. Alle in Svalbard existierenden Arten wurden vermehrt und in den dort neu aufgebauten Gen-Tresor gebracht. Im Gegensatz zu der von da an auch in Byrd Island betriebenen Forschung wurden die aktuellen Experimente wegen der für sie erhöhten Sabotagegefahr jedoch nur auf Svalbard durchgeführt. Dieser Standort war unerreichbar für Personen, die nicht absolut hinter dem Projekt standen.


Am nächsten Morgen wurde Jia wie immer in ihrer kleinen Svalbarder Wohnung von den sanften Bewegungen ihres Bettes geweckt. Nach einer Weile öffnete sie die Augen. In der absoluten Dunkelheit ihres Zimmers tanzten die türkisfarbenen, violetten und orangeroten Schleier der Polarlichter an der Decke, deren Bilder live von den Kameras außerhalb der Schutzkuppel kamen und jetzt über ihr vollkommen realistisch wiedergegeben wurden.

Ein paar Minuten schaute sie dem Farbspiel zu, schwang sich dann aus dem Bett und setzte die Eyefoil auf, um sich als erstes den Status der Experimente anzeigen zu lassen, die über Nacht im Labor weitergelaufen waren.

Leider hatte sich nichts verändert.

Die Eyefoil war eine 'Augmented Reality'-Datenbrille, die zur Grundausstattung des täglichen Lebens gehörte. Alle trugen sie den ganzen Tag, denn sie diente zugleich als universelles Kommunikationsmedium wie auch als Informations- und Steuerzentrum.

Sie ähnelte einer stark überdimensionierten Sportbrille, wie man sie früher gerne trug und bedeckte einen Großteil des Gesichts, von der Mitte der Stirn fast bis zum Mund. Ihre Form war leicht gewölbt, wie aus einer großen Kugel ausgeschnitten und legte sich mit einer Aussparung für die Nase eng um die obere Gesichtshälfte. Dabei verlief sie auch zu den Seiten hin in dieser Breite und ohne Unterbrechung über Schläfen und Wangenknochen weiter, war also aus einem einzigen Stück ohne Scharniere oder Rahmen, um das Blickfeld nirgends einzuschränken. Erst kurz vor den Ohren wurde sie schmal und bildete einen Halbkreis um die äußeren Gehörgänge. Auch dieser Teil war für jede Person individuell angepasst, nicht nur um einen sehr guten Halt zu erreichen, sondern auch, weil dort die Audioeinheit saß, die ebenfalls mit AR-Funktionen ausgestattet war und optimalen Ton lieferte. Da die Eyefoil aus einer nur ein Millimeter starken Folie eines LCP-Hochleistungspolymers bestand, war sie superleicht und trotzdem extrem stabil.

Ihre Außen- und Innenseite spiegelte in allen Regenbogenfarben, wenn man sie entsprechend ins Licht hielt und solange sie nicht eingeschaltet war. Diese Farben kamen durch die mikroskopisch kleinen Pixel zustande, die auf der Außenseite der Bildaufnahme dienten und auf der Innenseite die Lichtstrahlen so ins Auge lenkten, dass darin das berechnete Bild erzeugt wurde.

Ihre Funktionsweise war einfach. Die bei der Bildaufnahme anfallenden Daten wurden an Rechner weitergeleitet, mit denen die Eyefoils permanent drahtlos verbunden waren. Diese Rechner gehörten heute generell der Quasarklasse an. Es handelte sich dabei um Quantencomputer, die jede Aufgabe quasi momentan erledigen konnten, da die auf ihnen laufenden Algorithmen aufgrund der Quantennatur alle Berechnungen gleichzeitig ausführen konnten, im Gegensatz zu den ersten Computern, die diese nur hintereinander abarbeiten konnten, was milliarden- und billiardenfach länger dauerte.

Die Quasarrechner erzeugten so ein perfektes Bild der Umgebung und schickten dieses einschließlich aller relevanten und gewünschten Zusatzinformationen verzögerungsfrei zurück an die Eyefoils.

Die meisten nutzten ihre Eyefoil ausschließlich in den beiden Standard-Modi 'Normal' und 'Real'.

Im Realmodus erschien die Umgebung exakt wie mit bloßem Auge, wobei auch wichtige Informationen angezeigt werden konnten. Im Normalmodus wurde alles entsprechend dem persönlichen Profil und den darin eingestellten Vorlieben und mit optimaler Klarheit und Helligkeit dargestellt. Selbst bei völliger Dunkelheit konnte man in dieser Einstellung alles deutlich wie bei Tageslicht erkennen.

Die Eyefoil diente natürlich auch der Video- und Audiokommunikation. Die von ihr erzeugten Bilder konnten an andere weitergestreamt werden, genauso wie sie über ihre Audiofunktion Gespräche möglich machte. Der Ton war hervorragend, denn alle Störgeräusche wurden sowohl durch die Algorithmen als auch durch ein passendes Korrekturschallfeld völlig unterdrückt.

Als Mikrofon diente die gesamte Oberfläche der Eyefoil, die so aus allen Richtungen Schallwellen aufnehmen konnte.

Darüberhinaus diente sie als Steuerzentrum für die verschiedensten Funktionen, die man ausführen wollte. Diese konnten in Form von Symbolen angeboten werden, die je nach Art, Thema oder Wichtigkeit in bestimmten Sektoren im Blickfeld der Eyefoil angezeigt wurden und über Finger- und Handbewegungen aktiviert werden konnten. Dazu wurden diese von den in der Eyefoil vorhandenen Tracker-Algorithmen permanent verfolgt und analysiert, um sie mit den Symbolen zu koordinieren und die gewünschten Befehle auszuführen.

Die zum Betrieb notwendige Energie bezogen die Eyefoils, wie auch die Quasarrechner und alle anderen Geräte und Maschinen, über die überall vorhandenen Ladepunkte des Energienetzes, mit denen sie sich bei Bedarf drahtlos verbanden und in Sekundenschnelle wieder aufluden. Diese Energie wurde völlig klimaneutral von Fusionsreaktoren erzeugt, die überall in kompakter Form vorhanden waren.

Jia war ziemlich enttäuscht, obwohl sie schon damit gerechnet hatte, dass auch die gestern gestarteten Tests wieder negativ verlaufen würden. Trotz einer erneut verbesserten Giftresistenz waren wieder alle Algen abgestorben, wenn auch ein paar Mikrosekunden später als bisher.

Die Algen in ihren Versuchen stammten von den alten Arten aus der Zeit vor der Klimakatastrophe ab und hatten besondere Fähigkeiten, die sie dringend für ihr Projekt benötigten.

Allerdings starben sie im Meerwasser sofort ab, da dieses wegen der heute darin lebenden Algenarten für sie tödlich war. Diese produzierten zur Abwehr konkurrierender Algen extrem starke Gifte. In vielen Regionen der Ozeane war das Meerwasser dadurch so gefährlich wie früher die stärksten Schlangengifte. Von einigen Algengiften wurden diese sogar noch übertroffen, nur die Verdünnung durch das Meerwasser reduzierte die Wirkung wieder etwas.

Seit Monaten arbeitete Jia zusammen mit anderen hervorragenden Nature-Scientists an einer Gensequenz, mit welcher sie die mikroskopisch kleinen Lebewesen gegen diese Gifte resistent machen konnten.

Leider hatten sie bisher damit bestenfalls nur ansatzweise Erfolg gehabt. Das gesamte Projekt stand womöglich kurz vor dem Scheitern, wenn sie hier nicht bald einen Durchbruch erzielen würden.

Dabei waren sie in dem anderen wichtigen Punkt, nämlich der CO2-Aufnahme, vor kurzem erst sogar erfolgreich gewesen. Nur diese letzte Hürde schien unüberwindlich.

Jia hatte jetzt noch genügend Zeit für ihr fünfzehnminütiges, morgendliches Fitnessprogramm, bevor sie zum Hyperport fahren würde. Sie schlüpfte schnell in ihre V-Schuhe, die sie immer bei Simulationen trug, um den Eindruck des Gehens oder Laufens auf realem Untergrund zu erzeugen, ohne sich tatsächlich mehr als einen Meter von der Stelle zu bewegen.

Sie begab sich in die Mitte ihres Hauptwohnraumes, wo sie ausreichend Platz dafür hatte. Dann klickte sie auf die virtuelle Schaltfläche für ihre Lieblingsstrecke.

Mit ihrer Eyefoil tauchte sie sofort ein in die Szenerie einer kleinen karibischen Insel. Diese war mit ihrem üppigen Grün, der unendlichen Zahl farbenreicher Blüten und dem blauen Ozean so wunderschön wie immer. Jia blickte sich kurz um. Unterhalb zu ihrer Linken erstreckte sich eine schmale Bucht nach Osten, die von hunderten schlanken Palmen gesäumt war. Im türkisblauen Wasser glitzerte die Sonne in tausenden kleinen Sternen und leichte Wellen plätscherten an den weißen Sandstrand, nur etwa fünfzig Meter von Jia entfernt. Für einen Augenblick spielte sie mit dem Gedanken, dort schwimmen zu gehen, aber im nächsten Moment ließ sie diesen wieder fallen, denn natürlich funktionierte das nicht mit der Ausrüstung, die sie gerade trug. Sie wandte sich wieder von dieser Seite der Insel ab und sah den Naturpfad vor sich, den sie so mochte. Er verschwand schon nach wenigen Metern in der dichten, tropischen Vegetation und führte hinauf in die Hügellandschaft, von wo es immer wieder fantastische Ausblicke gab.

Die Bilder, die Jia in ihrer Eyefoil sah, wurden von den Algorithmen aus zweihundert Jahre alten Daten rekonstruiert und so animiert, dass nicht nur die Bewegung der Blätter im Wind und die Wellen auf dem Wasser zu sehen waren, sondern überhaupt jedes noch so kleine Detail. Die gesamte Szenerie war jedoch nicht nur visuell absolut realistisch und wäre von einem wirklichen Aufenthalt vor Ort nicht zu unterscheiden gewesen. Die perfekte Illusion wurde vom VG erzeugt, einem V-Generator, der alle weiteren Umweltbedingungen simulierte.

Als Jia in lockerem Tempo loslief, spürte sie sofort den warmen, leichten Gegenwind in den Haaren und auf ihrer Haut. Zum leichten Luftstrom erzeugte der VG über elektrische Felder dort auch ein angenehmes Kribbeln.

Hinzu kamen reale Substanzen, die er versprühte und die zur jeweiligen Szenerie passten. Mit tiefen Atemzügen sog sie den typischen Geruch des Meeres und den süßen Duft der Pflanzen ein. Schon nach kurzer Strecke wurde sie deutlich munterer.

Sie klickte einen vorgeschlagenen Soundtrack an. Die fröhlichen karibischen Klänge wirkten zusätzlich entspannend und verstärkten gleichzeitig ihr Lauferlebnis. Sie empfand plötzlich wieder die tiefe Sehnsucht nach intakter Natur.

Anders als sonst gingen ihr die Probleme im Labor heute aber nicht aus dem Kopf.

Nach ihrem Lauf und einigen abschließenden Tai-Chi-Chuan-Übungen ging sie ins Bad, um sich frisch zu machen.

»Was passt am besten zum heutigen Reisetag?«, fragte sie Aida, ihren persönlichen Bot.

Sofort entstand in zwei Metern Entfernung ein Hologramm, das sie realistisch wie ein dreidimensionales Spiegelbild mit dem vorgeschlagenen Outfit zeigte, ihrem graublauen seidig glänzenden Anzug mit weißem Top und den weißen klimatisierten Softboots. Sie nickte kurz, worauf Aida zum Schrank ging und die gezeigten Kleidungsstücke und den für sie gepackten Backpack holte. Nach zwei Bāozis und einer Tasse Tee verließ sie pünktlich ihre Wohnung, die ihr hier im Wohnkomplex zur Verfügung stand, so wie allen Nature-Scientists, die nur zeitweilig in Svalbard arbeiteten. Die Shuttle-Station war in nur zwei Minuten zu Fuß erreichbar.

