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Rückblick 28. April 2045

Asien / Tibet / Gurla Mandhata

Die Wettervorhersage für die nächsten vier Tage war perfekt für ihr Vorhaben. Die Zeit Ende April und Anfang Mai war bekanntermaßen dafür am besten geeignet. Laura, Matteo, Awais und Fahad hatten drei Tage im Basiscamp verbracht, um sich zu akklimatisieren und die bestmögliche Wettervorhersage abzuwarten. Dieser zufolge sollten die Tagestemperaturen während der nächsten drei Tage selbst auf 7.000 Metern Höhe nicht mehr unter minus fünf Grad Celsius fallen. Niederschlag würde es, wenn überhaupt, nur in mittleren Lagen in Form von Tau geben und die Windstärke selbst im Gipfelbereich bei maximal Stärke drei liegen. Damit waren keinerlei Probleme während der Besteigung zu erwarten. Momentan gab es einen ganz leichten, angenehm warm fächelnden Südostwind. Der Himmel war wolkenlos und von einer intensiven Bläue, wie es sie nur in Hochgebirgsregionen geben konnte. Wie bei solchen Wetterverhältnissen in dieser Höhe üblich, war die Fernsicht extrem gut. Ganz im Westen in ungefähr einhundertdreißig Kilometern Entfernung konnte man den weißen Gipfel des Nanda Devi gut erkennen, dem mit knapp achttausend Metern zweithöchsten Berg Indiens. Er war neben dem Gurla Mandhata einer der wenigen von hier aus sichtbaren schneebedeckten Gipfel.

Sie hatten Lager-1 um 8: 30 Uhr Jing-Jin-Ji-Zeit kurz nach Sonnenaufgang verlassen. Es befand sich in 7.150 Metern auf der Nordseite des Gurla Mandhata. Etwa zu diesem Zeitpunkt und von ihnen zunächst noch unbemerkt, fing die lokale Wetterlage an, sich in einer nie da gewesenen Geschwindigkeit zu verändern.

Jetzt war es 9: 40 Uhr. Die Temperatur lag schon fast wieder bei Null Grad Celsius. In der Nacht hatte es entgegen der Vorhersage bis hinunter auf 5.500 Meter ganz leicht geschneit. Der Schnee schmolz aber schon wieder und war bis jetzt auf etwa 6.500 Meter wieder vollständig verschwunden.

Laura schaute auf den Höhenmesser. Nach gut einer Stunde Aufstieg zeigte er schon knapp 7.450 Meter an. In wenigen Minuten würden sie schon den Gipfelgrat erreichen. Von dort würde der schnee- und eisbedeckte Gipfel zu sehen sein. Von diesem trennten sie jetzt nur noch etwa 250 Höhenmeter und eine weitere Stunde.

Noch vor wenigen Jahren war die gesamte Bergregion bis hinunter auf etwa 5.000 Meter von Eis und Schnee bedeckt gewesen. Heute musste man während des gesamten Anstiegs bis zu einer Höhe von fast 7.450 Metern nur noch mehr oder weniger steile Hänge überwinden, die von unspektakulärem Gesteinsschutt bedeckt waren.

Auch die wenigen Felsgrate boten keine bergsteigerischen Herausforderungen. Nur das auf dem Gipfel noch vorhandene Eis war der Grund für sie gewesen, den Gurla Mandhata zu besteigen, denn es war klar, dass es nur noch wenige Jahre existieren würde. Sie wollten dieses vergängliche Stück Natur selbst einmal erleben.

Als sie jetzt direkt auf der Eiskappe standen waren sie von deren Anblick allerdings sehr enttäuscht, denn sie war von einer dunkelgrauen, mehrere Millimeter dicken, geschlossenen Schicht aus feinen Rußteilchen bedeckt. Dass sie sich schon auf dem Eisfeld und unteren und flacheren Teil des Gletschers befanden, hatten sie überhaupt erst nach einiger Zeit bemerkt, denn der Wind hatte hier über Nacht gewaltige Mengen Ruß abgelagert. Sie mussten von weit entfernten Wald- oder Moorbränden stammen.

Obwohl der Ruß durch seine Konsistenz eine gute Haftung auf dem Eis vermittelte, legten doch alle vorsichtshalber ihre Steigeisen an. Im letzten Teil kurz vor dem Gipfel würden sie diese ohnehin benötigen, da der Anstieg dort noch steiler werden würde.