Der Shuttle fuhr in einem Tunnel einschließlich eines kurzen Stopps direkt zum Flughafen, der in der Zentralregion der Insel lag. Für die einhundert Kilometer lange Strecke benötigte er fünfzehn Minuten.

Drei Stunden Flug lagen heute vor ihr. Jia wusste schon, dass ein ganz neues Modell eines Hypersonics auf der Strecke eingesetzt wurde. Es würde fast doppelt so schnell sein wie alle Maschinen, die sie kannte, und in noch größerer Höhe fliegen. Sie freute sich darauf, denn von dort aus konnte man schon die Krümmung der Erdoberfläche erahnen. Früher wäre sie am liebsten Astronautin geworden, aber es gab keine Projekte mehr auf dem Mond, dem Mars und im Erdorbit, außer für Bots, die Satelliten warteten.

Die Hypersonics gab es erst seit knapp vierzig Jahren. Sie wurden seitdem auf allen Langstrecken eingesetzt, nicht nur für die 20.000-Kilometer-Strecke Antarktika-Svalbard. Sie verbanden auch weit auseinanderliegende Städte an Antarktikas Küste. Zuvor waren auch dort nur Subs unterwegs gewesen, die U-Boote, die auch zwischen den antarktischen Inseln eingesetzt wurden. Bis Svalbard hatte man damit fast zwei Wochen benötigt.

Das Fixin-Projekt war im Jahr 2122 gegründet worden, nachdem die Lage in Antarktika dies erlaubte. Denn nach dem Krieg und der Flucht auf den fast leeren Kontinent mussten dort natürlich zuerst alle überlebensnotwendigen Infrastrukturen aufgebaut werden. Das Ziel der Nature-Scientists war jedoch immer auch gewesen, die Erde schnellstmöglich wieder abkühlen zu lassen und das Klima in seinen alten Gleichgewichtszustand zu versetzen, so wie er sich in den Millionen Jahren zuvor eingependelt hatte.

Das CC-Projekt, in dem Jia arbeitete, hatte genau dies zum Ziel. Das Kürzel CC war abgeleitet aus den beiden zentralen Begriffen ihrer Forschung, CO2 und Coccolithophore. CO2 war die chemische Formel für Kohlendioxid, also das Treibhausgas, das die Klimakatastrophe ausgelöst hatte und von dem sie den größten Teil wieder aus der Atmosphäre entfernen mussten.

Coccolithophore war der wissenschaftliche Name einer besonderen Art von Kalkalgen. Diese hatten die Eigenschaft, eine Art Schuppenpanzer aus kleinen Kalkplättchen zu bilden, die sie vor Fressfeinden schützten und ihnen Stabilität verlieh. Schon frühere Nature-Scientists hatten herausgefunden, dass diese Algen ideal geeignet waren, um daraus eine neue Art zu erzeugen, die CO2 in jeder gewünschten Menge und in sehr kurzer Zeit aus der Atmosphäre entfernen konnte. Sie nannten diese neue Art 'Proto'. Der Trick bei ihr war, dass sie das CO2 in ein festes chemisch stabiles Material umwandeln konnte, das nach dem Absterben der Alge zusammen mit ihr zum Meeresboden sank und für alle Zeit dort verblieb.

Jia forschte schon seit fünf Jahren an diesen Algen. Sie hatte erst kurz davor an der Universität von Montecito ihren Abschluss als Nature-Scientist mit Schwerpunkt Biologie gemacht. Als beste Absolventin seit langem hatte sie die Position im Fixin-Projekt sofort bekommen, das grundsätzlich nur die Allerbesten aufnahm.

Zusammen mit ihrer Kollegin und Freundin Gaia Zhen, Nature-Scientist mit Schwerpunkt Bio-Chemie, war sie heute maßgeblich an der Entwicklung der neuen Protoalge beteiligt.

Schon vor zwei Jahren war es ihnen durch gentechnische Veränderung gelungen, die Photosynthese in diesen alten Kalkalgen deutlich zu steigern. Dies war eine äußerst wichtige Voraussetzung für ihr Projekt, weil dieser Vorgang pflanzlicher Energiegewinnung auch Sauerstoff freisetzte. Dieser wiederum war überlebenswichtig für Menschen und Tiere. Weil alle Algen, die heute Sauerstoff produzierten, im Laufe des Projekts vernichtet und durch die Protoalgen ersetzt würden, war es daher dringend nötig, dass diese ebenfalls dazu in der Lage waren.

Die heute existierenden Algen waren seit über einhundert Jahren die einzig verbliebene Sauerstoffquelle auf der Erde, nachdem in der Frühphase der Klimakatastrophe alle Landpflanzen verbrannt und alle alten Algenarten aus den zu warm gewordenen Meeren verschwunden waren.

Wieso die Menschen diesen Verlust riskiert und sich nie Gedanken gemacht hatten, woher der Sauerstoff eigentlich stammte, den sie andauernd einatmeten, um nicht innerhalb von ein paar Minuten zu ersticken, wurde von den meisten der heute Lebenden als größte Fehlleistung der Menschheit angesehen.

Die neben den Algen wichtigsten Sauerstoffquellen, die Nutzwälder Europas und Nordamerikas, sowie die Urwälder in Südamerika, Zentralafrika, Südostasien und Sibirien, konnten damals nicht wieder aufgeforstet werden oder von sich aus wieder nachwachsen, weil junge Pflanzen zu diesem Zeitpunkt schon nirgends mehr überleben konnten. Sie fielen extremen, Wochen und Monate andauernden Dürreperioden und Überflutungen zum Opfer, verdorrten also oder wurden von den Fluten ertränkt oder mitgerissen.

Ohne jegliche Vegetation verschwanden auch alle Landtiere.

In den Meeren war die Situation nicht besser, nachdem schon vor über einhundert Jahren auch darin alle Ökosysteme gekippt waren. Alle bisherigen Algen waren damals von hitzeresistenteren Arten verdrängt worden. Es war dabei ein unglaublicher Glücksfall, dass diese ebenfalls Sauerstoff produzierten, auch wenn es deutlich weniger als bisher war. Ansonsten wären alle Menschen und Tiere schon lange erstickt.

Doch vor drei Jahren hatten die Algorithmen eine höchst erschreckende Vorhersage gemacht, die ein Ende dieser Phase bedeutete. Tatsächlich bahnten sich seit wenigen Monaten dramatische Veränderungen an, da die Erwärmung der Erd- und Meeresoberfläche auch heute noch fortschritt.

Der Grund hierfür war, dass der kühlende Effekt kalten Tiefseewassers auf das aufgeheizte Oberflächenwasser immer geringer wurde, denn Meeresströmungen sorgten seit Jahrzehnten für eine Durchmischung und daher eine immer weiter ansteigende Erwärmung dieses Kältereservoirs und damit der Ozeane insgesamt.

Die dadurch schrumpfenden Lebensräume hatten die Meeresalgen zu einem zunehmend härteren Konkurrenzkampf gezwungen. Schon seit Jahrzehnten produzierten sie daher immer noch stärkere Gifte, um sich gegenseitig von der Meeresoberfläche zu verdrängen und so die dort vorhandene energiereiche UV-Strahlung für ihren raffinierten Stoffwechsel nutzen zu können. Denn mit diesem konnten sie sowohl diese Gifte als auch spezielle chemische Stoffe produzieren.

Sie benötigten beides in gigantischen Mengen. Letztere gaben sie in winziger Tröpfchenform in die Atmosphäre ab, weshalb man diese als 'Aerosole' bezeichnete, also in der Luft gelöste Schwebeteilchen. An diesen kondensierte der Wasserdampf der Luft, sodass sich Wolken bildeten, was wiederum zur Abkühlung der Meeresoberfläche und auch der Algen führte.

Deren Wettstreit untereinander war bis heute jedoch schon so weit eskaliert, dass, wie von den Algorithmen prognostiziert, die erste Art, Oszillatoria, sogar diese lebensnotwendige Eigenschaft aufgegeben hatte, um stattdessen ein noch stärkeres Gift als bisher produzieren zu können. Mit diesem war sie jetzt zwar in der Lage, ihre Konkurrenten viel stärker zu verdrängen, allerdings konnte dieser Vorteil nur von kurzer Dauer für sie sein. Längerfristig zerstörte sie dadurch auch ihre eigene Lebensgrundlage, weil sie ja jetzt von der kühlenden Wirkung der Aerosole der anderen Algen abhängig war, die sie jedoch gerade im Begriff war, zu zerstören.

Diese fatale Folge zögerte sich momentan nur deswegen noch hinaus, weil die anderen Arten immer noch ausreichend Aerosole produzierten. Es war jedoch nur noch eine Frage der Zeit, bis diese Arten von den neuen und noch stärkeren Giftstoffen Oszillatorias so weit zurückgedrängt sein würden, dass sie nicht mehr für ausreichende Kühlung sorgen konnten. Oszillatorias Strategie würde also nicht nur alle anderen Algenarten zum Verschwinden bringen, sondern ihr selbst zum Verhängnis werden, da auch sie den steigenden Temperaturen irgendwann nicht mehr standhalten könnte. Weil die Algen die einzigen und letzten Sauerstoffproduzenten waren, wäre damit auch die Lebensgrundlage für die Menschheit vernichtet.

Es ging bei ihrer Forschung daher nicht mehr nur um langfristige Ziele, sondern plötzlich um die wichtigste Aufgabe, der sich die Menschheit je hatte stellen müssen. Das CC-Projekt hatte so absolute Priorität vor allen anderen Forschungsaufgaben bekommen. Nach den neuesten Prognosen der Rechner blieben höchstens noch zwei Jahre, um den drohenden Erstickungstod abzuwenden. Tatsächlich lag die Temperatur an der Meeresoberfläche inzwischen an immer mehr Stellen schon über dem kritischen Wert.

Jia und ihrer Kollegin Gaia war es glücklicherweise schon vor längerem gelungen, die Coccolithophoren genetisch so zu modifizieren, dass diese tatsächlich sehr schnell jede gewünschte Menge Kohlendioxid aus der Atmosphäre entfernen konnten.

Das dabei zugrundeliegende Prinzip war ganz einfach. Der Kohlenstoff stammte ursprünglich aus dem CO2 der Luft, gelangte aber von dort durch natürliche physikalisch-chemische Prozesse andauernd ins Meerwasser. Dort baute ihn die Alge über den Stoffwechsel in ihren Kalk-Schuppenpanzer ein.

Bei der neu geschaffenen Protoalge war dieser Prozess durch Modifikation des zugrundeliegenden Genabschnitts abgewandelt worden. Anstatt der bisherigen Kalkplättchen entstanden dadurch viel größere Strukturen. Die dazu verbrauchte Menge CO2 konnte man jetzt auch leicht steuern, ebenso die Geschwindigkeit, mit der dieser Prozess ablaufen sollte. Beides konnten sie jetzt problemlos auf das Hundertfache und mehr der bisherigen Werte erhöhen.

Genau dies war eine der grundlegenden Voraussetzungen, damit das Projekt Erfolg haben konnte.

Der Plan war, diese Protoalgen in den Ozeanen auszusetzen, wo sie sich stark vermehren und so die anderen Algen verdrängen sollten. Nach einer gewissen Zeit würden sie auch selbst absterben und auf den Meeresgrund sinken. Damit bei ihrer Zersetzung nicht wieder CO2 freigesetzt würde, wie das bei den bisherigen Algen der Fall war, hatten sie sich schon einen Trick einfallen lassen.

Leider gelang dieser aber bis jetzt nur im Labor, wo sie die hochgiftigen Algen und deren Giftstoffe aus dem Meerwasser entfernen konnten. Unter realen Bedingungen im Ozean starb ihre Alge sofort ab, da sie auf dieser alten, nicht giftresistenten Art basierte.

Auch der gestern gestartete Test war wieder so verlaufen, obwohl sie von den Rechnern einen besonders aufwendigen Genabschnitt für ihre Alge hatten berechnen lassen.

Der erneute Fehlschlag zeigte klar, dass alle ihre bisherigen Überlegungen und verwendeten Algorithmen einen grundsätzlichen Fehler hatten, was bedeutete, dass sie etwas völlig Neues ausprobieren mussten, um in dieser Frage weiterzukommen. Ihre bisherigen Vorstellungen waren offensichtlich noch viel zu eingeschränkt und sie benötigten dringend ganz neue Ideen. In ihren Diskussionen, wie dies zu erreichen sei, waren sie zu dem Schluss gekommen, dass es nur noch eine einzige Möglichkeit gab, um die nötige Inspiration zu erlangen. Sie mussten sich außerhalb der Labore auf die Suche danach machen, um das Problem der Giftresistenz lösen zu können.

Um dazu schnell eine Expedition auszurüsten, flogen sie heute zurück nach Byrd Island.

Der Shuttle hielt tief unten im Berg direkt auf Höhe des unterirdischen Flughafens an. Jia warf ihre langen, fast schwarzen Haare in den Nacken, schnappte sich ihren Backpack und stieg aus. Hier unten war es deutlich kühler als oben. Sie fröstelte, zog den Verschluss ihrer Jacke zu und warf einen Blick auf die Flugdaten, die im unteren Informationsbereich ihrer Eyefoil angezeigt wurden. Sie nickte kurz, als ob sie sich selbst bestätigen wollte, dass alles planmäßig ablaufen würde und sie rechtzeitig vor Ort war. Als frühest mögliche Startzeit wurde immer noch 8: 25 Uhr angegeben. Wegen der Stürme konnte es beim Start leicht zu Verspätungen von einer Stunde kommen.

Das Ziel des Hypersonics war New Urumqi, die Hauptstadt des Staates Antarktika. Sie lag auf der Erde fast genau gegenüber von ihrem jetzigen Aufenthaltsort Svalbard, knapp 1.400 Kilometer vom Südpol entfernt. Jia war von der Distanz, die sie bei diesen Flügen zurücklegten und dem Wechsel des Sonnenverlaufs zwischen Nord- und Südhalbkugel immer wieder fasziniert.

Als sie die Shuttelstation am Hyperport verließ, sah sie vor dem angrenzenden Terminal schon viele Mitreisende warten. Auch Gaia war bereits da. Jia sah sie in ihrer Eyefoil von einer transparenten hellblauen Sphäre umgeben, wie das bei allen Kontaktpersonen und Zielen der Fall war. Ohne diese Markierung wäre Gaia in der Menge der anderen Passagiere kaum aufgefallen, da sie von mittlerer Größe war und wie die meisten dunkelbraune Haaren hatte, die sie wie diese auch nackenlang trug.

Jia ging auf sie zu, vorbei an den anderen Mitreisenden, unter denen auch einige bekannte Gesichter zu sehen waren.

Gaia war vorsichtshalber mit einem früheren Shuttle gefahren und kam zudem direkt vom Labor, wo sie bis spät in die Nacht gearbeitet und sogar übernachtet hatte.

»Hi!«, rief Jia gespielt fröhlich, als sie nur noch wenige Meter von Gaia entfernt war und diese auch gerade aufschaute, weil sie soeben in ihrer Eyefoil einen Hinweis bekommen hatte, dass sich Jia näherte.

Obwohl sie beide ihre Eyefoils trugen, sahen Jia und Gaia voneinander jeweils das gesamte Gesicht einschließlich Live-Mimik. Die Eyefoils selbst waren für sie unsichtbar. Das lag daran, dass sie sich gegenseitig für den Privat-Modus autorisiert hatten, in dem die Innenseite der Eyefoils den von ihr verdeckten Teil des Gesichts scannte und diese Bilddaten auf der Außenseite wiedergaben, anstelle der bunt schillernden Oberfläche.

»Auch Hi!«.

Gaia strahlte, obwohl sie vollkommen übermüdet war, und streckte die Hände nach Jia aus. Beide lagen sich für mehrere Sekunden in den Armen. Obwohl sie sich fast täglich im Institut sahen, war ihre gegenseitige Begrüßung heute besonders intensiv.

»Reisefieber?«, fragte Jia, und dachte daran, dass sie beide zu vollkommenem Stillschweigen zu der jetzt eingetretenen lebensbedrohenden Situation des Aeorsol-Rückgangs verpflichtet worden waren, um Panik in der Öffentlichkeit zu vermeiden. Nicht einmal die anderen Nature-Scientists hier in Svalbard durften davon erfahren.

»Ja, ich bin wegen des Fluges wie immer total gestresst! Und außerdem todmüde. Kannst Du Dir ja denken!«

Jia schaute sie für einen Moment voller Mitleid an, zog dann die Augenbrauen hoch und fragte mit ihrem unglaublich selbstsicheren Lächeln

»Hast Du sie?«

Auch wenn das momentan ungelöste Problem gerade etwas an ihrer optimistischen Grundhaltung kratzte, so stachelte es gleichzeitig auch Jias Ehrgeiz an. Bisher hatte sie noch jedes Problem gelöst und das sollte auch so bleiben.

»Du meinst 'sie'?«

Gaia liebte es auf ungenaue Fragen ebenso zu antworten. Natürlich wusste sie, was Jia meinte, und dass sie in dieser bedrohlichen Situation auch nicht mehr sagen durfte. Jia nahm es gelassen, denn natürlich kannte sie die Marotte ihrer Freundin. Sie verdrehte die Augen gespielt hilfesuchend nach oben.

Gaia überlegte kurz.

»Ja klar hab' ich sie!«

Gaia hatte wie vereinbart eine Probe ihrer Algen vom Labor mitgenommen.

»Sie sind schon drin.«

Sie zeigte mit dem Zeigefinger an Jia vorbei.

»Ich bin schon seit einer Stunde da. Ich wollte sicherstellen, dass der Transport sicher funktioniert.«

»Gut! Dann kann ja nichts mehr schiefgehen. Die Jungs können die Synths schon mal anwerfen.«

Damit meinte Jia ihren Lebenspartner Ray Donnellan und Mian Sorokin, mit dem Gaia schon lange eine Beziehung hatte. Sie waren außerdem alle auch sehr gut miteinander befreundet.

Parallel zur Forschungsarbeit von Jia und Gaia in Svalbard hatten die beiden im Labor auf Byrd Island die Synthesizer optimiert. Sie hatten diese biotechnischen Maschinen weiterentwickelt, die damit die technisch kaum mehr zu verbessernde, ultimative Generation darstellten im Vergleich zu den aktuellen Svalbard-Geräten.

Sie würden diese dringend benötigen, um identische Protoalgen wie in Svalbard erschaffen zu können, allerdings sehr viel schneller und in viel größeren Mengen.

Dass sie sich nach acht Wochen Aufenthalt auf Svalbard heute alle wieder persönlich wiedersehen würden, stellte den einzigen Lichtblick in der momentanen Lage dar.

Während dieser Zeit waren sie nur per Eyefoil, oder etwas realistischer als Hologramm, miteinander in Kontakt geblieben. Beides war jedoch eine sterile Form der Kommunikation.

Je länger die Trennung voneinander dauerte, desto fremder wurden sie sich alle, selbst wenn sie sich dreimal oder öfter am Tag sahen und miteinander sprachen. Dieser Avatareffekt war jetzt nach acht Wochen natürlich so stark wie nie zuvor.

Punkt acht Uhr wurde in den Eyefoils die Anzeige zum Boarding eingeblendet. Offenbar hatten sie heute Glück mit den Wetterbedingungen. Die dunkel getönten Scheiben des Gates hin zum zentralen Bereich des Hyperports bewegten sich langsam zur Seite. Im Gegensatz zum Wartebereich war dieser Bereich, in dem alle Fluggeräte geparkt wurden, taghell erleuchtet. Als sie hinausgingen war es fast, als ob sie ins Freie traten, denn die Halle erzeugte durch ihre Größe und die zweihundert Meter hohe, strukturlos weiß verkleidete kuppelförmige Decke ein ähnliches Gefühl der Weite. Allerdings war allen bewusst, dass sie sich hier in zweitausend Metern Tiefe unter dem Svalbarder Gebirgsmassiv befanden. Auch auf der Herfahrt im Tunnel wurde andauernd angezeigt, dass die Fahrt bergab ging.

Unter dieser riesigen Kuppel erstreckte sich jetzt vor ihnen die weite, kreisrunde Fläche des Hyperports. In ihren Eyefoils erschien sie weiß und hunderte verschiedenfarbige Linien und Flächen waren darauf zu sehen, die Flug- und Rollbahnen sowie Parkflächen markierten.

»Da, schau!« stieß Jia ihre Freundin an und deutete mit einer Kopfbewegung geradeaus.

Genau im Zentrum der Halle stand der Hypersonic. Er wirkte schon aus dieser Entfernung mit seiner schwarzblau metallisch glänzenden Außenhaut äußerst elegant. Wie sie beide wussten, handelte es sich um das mit Abstand schnellste Passagierflugzeug, das je gebaut wurde.

Während sie sich der Maschine näherten, schauten sie sich weiter um. Ganz am Rand der riesigen Fläche standen Servicefahrzeuge und verschiedene Kopter. Diese flügellosen, ziemlich kastenförmigen Flugkörper mit abgeflachter, spitzer Nase waren viel eher nach ihrem Geschmack, denn sie flogen meistens nicht sehr hoch und auch fast ohne Erschütterungen. Für die lange Strecke nach Antarktika wurden sie aber nicht eingesetzt, denn gegen die gewaltigen Wirbelstürme über dem Atlantik und Pazifik konnten sie nicht ankommen. Die Hypersonics hingegen flogen in so großen Höhen, dass sie das sich in den Atmosphäreschichten darunter abspielende Wettergeschehen überfliegen konnten.

Die Passagiere wurden durch Barrieren ans hintere Ende der Maschine geleitet. Je näher sie kamen, desto klarer wurden deren gewaltige Dimensionen. Der Rumpf erstreckte sich von der nadelförmigen Bugspitze über eine Länge von einhundertfünfzehn Metern bis zum fast ebenso spitz zulaufenden Heck, das erst weit hinter den Tragflächen endete. Dies war definitiv der größte und stromlinienförmigste Hypersonic, den sie sich vorstellen konnten. Seine fensterlose Außenhaut wies wegen der sehr hohen Temperaturen, die während des Hyperschallfluges durch Luftreibung auftraten, nicht die geringsten Unebenheiten auf. Auch waren keine Lackierung oder Schriftzüge vorhanden, denn beides wäre während des Fluges einfach weggebrannt.

Gaia war sehr gespannt, ob der Flug mit diesem Modell tatsächlich wie angekündigt viel angenehmer sein würde als bisher. Jia wusste, dass ihre Freundin das Rütteln und Tosen hasste, das vor allem in der Start- und Landephase auftrat und sie dabei jedesmal Todesangst hatte. Auch sie selbst bekam dabei gelegentlich ein mulmiges Gefühl.

»Hey, schau mal, ganz vorne! Die neuen Hyperwinglets. Das wird Dir gefallen!«

Aus der Spitze ragten vier ganz kleine Flügel diagonal wie ein 'x' heraus. Sie dienten zu feinsten Richtungskorrekturen und dem Ausgleich von Turbulenzen bis in den Hyperschallbereich. Angeblich wurde der Flug dadurch sehr viel angenehmer.