Seit rund zehn Jahren traten überall auf der Erde Wald-, Busch- und Moorbrände in einer absolut beängstigenden Häufigkeit auf. Sie dauerten oft monatelang und zerstörten riesige Gebiete. Man konnte den zeitlichen Verlauf und das Ausmaß dieser Ereignisse auch hier oben im Schnee gut erkennen. Während des weiteren Anstiegs kamen sie an einer Vielzahl von Schneeformationen vorbei, an deren teilweise abgeschmolzenen Rändern abwechselnd die Schichten von niedergegangenem Ruß und Schnee zu sehen waren. Die Dicke der Rußschichten reichte von wenigen Millimetern bis zu etwas mehr als einem Zentimeter, während der Schnee dazwischen meist mindestens einige Zentimeter dick war. Sie bildeten so ein schwarzweißes Streifenmuster, wobei auffiel, dass die Rußschichten nach oben hin dicker wurden. Das zeigte deutlich, dass die Brände in den letzten Jahren immer größere Ausmaße angenommen hatten.

Das alte Gletschereis aus der Zeit vor dem Klimakollaps, das an einigen Eisabbrüchen ebenfalls zu sehen war, war dagegen völlig frei von Verunreinigungen. Es erschien hellblau und war klar wie Glas.

Anstatt wie erhofft über ein gleißend helles Schneefeld in Richtung Gipfel zu steigen, mussten sie jetzt ein Gelände durchqueren, das sich farblich nur wenig von dem bisherigen, steinigen und grauschwarzen Untergrund absetzte. Allerdings bot das Eis unter der Schneedecke eine gleichmäßigere Oberfläche, auf der sie relativ schnell vorankamen, trotz des immer stärker werdenden Südwinds. Das Eis war durch Wärmeeinbrüche immer wieder geschmolzen, wodurch seine ursprünglich zerklüftete Oberfläche eingeebnet und ganz glatt geworden war.

Am Ende der Eisfläche führte ein schmaler Felsgrat nach links weiter. Als sie diesen erreicht hatten und auf diesem entlang in Richtung Gipfel hinaufstiegen, konnten sie erkennen, dass zu beiden Seiten auch schon viele weitere Felsbrocken selbst aus dem alten, hellblauen Eis herausragten. Es war in der Umgebung des Grats nur noch wenige Meter dick und man konnte sich leicht ausmalen, dass es auch im gesamten Gipfelbereich nur noch sehr wenige Jahre existieren würde. An einigen Stellen war es schon jetzt so weit weggeschmolzen, dass die darunterliegende Felsoberfläche des Berges zu erkennen war.

Als sie vor zwei Wochen in Darchen angekommen waren, hatten sie ihr Reise- und Expeditionsziel zum ersten mal mit eigenen Augen gesehen. Der strahlend weiße, schnee- und eisbedeckte Gipfel des Gurla Mandhata stach sechzig Kilometer weiter südlich jenseits der Hochebene aus der graubraunen Landschaft mit dem dunkelblauen Himmel hervor. Er war der höchste Berg der Region und damit der letzte, dessen Gipfel noch Reste eines Gletschers trug. Auf allen Bergen mit Höhen von weniger als 7.400 Metern waren diese bereits vollständig abgeschmolzen.

Darchen lag am Fuße des Kailash, dem für Hindus und Buddhisten heiligen Berg. Es war seit Jahrhunderten der Hauptort für Pilger, die sich von dort aus auf die Wanderung rund um den Berg begaben und auf diese Weise Erleuchtung und Erlösung von ihrem Leid suchten.

Vor der Klimakatastrophe hatte sich dessen schneebedeckter Gipfel einsam von den braunen und neben ihm monoton wirkenden Bergen seiner Umgebung abgehoben. Aus der Nähe oder von der vorgelagerten Hochebene aus betrachtet musste er wegen seiner Pyramidenform wie ein hell strahlender Kristall ausgesehen haben. In den Augen der Menschen konnte er daher nur ein von Göttern erschaffenes höheres Wesen sein. Die tibetischen Buddhisten, die Hindus sowie auch die Anhänger einiger anderer Religionen wie der Bön-Mythologie, verehrten ihn bis heute als heiligen Berg, auch wenn er diesen einzigartigen Anblick wegen des fehlenden Eises inzwischen nur noch an wenigen Tagen bot, wenn Schnee gefallen war.