»Bin mal gespannt!«, antwortete Gaia. »Ich finde, es ist auch wirklich Zeit, dass es hier endlich einmal Fortschritte gibt.«, und stellte überrascht fest, dass sie es diesmal viel gelassener nahm. Bis jetzt hatte sie sich keine Gedanken dazu gemacht, aber der Flug war plötzlich im Vergleich zu den aktuellen Problemen nicht mehr ihre größte Sorge.

Der einzige Zugang ins Innere der Maschine befand sich aus Gründen der Aerodynamik und der hohen Temperaturen, die während des Fluges auftraten, ganz hinten im schon spitz zulaufenden Teil des Rumpfes, direkt unterhalb des Seitenleitwerks. Beim Blick nach oben wurden in ihren Eyefoils die Zahlen eingeblendet, welche die enormen Dimensionen veranschaulichten. Die Maschine war doppelt so hoch wie jene, mit denen sie bisher geflogen waren. Das Leitwerk direkt über ihnen reichte fünfzehn Meter in die Höhe. Auch alles andere an der Maschine besaß die doppelten Ausmaße. Der Kabinenabschnitt war fast über die gesamte Länge knapp zehn Meter breit, der Rumpf zu beiden Seiten stark abgeflacht. Er wurde dabei von der Nase bis hier zum hinteren Ende immer breiter und ging ganz flach in die deltaförmigen Tragflächen über. Zusammen mit den vier gewaltigen Triebwerken, die in deren Unterseite integriert waren, und der geringen Spannweite von nur fünfunddreißig Metern ließ das pfeilförmige Design der Maschine schon erahnen, dass sie tatsächlich eine Spitzengeschwindigkeit von acht Mach erreichen konnte, also achtfache Schallgeschwindigkeit.

Jia und Gaia betraten den Mover, der sie zusammen mit den anderen Passagieren hinauf in den Zugangsbereich in der oberen Hälfte des Hypersonics brachte. Im gesamten unteren Teil befanden sich neben dem Gepäckraum nur noch die riesigen Wasser- und Sauerstofftanks.

Der Zugangsbereich war abgesehen von den größeren Dimensionen genauso wie sie es gewohnt waren. Von dort aus ging es sowohl weiter nach vorne in die Passagierkabine, als auch nach hinten ins Cockpit, das sich wie bei allen Hypersonic-Modellen ganz am Ende des Rumpfes befand.

Die Cockpitbesatzung bestand aus zwei humanoiden Bots sowie zwei menschlichen Piloten. Sie waren nur aus psychologischen Gründen an Bord, denn eine manuelle Steuerung der Maschine war nicht möglich. Selbst bei einem Notfall würden die Hypersonics vollkommen selbstständig agieren. In den vierzig Jahren war es jedoch noch nie zu Problemen oder gar Unfällen mit Hyperschallflugzeugen gekommen.

Die vier standen jetzt am Kabineneingang und begrüßten die Passagiere. Während des Fluges, insbesondere bei Start und Landung, würden sie nur die Flugdaten beobachten.

Gaia und Jia nahmen auf ihren Sitzen in der zehnten Reihe links Platz. Da sie schon vor drei Tagen gebucht hatten, saßen sie direkt nebeneinander.

Aus technischen Gründen waren in diesem neuen Modell alle Sitze und Reihen im Abstand von einem Meter neben- als auch hintereinander angeordnet. Die riesige Kabine bot daher nur einhundertundzwanzig Passagieren auf dreißig Reihen zu je vier Sitzen Platz. Der freie Raum dazwischen war notwendig, um die Sitze für den Landeanflug entgegen der Flugrichtung drehen zu können, ohne dass sich die Passagiere dabei erheben mussten. Mit dieser neuen Technik wurden die physischen Belastungen durch die enormen Bremskräfte so klein wie möglich gehalten.

»Hey, nicht schlecht! Da haben sie ja ganz schön viel Luxus spendiert!«, fand Jia, als sie sich umschaute. Die Inneneinrichtung der Kabine war hochwertig in beige und hellgrau gehalten. Die Sitze bestanden aus Xitrea, einem intelligenten Material, dessen Eigenschaften an die persönlichen Vorlieben angepasst werden konnten, sodass es sich wie Leder oder beliebige Gewebearten wie Seide oder synthetische Materialen anfühlte, theoretisch sogar wie Metall, Stein oder Holz. Ebenso war die Form der Oberfläche sowie die Kontur des gesamten Sitzes veränderbar.

Gaia nickte.

»Ja, absolut! Schau mal! Der Service scheint auch gut zu sein.« Ihr waren gerade die sechs humanoiden Servicebots aufgefallen, die jetzt vor dem Start noch in den Kabinengängen geparkt waren, drei davon am vorderen Ende der Kabine, drei bei ihnen im mittleren Teil.

Beide checkten die für Eyefoils angebotenen Ansichten, über die der Blick nach draußen möglich war und entschieden sich spontan für die Normalansicht, die virtuelle Kabinenfenster zeigen würde, wenn sie sich in der Luft befanden. Momentan stand noch keine direkte Sicht nach draußen zur Verfügung.

Schon nach wenigen Minuten fing der Hypersonic an sich zu bewegen. Dies war jedoch nicht direkt zu spüren, sondern nur an den Bewegungsdaten und einer Animation mittleren Realitätsgrades zu erkennen, die in ihre Eyefoils eingeblendet wurde. Sie zeigte den Hypersonic in langsamer Fahrt auf einer durch grüne Linien markierten Rollbahn, die von der Hallenmitte geradewegs zum Rand führte, vorbei an einigen Technik- und Servicebots, die dort auf der Hyperportfläche beschäftigt waren..

»Wow, es ist nichts zu hören!« staunte Gaia.

Tatsächlich war nach wie vor nur das ganz leise Säuseln der Klimaanlage zu hören. Gespannt verfolgten beide, wie sich der Hypersonic geräuschlos dem neuen großen Starttunnel näherte, der offensichtlich speziell für Maschinen dieses neuen Typs im Felsmassiv neu angelegt worden war. Die beiden Hälften des riesigen Tunneltors bewegten sich soeben nach beiden Seiten entlang der Kuppelwand und gaben den Weg frei auf das schwarze, ellipsenförmige Loch dahinter. Der Hypersonic wartete noch einige Sekunden auf die Freigabe, dann fuhr er langsam hinein.

Kaum hatte sich das Tor hinter ihm wieder geschlossen, zündeten die vier Triebwerke. Das eigentlich unerträglich laute Brüllen war von den Passagieren nur als leises Zischen zu hören und kaum zu vergleichen mit den bisherigen Modellen. In der Halle bebte jedoch die Luft wegen der Luftauslässe im Tunneltor und der Hallenwand in einer Stärke, dass sich während des Startvorgangs eines Hypersonics niemand darin aufhalten durfte.

Die Maschine beschleunigte jetzt stark und schoss den steilen, innen nahtlos verkleideten Tunnel hinauf, der zum Plateau des Tafelbergs führte. Hier im Schutz des Berges konnte sie die zum Abheben und für eine stabile Fluglage notwendige Startgeschwindigkeit aufnehmen. Damit war sie gegen die häufig in der unteren Atmosphäre tobenden Stürme gewappnet. Dennoch waren bei den bisherigen Flügen die ersten dreißig Sekunden nach Verlassen des Tunnels fast jedesmal ziemlich turbulent gewesen.

Nach einer knappen Minute und einer Strecke von siebentausend Metern hatten sie den Tunnelausgang oben erreicht. Die virtuelle Live-Ansicht des Hypersonics schaltete sich jetzt ein und streamte die Bilddaten der Umgebung auf die Eyefoils.

Erst hier draußen wurde Jia und Gaia wieder bewusst, dass es immer noch Nacht war. Die riesigen, vierhundert Meter hohen Seitenwände links und rechts der Abflugschneise waren nur schwach gelblich beleuchtet. Sie hielten die Stürme ab, sodass die Hypersonics nach Verlassen des Starttunnels auch im Freien noch für weitere vier Sekunden etwas geschützt waren. Dieser Außenbereich wurde wegen seiner V-Form auch Valley genannt. Um den Stürmen so wenig wie möglich Angriffsfläche zu bieten, verliefen seine Außenseiten dabei viel flacher als im mittleren Teil, durch den die Hypersonics starteten. Obwohl eine noch höhere Bauweise wünschenswert gewesen wäre und dazu mit 'C-rox' das härteste und gleichzeitig leichteste Material verwendet wurde, stieß diese Konstruktion schon an ihre Stabilitätsgrenzen.

Die ständig tobenden Stürme waren eine Folge der extremen Temperaturunterschiede, die es heute zwischen der glühend heißen Tagseite der Erde und der kühleren Nachtseite gab. Dort kühlten die Landmassen auf unter vierzig Grad Celsius ab, während sie sich auf der Tagseite auf über einhundert Grad Celsius erhitzten. Die heiße Luft stieg dort sehr schnell nach oben und sog die kühlere Luft der Nachtseite mit brachialer Gewalt an. In den mittleren Breiten der Erde und am Äquator trat dieser Effekt besonders stark auf, aber auch zu den Polregionen hin, wenn dort in der Zeit des Polarwinters die Temperaturen sanken.

Lokale thermische Effekte über den kahlen, erodierten Kontinenten und die riesigen Wasserdampfmengen, die aufgrund der hohen Temperaturen in der Atmosphäre enthalten waren, taten ihr übriges und erzeugten Gewitter mit Hagel und Böen der Megaklasse.

Nachdem sie den Schutzbereich hinter sich gelassen hatten, wurde der Hypersonic tatsächlich auch von einigen starken Böen und Scherwinden erfasst. Allerdings war dies heute nur an der Anzeige der Wetterbedingungen in ihren Eyefoils zu erkennen. In der Kabine gab es keinerlei Erschütterungen oder Vibrationen.

Jia sah, dass Gaia plötzlich entspannt lächelte.

»Viel besser!«, freute sie sich.

In diesem Moment färbte sich die Schubanzeige in den eingeblendeten Flugdaten von grün auf orange und die Triebwerke fuhren innerhalb weniger Sekunden auf volle Leistung hoch. Der brachiale Schub drückte die Passagiere so sehr in die Sitze, dass Bewegungen jetzt äußerst anstrengend und nur mit hoher Konzentration möglich waren.

Jia und Gaia ließen diese Phase wie alle anderen Passagiere auch regungslos über sich ergehen.

»Ich werde mal versuchen, noch ein bißchen Schlaf nachzuholen«, erklärte Gaia, und rutschte schon etwas tiefer in ihren Sitz.

»Ja, das beste, was Du machen kannst!« stimmte Jia zu.

Gaia schaltete ihre Eyefoil aus, sodass die Innenseite fast vollkommen schwarz wurde, und schloss die Augen.

Die Maschine drehte jetzt schon leicht nach Südwesten ab, um auf der vorgesehenen Flugroute entlang des zehnten östlichen Längengrads nach Süden zu fliegen. Wenige Sekunden später befanden sie sich schon über dem offenen Meer. Als sie nach knapp eineinhalb Minuten zwanzig Kilometer Höhe erreicht hatten, ließen der Schub und der Druck in die Rückenlehne etwas nach.

Der Himmel um sie herum verlor jetzt schon seine völlige Dunkelheit. Die bunten Polarlichter verblassten langsam hinter ihnen und verschwanden innerhalb weniger Minuten ganz am nördlichen Horizont.

Jia checkte die angebotenen Außenansichten und entschied sich für die Bird's Eye View, eine Einstellung, die den gesamten Hypersonic samt Passagieren einschließlich aller Geräusche ausblendete. In dem Moment, als sie diese Option anklickte, konnte sie sich plötzlich nicht einmal mehr selbst sehen. Jia zuckte vor Schreck kurz zusammen, denn sie schien völlig allein und körperlos durch den Himmel zu rasen, mit dem Blick auf die weit unter ihr dahinziehende dunkle Meeresoberfläche und die verschiedenen Wolkenstrukturen.

Diese Ansicht wurde direkt von den Rechnern anhand von Satellitenaufnahmen und der aktuellen Flugposition erzeugt, da die Hypersonics wegen der Reibungshitze nicht einmal Außenkameras besaßen.

Beim Blick nach links konnte Jia am östlichen Horizont die Küste Nordeuropas schon schwach in der Morgendämmerung wahrnehmen. Die schwarzgraue Landmasse hob sich leicht vom Meer ab, denn darin spiegelte sich bereits der hellere Himmel. Jia ging kurz auf real, sodass alle Bildverbesserungen ausgeschaltet waren, doch auch in dieser Ansicht erschienen schon die Konturen des Kontinents.

Eine halbe Minute später kam die Sonne über den Horizont. Der Himmel erschien jetzt in einem kräftigen Hellblau, wurde aber schnell wieder dunkler, da sich der Hypersonic immer noch im Steigflug befand. Jia checkte die aktuellen Flugdaten. Sieben Minuten nach dem Start waren sie kurz vor Erreichen der Reiseflughöhe von siebenunddreißigtausendfünfhundert Metern. Der Hypersonic schoss schon mit fast zweitausendvierhundert Metern pro Sekunde durch die Stratosphäre, Kurs Süd auf zehn Grad Ost. In dieser Höhe betrug der Luftdruck nur noch ein Hundertstel des Wertes auf der Erdoberfläche, die Außentemperatur war mit minus fünfundzwanzig Grad Celsius schon wieder leicht angestiegen gegenüber den minus fünfunddreißig Grad auf fünfundzwanzigtausend Metern. Der Flug würde noch zwei Stunden und fünfundvierzig Minuten bis zur Landung in New Urumqi in Antarktika dauern.

Jia überkam ein Anflug von Traurigkeit, als sie auf den jetzt weit unter ihr vorbeiziehenden europäischen Kontinent blickte. Das flache orangene Sonnenlicht beleuchtete seine monoton graubraune Oberfläche und erzeugte an den Bergen und Tälern tiefschwarze Schatten. Über alles hinweg verlief quer zu ihrer Flugroute der nördliche Polarkreis, der als dünne blaue Linie angezeigt wurde.

Vegetation gab es auch hier schon lange nicht mehr. Die Berge der Region erreichten ohnehin nicht die erforderliche Höhe, in der es aufgrund der hohen Temperaturen noch etwas Pflanzenwachstum geben konnte. Nur unter ganz besonders günstigen Umständen war dies noch bis hinab auf Meereshöhe möglich. Die größte Landfläche, in der heute noch Pflanzen und Tiere vorkamen, lag in Zentralasien in fast fünftausend Metern Höhe. Das Gebiet dort hatte einen Durchmesser von knapp eintausend Kilometern, was zwei Drittel der heutigen Landfläche Antarktikas entsprach. Diese wiederum erreichte ungefähr ein Zehntel der Größe der alten Staatsgebiete Chinas, der USA oder auch Australiens. Sie existierten heute alle nicht mehr.

Jia fühlte sich jetzt fast wie im Weltraum. Die Atmosphäre um sie herum erschien jetzt nur noch ganz blass, der Himmel darüber war jedoch schon von absoluter Schwärze.

Es war für sie immer interessant die Erde von so weit oben zu betrachten. Man konnte dabei leicht erkennen, wie klein dieser Planet eigentlich war. Der trostlose Anblick machte auch sofort klar, dass selbst ein kurzer Aufenthalt ohne Schutzkleidung dort unten tödlich wäre. Nicht nur wegen der Hitze, sondern auch wegen der starken UV-Strahlung, die leicht Werte von über neunzig Einheiten erreichte. Der Grenzwert für Menschen lag bei nur sechs. Ein ungeschützter Aufenthalt im Freien war daher eigentlich nur nachts möglich. Schon das UV-Licht der Polarlichter reichte bis drei.

Der Hypersonic hatte soeben seine Beschleunigungsphase beendet und flog von nun an mit konstanter Geschwindigkeit weiter. Ein Signal ertönte und die Sitze bewegten sich von der leicht geneigten Startposition in die horizontale Reiseposition. Jia stand kurz auf, wobei sich in ihrer Eyefoil sofort die Kabinenansicht einschaltete. Sie ging ein paar Schritte, um die Anspannung im Körper loszuwerden, die sich während der Beschleunigungsphase aufgebaut hatte. Nach wenigen Schritten stellte sie fest, dass sie sich heute viel schneller wieder fit fühlte, als bei Flügen mit den Vorgängermodellen. Sie setzte sich wieder. Der Flug verlief tatsächlich extrem ruhig. Das Summen der Triebwerke war so leise, dass sie es nicht bewusst wahrnahm und fast vergaß, in welcher extremen Umgebung sie sich gerade fortbewegten. Die x-Winglets verrichteten ihre Arbeit perfekt und verhinderten alle Turbulenzen, die den Rumpf sonst immer wieder erschüttert hätten.

Jia scrollte wieder durch das Ansichtenmenü. Der schwarze Himmel über ihr inspirierte sie zur Extraterre-Ansicht, die sie sich auch am Boden sonst hin und wieder anschaute. Zum Flug im Hypersonic fand sie diese gerade besonders passend. Sie klickte darauf und blickte sich um.

Im Osten stand die Sonne so hell vor dem schwarzen Himmel, dass sie trotz der virtuellen Darstellung selbst in ihrer Eyefoil tatsächlich fast blendete. Rechts daneben war die Sichel der Venus zu sehen. Die Milchstraße verlief quer zur Flugroute in weitem Bogen über den Himmel. Verschiedenfarbige Gasnebel, Überreste von Sternexplosionen und hunderte benachbarte Galaxien wurden überall als helle Objekte angezeigt und boten eine fantastische Kulisse. Natürlich entsprach ihre Helligkeit in der Eyefoil nicht der wirklichen Leuchtkraft. Diese Himmelsobjekte waren viel zu lichtschwach, als dass man sie selbst im Normalmodus oder gar mit bloßem Auge hätte erkennen können.

Auch die Position von 2197LJ wurde weit hinter den Planetenbahnen des Sonnensystems angezeigt. Der riesige Asteroid war in aller Munde, denn von ihm ging große Gefahr für die Erde aus. Nachdem er erst im Jahr 2197 entdeckt worden war, arbeiteten hunderte Spezialisten mit Hochdruck an einer Abwehrstrategie, um den dreiundzwanzig Kilometer großen Felsbrocken von seinem Kollisionskurs abzulenken oder zu pulverisieren.

Der Hypersonic flog nun mit siebeneinhalbfacher Schallgeschwindigkeit auf der üblichen Strecke direkt nach Süden. Diese Route wurde immer gewählt, weil hier der einzige Notlandeplatz vorhanden war. Er befand sich direkt am Äquator an der Abschussbasis für Raketen. Die Anlage war der einzige Ort auf der Erde, den sie neben Svalbard von Antarktika aus erschlossen hatten. Bisher hatte aber kein Hypersonic je eine Notlandung machen müssen.

Nach wenigen Minuten überflogen sie die Küstenlinie des mitteleuropäischen Festlands. Während die Landschaft unter ihr vorbeiglitt, ließ Jia ihre Gedanken treiben. Sie klickte auf die historischen Informationen zur Reisestrecke. Rechts am Horizont wurde die Lage der früheren Weltstädte Paris und London angezeigt. Sie waren wie viele andere tief gelegene Städte schon lange vor dem Krieg überflutet worden. Als sich dieser ereignete, war der Meeresspiegel schon um fünfundachtzig Meter angestiegen.

Was musste sich dabei abgespielt haben ?

Jia stellte sich das in die Städte eindringende Meer vor und die Millionen Menschen, die auf der Flucht davor waren.

Diese Ereignisse waren letztlich die Folge der grenzenlosen Gier einiger Weniger sowie der Unwissenheit fast aller Menschen über wichtige Zusammenhänge in der Natur.

Für Jia war es kaum vorstellbar, dass diese graubraune, in großen Teilen schwarze Fläche unter ihr einmal eine der am dichtesten besiedelten Regionen der Erde gewesen war. Von hier oben gab es keine sichtbaren Hinweise mehr darauf.

Wieso war diese leicht vorhersehbare Entwicklung nicht zu verhindern gewesen? Zuerst zerstörten sie das Klima und dann töteten sie sich selbst wegen der wenigen verbliebenen Ressourcen!

Natürlich kannte sie die Antwort. Der Krieg war eine direkte Folge der Klimakatastrophe gewesen. Es ging um die letzten bewohnbaren Regionen der Erde und das Überleben des westlichen oder östlichen Gesellschaftssystems. Auch in Europa waren daher Megabomben gezündet worden.

Jia ließ sich die Stellen anzeigen, an denen sich diese unvorstellbaren Explosionen ereignet hatten. Es waren vierzehn, verteilt über den gesamten Kontinent.

Die Animation erschien so echt, dass ihr der Atem stockte. Der Hypersonic raste direkt auf eine der Glutwolken zu, die sich vor dem pechschwarzen Weltraum bis einhundertfünfzig Kilometer Höhe aufblähte und damit noch weit über die Flugbahn des Hypersonics hinausreichte. Im nächsten Moment war Jia auf allen Seiten von dem glutroten Feuersturm umgeben.

Sie schaltete schnell um zwei Realitätsgrade zurück, sodass das Ereignis nur noch als schematische Darstellung zu sehen war. Der Hypersonic befand sich jetzt gerade schon nahe an der Stelle, die das Zentrum dieser Explosion gewesen war. Das von der Hitze und Druckwelle zerstörte Gebiet auf dem Kontinent erschien als riesige rote Fläche, deren Rand gar nicht mehr zu sehen war, denn dieser lag in jeder Richtung mindestens fünfhundert Kilometer entfernt, also jenseits des Horizonts.

Nach diesem Krieg gab es auf den alten Kontinenten fast kein Leben mehr. Weltweit war alles verbrannt, die letzten Reste der Zivilisation waren vernichtet. Nur ganz wenige Menschen hatten dies dort überlebt.

Die Vorgänge dauerten noch einige Minuten. Danach standen am Himmel über Europa rundum riesige rote Kugeln als Symbole der echten Megabomben.

Von den Dimensionen erneut geschockt, schaltete Jia die Simulation ganz ab.

Wenige Sekunden später überflog der Hypersonic eine Bergkette vor der italienischen Halbinsel. Einige aktuelle Flugdaten und die Lage der ehemals wichtigsten Städte erschienen.

Florenz, die Hauptstadt der historischen Renaissance in der westlichen Welt, war weit links gerade noch zu sehen, zusammen mit ihren wichtigsten Daten. Im fünfzehnten und sechzehnten Jahrhundert war sie eine der bedeutendsten Städte gewesen. Hier lebten Menschen, die das dunkle Mittelalter bekämpften und schließlich überwanden. Falsche Autoritäten wurden von ihnen hinterfragt und in Vergessenheit geratenes Wissen der Antike wieder aufgriffen. Darauf basierend wurden neue bahnbrechende Entwicklungen in Kunst und den technischen und medizinischen Wissenschaften gemacht.

Viel näher als Florenz, schräg unterhalb der Flugroute des Hypersonics, war auch Pisa dargestellt, wie Florenz eine der wichtigsten Städte dieser Epoche. Sie lag heute siebzig Meter unter Wasser zwischen den vor der Küste gelegenen Inseln. Beide Städte waren berühmt durch Galilei Galileo, einem der Begründer der modernen Naturwissenschaften und damit Wegbereiter der modernen Welt. Jia war von ihm fasziniert.

Noch ein Stück weiter vorne auf ihrer Flugroute war ähnlich gelegen schon Rom zu sehen, im Altertum vor über zweitausend Jahren die erste europäische Supermacht, die damals fast den gesamten Kontinent, Nordafrika und Teile Asiens beherrschte.

Auch diese Großmacht hatte nicht überlebt. Die politische Macht besaßen auch damals nicht die besten Köpfe, sondern sie war in den Händen der Gierigsten und von unfähigen Strategen.

Nach ihrem Zusammenbruch machte sich eine über eintausend Jahre andauernde Epoche der Engstirnigkeit breit, das sogenannte europäische Mittelalter. Die herrschende Elite dieser Epoche versuchte mit allen Mitteln, jeglichen Fortschritt zu verhindern. Selbst Galilei wäre diesem System beinahe zum Opfer gefallen. Er war der erste, der die Zusammenhänge der Natur wieder systematisch wissenschaftlich untersuchte. Die gewonnenen Erkenntnisse bedrohten auch damals die herrschende Klasse.

Jia bewunderte seine revolutionäre Vorgehensweise. Etwas ähnlich Bahnbrechendes würden sie jetzt auch benötigen.

Jia geriet beim Anblick der schwarzbraunen Wüstenlandschaft in Rage. Nicht nur, weil sich dort einst eine fruchtbare Kulturlandschaft befunden hatte, sondern auch weil über eintausend Jahre wertvolle Zeit verloren gegangen war, in der sie Abwehrmaßnahmen gegen 2197LJ hätten entwickeln können. Auch wäre es bei richtig getroffenen Entscheidungen nicht zur Klimakatastrophe und der jetzt für alle lebensbedrohenden Situation gekommen.

So sieht die Erde aus, wenn Leute ohne Gespür für die

Natur und ohne naturwissenschaftliches Wissen über die

Welt herrschen.

Die Vernunft und Aufklärung ablehnend und feindselig

gegenüber stehen….

Genau wie im Mittelalter!

Damals schon über eintausend Jahre verloren!

Und weitere zweihundert Jahre in der Industriezeit!

Ganz andere gesellschaftliche und technische Entwicklungen

wären bis heute möglich gewesen!

Wie weit könnten wir heute schon sein!

Stattdessen müssen wir ihre Fehler ausbaden!

Und vielleicht mit dem Leben bezahlen!

Das Aerosol-Problem … es wäre nie dazu gekommen…

und 2197 LJ…könnten wir leicht abwehren.

Unfassbar!…. immer wieder…. unfassbar!

Aus einem grünen Planeten mit vielfältigster, perfekt

ausbalancierter Flora und Fauna einen Wüstenplaneten

machen… völlig überhitzt….

und sich selbst dabei fast ausgerottet….

Genauso wie Galilei in seiner Zeit die Dinge hinterfragte,

hätten sie das ominöse Zwei-Grad-Ziel

des Industriezeitalters viel genauer überprüfen müssen,

von dem damals alle fälschlicherweise glaubten,

dass es nur zu minimalen klimatischen Veränderungen

führen würde.

…..

Dabei hätten sie aus den Klimadaten der Erdgeschichte

leicht ablesen können, dass bei einer zwei Grad höheren

Temperatur der Meeresspiegel um über fünfzehn Meter

höher lag.

Schon dies alleine hätte die Zivilisation ins vollkommene Chaos gestürzt.

Jia wurde plötzlich aus ihren Gedanken gerissen, als die Außenansicht verschwand und stattdessen wieder die Kabine des Hypersonics in ihrer Eyefoil sichtbar wurde. Dies geschah, weil sich soeben der für sie zuständige Servicebot näherte, wobei sich automatisch die Normalansicht aktivierte.

Der Bot war äußerlich nur durch den Code auf seinem eleganten schwarzblauen Anzug aus seidigem Material von einem realen Menschen zu unterscheiden. Sein Gesicht mit der leicht bräunlich getönten Haut und seine kräftigen, kurzen blauschwarzen Haare waren typisch für Antarktika, wo einhundert Jahre des Zusammenlebens von Menschen aus den verschiedensten Regionen der Erde für eine nahezu homogene Vermischung gesorgt hatten.

Mit seiner Größe von einem Meter fünfundachtzig, der makellosen athletischen Figur und den weißen Handschuhen passte er perfekt zu dieser neuesten Hypersonic-Generation.

Mit einem strahlenden Lächeln beugte er sich zu Jia und reichte ihr das georderte Glas Mineralwasser und die Bonas, einem fruchtigen, passend zu ihren aktuellen Körperdaten und ihrem persönlichen Geschmack individualisierten Snack aus verschiedenen Obststückchen in waffelartigem, leicht süß schmeckendem Teig.

Sie lächelte spontan zurück, obwohl ihr natürlich bewusst war, dass es eine Maschine war, deren äußere Erscheinung nur ein Zugeständnis an die menschlichen Benutzer war, die mit ihr zu tun hatten.

Wie alle humanoiden Bots trug auch dieser keine Eyefoil, denn er konnte alle Daten direkt empfangen. Auch besaß er zusätzlich zu den sichtbaren Augen und Ohren noch viele weitere, von außen nicht erkennbare Sensoren. Sie dienten dem Sehen, Hören, Riechen, Fühlen und Temperaturempfinden und befanden sich überall am Rumpf, den Gliedmaßen und sogar oben auf dem Kopf. Er konnte damit sein gesamtes Umfeld in allen Richtungen perfekt wahrnehmen, viel präziser als ein Mensch.

Die Kommunikation mit ihm funktionierte nicht nur deswegen so gut. Er hatte auch schon heute morgen ihre aktuellen Daten bekommen und entsprechend ihren persönlichen Tagesanforderungen den maßgeschneiderten Snack und persönlichen Nutrimix für den Aufenthalt an Bord zusammengestellt.

Sie holte noch eine Repairkapsel aus ihrem Backpack und spülte diese mit einem großen Schluck hinunter. Damit war sie für die beim Flug in dieser enormen Höhe auftretende energiereiche und gefährliche Höhenstrahlung aus dem Weltraum gerüstet.

Jia schaute zu Gaia hinüber. Sie schlief immer noch tief.

Jia beließ es bei der momentanen normalen Ansicht in ihrer Eyefoil. Durch das virtuelle Fenster sah sie, wie Italien langsam hinter ihnen im Dunst am Horizont verschwand. Ein Vulkan blies eine schmale Aschewolke bis weit über die unteren, weiß erscheinenden Atmosphäreschichten hinaus in den dunklen Himmel, wo sie langsam davon wehte und sich auflöste.

Am Horizont vor ihnen war jetzt schon Afrika zu erkennen. Das Meer davor schimmerte in besonders kräftigen Farben. Wie in einer riesigen Öllache schlangen sich rosafarbene, violette und giftgrüne Schlieren ineinander. Es waren giftige Algenkolonien, die heute alle Meere verseuchten.

Jia musste wieder an den gescheiterten Versuch von heute Nacht denken.

Wenige Sekunden später überquerten sie die nordafrikanische Küstenlinie. Die Strukturen der Landschaft und die schwarzen, ockergelben und rostroten Farben erinnerten Jia an die Oberfläche des Mars. Anders als auf dem meist eisigen Nachbarplaneten überflogen sie hier die Gluthölle des afrikanischen Kontinents. Sie checkte die Temperatur, die dort unten angezeigt wurde. Die Werte lagen schon jetzt bei zweiundneunzig Grad Celsius.

Für eine halbe Stunde änderte sich wenig, dann wurden durch größere Wolkenlücken auf der rechten Seite Teile der westafrikanischen Küste sichtbar. Kurz darauf erreichten sie den Äquator, der wieder als dünne blaue Linie über dem Festland, den Wolken und dem Meer eingeblendet war. Fast die Hälfte der Flugstrecke war jetzt zurückgelegt.

Direkt unter ihnen wurde jetzt auch die Position der Landebahn angezeigt, die der Hypersonic im Notfall benutzen könnte. Ab hier verließ er seinen bisherigen Kurs und schwenkte leicht nach links, um auf kürzestem Weg sein Ziel in Antarktika zu erreichen.

Als ob sie die eigentlich unmerkliche Richtungsänderung mitbekommen hätte, wachte Gaia in diesem Moment auf. Sie schaute zu Jia herüber und checkte gleichzeitig die Flugdaten in ihrer Eyefoil.

»Ah, gut! Nur noch eineinhalb Stunden!«, stellte sie fest.

»Alles klar bei Dir?«

Jia hob nur kurz den Daumen.

»Bist Du wieder fit?«

»Ja, es geht! Er fliegt wunderbar ruhig! Es ist, als ob er noch am Boden stehen würde.«

Jia lächelte.

Einer der Servicebots hatte bemerkt, dass Gaia wach war und brachte ihr mit eleganten Bewegungen einen Teller mit frischem Obst und einen weißen Tee, ihr übliches Frühstück.

Jia bemerkte, dass auch Gaia vom Erscheinungsbild der neuen Servicebots beeindruckt war. Beide schauten sich an und nickten zustimmend.

Die Route verlief jetzt entlang der afrikanischen Westküste. Die Wolkenschicht wurde über dem Festland immer lockerer und die Steinwüste war wieder bis zum Horizont im Osten sichtbar.

Nach einer weiteren halben Stunde passierten sie die Südspitze des Kontinents und flogen hinaus auf den Südatlantik. Die viertausend Kilometern lange Strecke über dem Meer bis zur Küste Antarktikas würden sie in einer halben Stunde zurückgelegt haben, die restlichen dreitausend Kilometer einschließlich Landeanflug auf New Urumqi in einer weiteren knappen Stunde.

Die Szenerie über dem Meer war nun monoton. Außer der durchgehend geschlossenen, gleißend hellen Wolkenschicht war dort unten nichts zu sehen. Die Sonne stand inzwischen hoch im Osten. Gaia erhob sich von ihrem Sitz, kam herüber zu Jia und beugte sich herunter, um durch das virtuelle Fenster zu schauen. Das hatte sie noch nie zuvor gemacht, doch weil der Flug so ruhig verlief, riskierte sie es heute.

»Nimm doch die Semi-Ansicht! Die ist genau richtig für Dich!«, empfahl ihr Jia. »Garantiert!«

Gaia schaute einen Moment skeptisch.

»Es ist wirklich toll! Es fehlt nur das Dach, also keine Angst!«, bekräftigte Jia.

Gaia checkte die Semi-Einstellung, die vom Hypersonic für die Eyefoil angeboten wurde. Die Kabinendecke würde oberhalb von etwa einem Meter über dem Kabinenboden ausgeblendet werden. Sie ging zurück auf ihren Platz, zögerte kurz und schaltete gespannt auf Semi.

Das Kabinendach wurde transparent und war nach wenigen Sekunden vollständig verschwunden. Dabei wurde es taghell in der Kabine, weil diese und die Passagiere plötzlich von der Sonne beschienen waren. Anders als von Gaia befürchtet, blieb der Flug genauso ruhig wie bisher.

Sie blickte sich vorsichtig um. Über der gleißend weißen Wolkendecke spannte sich die blauviolette Erdatmosphäre wie eine unendlich große Kuppel auf. Zum Zenit hin verlor diese ihre Farbe und wurde pechschwarz, sodass dort die Sterne zu sehen waren.

»Wow, Du hattest Recht! Das ist super!«

»Ja, aber auf Extraterre gehst Du besser nicht!« Jia dachte an 2197LJ.

Gaia schaute sie kurz an und schien zu verstehen.

»Okay, das sollen die anderen in Ordnung bringen!«

Sie ließ sich stattdessen die Daten der Atmosphäre anzeigen. Es erschienen die Wasserdampf- und Temperaturwerte entlang der Höhenskala, die von Meereshöhe bis hinauf in einhundert Kilometer Höhe reichte, bei welcher quasi der Weltraum begann. Gaia erschrak, als sie heute zum ersten Mal diese enormen Dimensionen mit eigenen Augen sah.

Auch die CO2-Werte wurden angezeigt:

9.368 ppm

Wieso haben die damals so lange an der Verbrennung

von fossilen Brennstoffen festgehalten ?

Unbegreiflicher Egoismus!

Und Gier!

Ignoranz auch….

viele Klimaeffekte noch völlig unbekannt…

Es war doch auch klar, dass Erdöl, Kohle oder Erdgas

nur für wenige Jahrzehnte in ausreichenden Mengen zur

Verfügung standen.

Danach hätten sie ohnehin klimaneutrale Techniken zur

Energiegewinnung einsetzen müssen.

Und diese waren ja längst vorhanden.

Mit Wind- und Wasserkraft oder Solarenergie konnte

man schon lange Wasserstoff erzeugen und damit

Brennstoffzellen und alle Arten von Maschinen klimaneutral betreiben.

Nur weil sie so fahrlässig waren, nutzen sie ihre primitiven

Techniken weiter.

Den künftigen Generationen die lebensbedrohlichen

Probleme aufbürden…

So leicht vermeidbar!

Was für eine erbärmliche Einstellung und Dummheit!

Keine politische Partei, die es verhinderte!

CO2-Rückkopplungsspirale….

Mit diesem verheerenden Ergebnis!!!

Siebenunddreißig Grad Celsius Temperaturanstieg.

Von wegen zwei Grad….

Sie wussten nicht einmal, wie man dies überhaupt

korrekt misst…

Die menschlichen Schwächen! Letztlich kriminell!

Es ging ihnen nur um ihr eigenes Leben.

Hauptsache, das was sie anrichteten traf sie selbst nicht

mehr!

…..

Sie hätten ganz leicht das Gleichgewicht und die

Stabilität aller klimatischen Prozesse erhalten können.

Das Wissen war vorhanden!

Aber nur bei wenigen! Viel zu wenigen!

Trotzdem alles völlig unbegreiflich!!

Und keiner mehr am Leben, den man verantwortlich

machen könnte…

Ohnehin nutzlos …

und keine Lösung unserer Probleme….

Beim Blick auf die riesigen Dimensionen der Atmosphäre kamen ihr für einen Moment Zweifel, ob ihr Projekt nicht völlig vermessen war.

Mit den winzigen Algen die Atmosphäre eines ganzen

Planeten von der ungeheuren CO2-Konzentration befreien?

…..

In dem kurzen noch zur Verfügung stehenden

Zeitraum ?

Sie schaute hinüber zu Jia und ihre Blicke trafen sich. Auch Jia erschien ihr skeptisch. Diese deutete mit dem Daumen schräg nach unten.

Gaia schaute in die angezeigte Richtung rechts unter sich. Es waren nicht die ungeheuren Treibhausgasmengen, die Jia meinte. Die Wetterdaten zeigten dort schematisch einen gewaltigen Wirbelsturm an, mit einem Durchmesser von fast zweitausend Kilometern auch für heutige Verhältnisse ein echtes Monster. Die Wirbelstruktur war aus dem Hypersonic, anders als bei Satellitenaufnahmen, kaum erkennbar. Eine langgezogene wolkenfreie Zone direkt unter ihnen deutete darauf hin, dass sich dort sein Rand befand.

Das Auge des Sturms war eintausend Kilometer von ihnen entfernt und lag damit weit hinter dem Horizont. Der Luftdruck in seinem Zentrum hatte mit nur sechshundertzwanzig Hektopascal einen fast unvorstellbar niedrigen Wert. Die Windgeschwindigkeiten um diese Region betrugen dementsprechend Stärke sieben, in Böen bis acht, das entsprach Windgeschwindigkeiten von siebenhundert Stundenkilometern mit Spitzenwerten von über achthundert.

Die Daten zeigten, dass in dieser Richtung noch weitere Wirbelstürme tobten, über dem Golf von Mexiko mit sogar noch größerem Ausmaß und heftigerer Gewalt. Es war ein Glück, dass sich diese Monster wegen des in den Polarregionen etwas weniger heißen Meerwassers nicht bis dorthin verirren konnten, denn diese Windgeschwindigkeiten würden noch einmal eine ganz andere Bauweise ihrer Städte erfordern, was wegen der Erdbeben extrem schwierig sein würde.

Schlimm genug waren schon die normalen Stürme, die Antarktika in der Südpolarnacht erreichten, wenn die Sonne am Pol fast sechs Monate lang nicht aufging. Allerdings erreichten sie nie die Zerstörungskraft der Wirbelstürme, die in der aufgeheizten Äquatorregion tobten.Trotzdem waren sie neben den Erdbeben und den Flutwellen das größte Problem.

Jia ließ sich den Flugplan anzeigen. Der Hypersonic raste jetzt seit fast zwei Stunden mit achttausendsechshundert Stundenkilometern durch die Stratosphäre und überflog soeben den antarktischen Polarkreis. Bis zum Festland war es jetzt nicht mehr weit.

Wenige Minuten später war Antarktika bereits zwischen Wolkenlücken zu erkennen. Die Gischt der gewaltigen Brecher des Südmeeres bildeten wie immer eine weiße Linie entlang der Küste.

Der Hypersonic überquerte sie und flog auf die Bergkette des Massif des Aiguilles d'Afrique zu, die parallel dazu am Horizont verlief. Sie erstreckte sich über eine Länge von eintausendfünfhundert Kilometern. Als sie auch die bis zu 2.500 Meter hohen Berge passiert hatten, konnte man schon die ersten Städte von Antarktika erkennen. Sie erschienen wie mattweiße, große runde Glasscheiben, die über die dunkle felsige Landschaft verteilt waren.

Wegen der auch noch im Inland auftretenden hohen Windgeschwindigkeiten von bis zu dreihundertsechzig Stundenkilometern und der extremen UV-Strahlung bei Tag lagen alle Städte unter diesen riesigen Dachkonstruktionen. Bei größeren Städten befanden sich mehrere solcher Schutzkuppeln überlappend direkt nebeneinander.

Links und rechts ihrer Flugroute lagen jetzt Arkhangelsk und Songdo, die beiden größten Städte hier am dreiunddreißigsten östlichen Längengrad. Mit Durchmessern des gesamten Stadtgebietes von dreißig beziehungsweise zwanzig Kilometern stachen sie aus der Landschaft heraus.

Im weiteren Umkreis waren auch kleinere Städte zu sehen. Sie drängten sich dort, wo es die Berge und Fjorde erlaubten, alle am Rand der Zweihundert-Kilometer-Schutzzone, die sie zum Meer hin wegen der Giftgase verrottender Meeresalgen und der Wirbelstürme einhalten mussten, die über Land aber schnell an Kraft verloren.

Die vergleichsweise küstennahe Lage war zur Zeit der Städtegründungen vor rund einhundert Jahren besonders günstig gewesen. Der Kontinent war dort einerseits schon völlig eisfrei, zudem waren die Dämmerungsphasen der Polarnacht in dieser relativ großen Distanz zum Südpol ausreichend lange, sodass die mangelhafte Energieversorgung für die Beleuchtung zu Beginn der Besiedlung kein allzu großes Problem gewesen war.

Heute gab es diese Beschränkung natürlich nicht mehr und viele neue Städte lagen auch im Inneren des Kontinents und direkt am Pol. Zu Beginn der Besiedlung hatte es dort nur kleine Bergbausiedlungen gegeben.

Die maximale Größe der Städte in Antarktika beruhte vor allem auf zwei Faktoren.

Erstens wurde die Anzahl der Bewohner von der Regierung streng kontrolliert, denn das Gesetz erlaubte nur noch die für alle notwendigen Tätigkeiten erforderliche Anzahl an Menschen.

Das zweite wichtige Ziel der Regierung war, die gesamte Infrastruktur auf geringstmöglichen Energie- und Rohstoffverbrauch hin zu optimieren. Transporte waren daher kaum über größere Entfernungen oder zwischen den Städten notwendig, weil die allermeisten Gegenstände, Nahrungsmittel und Dienstleistungen direkt vor Ort verfügbar waren. Dazu gab es direkt an die Stadtkuppeln angrenzend eigene Industriegebiete und Agrarflächen, beide ebenfalls durch riesige Kuppeln von der Außenwelt geschützt.

Der Stand der Sonne war hier in der Polregion inzwischen wieder sehr niedrig und die Berg- und Fjordlandschaft Antarktikas wurde wegen der länger werdenden Schatten immer besser sichtbar, je näher sie New Urumqi kamen.

Alles war hier viel höher und schroffer als in Svalbard. Einige Flächen erschienen auch leicht gelbgrün, was an den hier existierenden Flechten lag. Eine Humusschicht gab es auch hier kaum, da diese während des Abschmelzens des Eispanzers zum größten Teil fortgeschwemmt worden war. Nur in ganz besonders windgeschützten Tälern ohne Abfluss existierte sie noch. Lagen diese in ausreichend kühler Höhe und waren sie zudem durch hohe Felswände vor direktem Sonnenlicht geschützt, wuchs dort vereinzelt auch eine Zwergkiefernart. Sie erreichte kaum zwanzig Zentimeter Höhe und war die einzige im Freien vorkommende Pflanzenart Antarktikas.

Die Landschaften waren daher auch ähnlich monoton wie auf den anderen Kontinenten. Nur in manchen Jahren gab es etwas Abwechslung, wenn am Ende des Polarwinters unter ganz besonders günstigen Bedingungen etwas Schnee auf den Gipfeln der wenigen Viertausender liegen blieb, wenn auch nur für wenige Stunden.

Jia musste plötzlich an den alten Eisschild denken, der Antarktika vor der Klimakatastrophe für Millionen von Jahren bedeckt hatte. Sie schaltete die Cenozoic-Ansicht ein, sodass sie in ihrer Eyefoil eine Simulation sehen konnte, wie der Kontinent vor dreißig Millionen Jahren vergletscherte.

Die schwarzbraune Landschaft unter ihr färbte sich sofort vollständig grün mit bläulichen Wasserflächen, so wie sie zu dieser Zeit ausgesehen hatte. Wie bei Schneefall in einem Zeitrafferfilm wuchs darauf jetzt eine weiße Schicht, die innerhalb einer halben Minute den gesamten Kontinent unter sich begrub. Danach war nur noch eine monotone, weiße Oberfläche zu sehen, unter der in Polnähe selbst die höchsten Bergspitzen verschwunden waren. Es war fast als ob die Landschaft mit schneeweißer Farbe zugegossen worden wäre.

Die dazu angezeigten Daten waren eigentlich unfassbar. Vor etwa einhundertsechzig Jahren begann dieser bis zu viertausend Meter dicke Eispanzer durch sehr warme Meeres- und Luftströmungen, die unvorstellbare Mengen warmer, monsunartiger Niederschläge mit sich brachten, immer schneller abzuschmelzen. Das Regen- und Schmelzwasser ergoß sich in tausenden riesigen Strömen von der Größe des Kongo, Rio Negro oder sogar des Amazonas in die Meere. Das Inlandeis wurde so innerhalb weniger Jahrzehnte vollständig zerstört.

Ganz ähnliche Vorgänge waren auch in Grönland aufgetreten. Zusammen mit dem Schmelzen aller Permafrostböden in Amerika und Eurasien ließen sie den Meeresspiegel in nur knapp achtzig Jahren um fünfundneunzig Meter ansteigen.

Jia schaltete die Ansicht des Eisschilds wieder ab. Der Anblick auf das monotone Weiß war ähnlich langweilig wie zuvor der Blick auf die Wolkendecke des Südatlantiks. An ihrem nächsten Punkt zum Pol, der hier rund eintausend Kilometer rechts von ihnen lag, überquerten sie die Sichuan-Berge. Die große Anzahl Seen dort war durch Bergstürze und Erdrutsche aufgrund der Erwärmung und der Erdbeben entstanden.

Der Hypersonic hielt weiter auf New Urumqi zu, das auf dem hundertvierzigsten östlichen Längengrad lag. Die Entfernung von hier betrug noch achthundertfünfzig Kilometer, die Zeit bis zur Landung knapp vierzig Minuten.

Die Anzeige, sich zu setzen, erschien. Nach zwei Minuten, als alle Passagiere wieder Platz genommen hatten, drehten sich die Sitze gleichzeitig und lautlos um einhundertachtzig Grad. Der Hypersonic reduzierte daraufhin spürbar die Leistung seiner Triebwerke und ging in den Sinkflug über. Sie wurden zunehmend in ihren Sitz gedrückt. Diese Bremsphase dauerte viel länger als die Beschleunigungsphase, weil wegen der hohen Geschwindigkeit nur kleine Bremsklappen verwendet werden konnten.

Der Hypersonic verlor schnell an Höhe. Es traten jetzt doch ein paar leichte Vibrationen wegen der dichter werdenden Atmosphäre auf, sie waren jedoch nicht zu vergleichen mit den Erschütterungen, die es sonst immer gegeben hatte. Jia schaute besorgt zu Gaia. Diese aber strahlte und saß ganz entspannt in ihrem Sitz.

»Das gefällt mir!« sagte sie fast lachend und genoss die perfekte Technik.

Nach zwanzig Minuten Sinkflug waren sie bereits auf sechzehntausend Metern und nur noch zweitausendsiebenhundert Stundenkilometer schnell. Sie hielten diese Höhe und Geschwindigkeit für drei Minuten, bis sich die Außenhaut ausreichend abgekühlt hatte. Dies war wegen der Bremsschirme notwendig, die sonst verbrannt oder zumindest beschädigt würden, wenn die Luft beim Vorbeiströmen am aufgeheizten Rumpf zu stark erhitzt würde und danach mit den Schirmen in Kontakt geriet.

Zehn Minuten vor der Landung waren links schon die riesigen Kuppeln von New Urumqi zu erkennen. Sie schimmerten weißorange in der tief stehenden Sonne und erstreckten sich bis zum Horizont unter dem leicht bewölkten Himmel. Selbst der vergleichsweise kleine Hyperport in direkter Nähe war zu sehen.

Da der Hypersonic noch zu hoch war, flog er zunächst wieder aufs Meer hinaus, um dort nach einer langgezogenen Linkskurve auf Gegenkurs für die Landung zu gehen.

Jia checkte die Anzeige der Windgeschwindigkeit. Neunzig Stundenkilometer aus dreißig Grad West, konstant. Auch die Landung würde völlig reibungslos verlaufen.

Draußen huschten die ersten Nebelfetzen der Schönwetterwolken vorbei. Der Hypersonic durchstieß die Wolkenschicht und stellte den Bug für die letzten zwei Flugminuten steiler an, um die Anfluggeschwindigkeit ausreichend zu verringern.

Die letzten Sekunden vor dem Aufsetzen durchflogen sie die fünftausend Meter lange Einflugschneise, die sich hier ähnlich wie in Svalbard zwischen riesigen Schutzwänden befand. Daneben war für einen Moment auch der steile, röhrenförmige Starttunnel zu sehen, der wegen der starken Beben nicht unterirdisch angelegt werden konnte. Er war daher auch nicht so lang, was jedoch wegen der weniger starken Stürme in Antarktika kein Problem war.

Der Hypersonic wurde plötzlich noch stärker abgebremst, weil die vor ihnen liegende Landehalle gleichzeitig einen riesigen Windkanal darstellte, der die landenden Maschinen durch starken Gegenwind schon in der Einflugschneise verlangsamte.

Beim Aufsetzen direkt vor der Halle gab es nicht die geringste Vibration, was sowohl an der perfekt glatten Landebahn als auch an der Drehgeschwindigkeit der Räder lag, die genau der Geschwindigkeit des Hypersonics im Moment der Bodenberührung entsprach.

Einen Moment später verschwand er darin und wurde von dem dort noch stärker gebündelten Luftstrom und den drei riesigen Bremsschirmen am Heck abgebremst, die gerade entfaltet worden waren. Kurz vor Erreichen des Hallenendes kam die Maschine zum Stillstand.

Jia schaute auf die Streckendaten. Es war 11: 23 Uhr. Flugzeit 2: 58 Stunden.

Ein perfekter Flug! Zwanzigtausend Kilometer, knapp

drei Stunden…

Sie war zufrieden. So schnell und angenehm wie heute waren sie noch nie von Svalbard nach New Urumqi gereist.

Das Privileg, das der Flug in diesem neuen Modell darstellte, war als Beweis dafür anzusehen, beruflich besonders erfolgreich zu sein. Dieser Hypersonic stand eindeutig für die Leistungsfähigkeit ihres neu aufgebauten Staates und seines Gesellschaftssystems.

Auch Gaia fühlte sich zum ersten Mal nach einem Flug richtig gut und war sogar begeistert, weil sie vor weiteren Flügen nach Svalbard keine Angst mehr haben würde. Der Hypersonic hatte durch die Ruhe an Bord ihr Vertrauen gewonnen und auch der Blick auf die Erde und den Weltraum war atemberaubend gewesen.

Leider war dieses Erlebnis durch die anstehenden Probleme und die Ungewissheit im Projekt für beide getrübt.

Als die Maschine zum Stillstand gekommen war, endete der Datenstream der Außenansicht.

Die Eyefoils meldeten jetzt

>> Willkommen in New Urumqi! <<

Der Zusatz 'New' im Namen der Stadt hatte sich bis heute gehalten, obwohl es natürlich keine Verwechslungsmöglichkeit mit dem alten Urumqi in Zentralasien mehr gab. Bei allen anderen in Antarktika neu gegründeten Städten, die in der Gründungszeit ebenfalls das Attribut 'New' trugen, ließ man dieses heute generell weg. Stattdessen sprach man in historischem Zusammenhang von den Städten der alten Welt beispielsweise vom 'alten' Paris oder dem 'alten' Tokio.

Jia, Gaia und die anderen Passagiere verließen die Maschine wieder über den Mover und gingen direkt zum Hauptgebäude. Wie immer stach das riesige Symbol von Antarktika über dem Portal ins Auge, einer zehn Meter großen Ausführung, die einem Satellitenbild ähnelte. Es stellte die Inselwelt des Kontinents in spiegelndem Silber vor einer kreisrunden hellblauen Hintergrundfläche dar. Diese wurde von dem Kreis der zweihundertsieben kleinen, zehnstrahligen Sterne umrandet, von denen jeder eine etwas andere Farbe besaß. Sie repräsentierten die ursprünglichen Nationalitäten der alten Welt, deren Nachkommen heute in Antarktika lebten.

Jia und Gaia warfen einen kurzen Blick darauf, als sie darunter hindurchgingen.

Wie sie schon beim Abflug erfahren hatten, gab es heute leider keinen direkten Flug nach Byrd Island zum Laborkomplex, weil das Wetter dort so schlecht war, dass nicht einmal ein Kopter landen konnte. Das gab es selten, denn diese kamen normalerweise auch mit Extremwetter zurecht. Sie mussten daher das Sub nehmen, weil sich die Wetterlage auch die nächsten Stunden nicht ändern würde. Grundsätzlich war das kein Problem. Die schnellen U-Boote stellten überall eine zuverlässige Verbindung zwischen den Städten an der Küste und den Inseln her, auch wenn sie natürlich deutlich länger unterwegs sein würden.

Obwohl New Urumqi als einzige Stadt Antarktikas direkt am Meer lag, gab es von hier keine direkte Sub-Verbindung nach Byrd Island, weil die Gebirgskette der antarktischen Rockies im Weg lag. Jia und Gaia mussten deswegen zunächst nach Narvik an der Pazifikküste auf der anderen Seite der Rockies weiterfliegen. Von dort aus verkehrte ein sehr schnelles Sub zwischen dem Festland und dem Byrd Island Archipel, das noch über eintausend Kilometer entfernt war. Für diese jetzt noch anstehende letzte Etappe zu ihrem eigentlichen Ziel würden sie weitere sieben Stunden benötigen.

Nach Narvik selbst war es nicht weit, nur zwanzig Minuten mit dem Kopter. Die Station wurde zu jeder vollen Stunde direkt ab dem Kopterport von New Urumqi angeflogen, der gleich auf der anderen Seite des Terminals lag.

Jia und Gaia gingen durch die langgezogene Verbindungshalle hinüber, vorbei an einem Automaten für Getränke und Snacks. Jia ließ sich einen Fastr und einen Wako geben. Dieser Energydrink war zurzeit ihr Lieblingsgetränk. Auch jetzt entschied sie sich eigentlich nur wegen des Geschmacks dafür, nicht weil sie sich müde fühlte.

Der Fastr war ein kleines ringfömiges, süßes Mürbgebäck, das im Inneren einen Kern aus süßer, dunkler Schokolade besaß. Sie liebte diese Kombination ganz besonders, nicht zuletzt weil sie auch den Appetit nahm.

Gaia nahm sich nur einen Vibi mit einer Flasche Wasser. Im Gegensatz zu Jia versuchte sie, so natürlich wie möglich zu leben und mied alle künstlich erzeugten Nahrungsmittel. Der Vibi war ein vitamin- und mineralienreicher Snack aus Seetang, der wie ein marmoriertes, kleines Baguette aussah.

Außer Gaia und Jia gingen nur wenige Passagiere an Bord des Kopters. Das war nicht überraschend, denn Narvik war eigentlich nur ein Außenposten mit einer Hafenanlage, von der aus die Subs zu den Laboren auf Byrd Island und Finistere fuhren. Der fünfhundert Kilometer lange Flug führte über die Fjorde und zwischen den noch sonnenbeschienenen Gipfeln der Drei– und Viertausender hindurch.

Jia und Gaia hatten gerade ihren Imbiss verzehrt, als der Kopter bereits wieder stark abbremste und in den Sinkflug ging. Die Kuppel von Narvik lag schon in Sichtweite. Kurz darauf schwebten sie bereits über das flache, runde Dach. Es erstreckte sich über einem flachen Ausläufer der Berge, etwa fünf Kilometer von der Küste entfernt. Dieser große Abstand schützte den Hafen vor den riesigen Wellen. Für die Subs war er vom Meer aus durch einen Unterwassertunnel erreichbar.

Während sie dem Ziel-Gate in der mittleren Kuppelregion näher kamen, konnten Jia und Gaia durch die Fenster des Kopters schon sehen, wie sich das Schleusentor dort öffnete. Der Kopter ging tiefer und flog direkt auf diese Öffnung zu. Kurz bevor sie diese erreichten, bremste er fast bis zum Stillstand ab und schwebte in einem fast senkrechten Abwärtsflug in die Schleuse hinein. Deren Inneres erschien wie eine sterile weiße Kammer. Jia und Gaia beobachteten, wie sich die obere Abdeckung sofort wieder zurückbewegte und das Kuppeldach nach außen hin verschloss.

Diese Art von Zugang zu den Kuppeln schützte das Innere und die dort befindlichen Anlagen und ermöglichte so den Koptern die Landung bei jedem Wetter.

Ein paar Sekunden später öffnete sich auch die Abdeckung unter ihnen und gab den weiteren Weg nach Innen auf den Gebäudekomplex von Narvik und dessen Hafenbereich frei. Der Kopter schwebte langsam weiter und setzte direkt am Ende des Hauptpiers auf.

Das Sub wartete bereits auf sie.

Sein Anblick steigerte bei Jia und Gaia weiter die Anspannung. Das vor ihnen liegende nächste Etappenziel, Byrd Island, rückte sichtbar näher und damit auch der Zeitpunkt, bis zu dem sie die Lösung gefunden haben mussten.

Natürlich freuten sie sich auch, Ray und Mian bald wiederzusehen.

Fixin

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