Aus Respekt vor den religiösen Gefühlen der Gläubigen durfte er von niemandem bestiegen werden. Die chinesischen Behörden vergaben aus diesem Grund keine Genehmigungen. Die Attraktivität des Kailash war allerdings sowohl für Bergsteiger als auch für neue Anhänger des Buddhismus nicht mehr so groß wie zu den Zeiten, als er noch einen eisbedeckten Gipfel besaß. Für viele hatte ihn heute der Gurla Mandhata in seiner religiösen Bedeutung abgelöst, der wegen seines um über 1.000 Meter höheren Gipfels als einziger Berg der Umgebung noch eine Eiskappe besaß. Für dessen Besteigung war eine Genehmigung problemlos zu bekommen, da in der neuen religiösen Strömung die Vorstellung herrschte, dass die einzige Möglichkeit zur Rettung des Klimas darin bestand, den beschwerlichen Aufstieg zum einzigen noch vorhandenen schnee- und eisbedeckten Gipfel auf sich zu nehmen und damit den Göttern zu zeigen, wie wichtig ihnen der Erhalt des Eises und damit des Klimas sei. Die konservativen Anhänger des Buddhismus und Hinduismus lehnten diese neue Glaubensrichtung natürlich ab, nicht nur weil die Besteigung extrem aufwendig und wegen der enormen Höhe sehr gefährlich war. Sie kam damit nur für ganz wenige Gläubige überhaupt in Frage. Sie verwiesen auch auf die alten Legenden. Durch die Aufwertung des Gurla Mandhata sahen sie sich zurückgesetzt und die Anhänger des konkurrierenden Böen gestärkt.

Seit einigen Jahren trafen sich in Darchen immer mehr Anhänger dieser neuen religiösen Strömung. Es waren insbesondere jüngere Menschen, in der Hoffnung, damit Erleuchtung für sich und die Verursacher der Klimakatastrophe zu finden und vielleicht doch noch die völlige Zerstörung der Lebensgrundlagen zu verhindern.

Die Klimasituation hatte sich in den letzten Jahren weltweit dramatisch verschlechtert. Im Jahr 2040 waren bereits die ersten Küsten großflächig untergegangen. Holland und große Teile Norddeutschlands existierten schon nicht mehr. Hamburg musste 2043 aufgegeben werden. Bangkok versank ebenfalls und wurde 2042 von Taifun Meng und der damit verbundenen Flut endgültig zerstört. In Kalifornien gingen San Francisco und Stockton immer mehr im Pazifik unter. Tianjin in China war bereits zur Hälfte vom Meer überflutet und gab so einen Vorgeschmack auf das, was in einigen Jahren auf die Hauptstadt Jing-Jin-Ji, das alte Beijing, zukommen würde. Auch das Nil-Delta in Ägypten und dessen Hauptstadt Kairo waren bereits nicht mehr bewohnbar. Millionen Menschen waren weltweit auf der Flucht in hochgelegene Gebiete.

Weil sie keine Möglichkeiten fanden, die offensichtlich bevorstehende völlige Zerstörung ihrer Welt zu verhindern, flüchteten sich viele Menschen in Religionen oder andere spirituelle Welten.

Auch Laura war auf diese Weise zur Buddhistin geworden. In ihrer frühen Jugend war sie nie besonders interessiert gewesen an spirituellen Dingen, obwohl sie sich auch damals schon große Sorgen um ihre Zukunft gemacht hatte. Die wetterbedingten Katastrophen beherrschten schon damals zunehmend die Medien, die Gespräche und das Handeln der Menschen. In den letzten Jahren hatte sich die reale Situation aber so verschlechtert, dass sie in panischer Angst vor einer weiteren Zuspitzung Hoffnung in dieser alten Lehre suchte. Deren Ziel war es, das Wesen der Menschen zu veredeln, damit diese dadurch ein besseres Leben erlangen konnten. Negative Eigenschaften wie Gier, Neid und Unwissenheit sollten die Menschen durch die Lehren Buddhas ablegen können. Genau diese menschlichen Schwächen waren nach Lauras Überzeugung die Hauptgründe für die Entstehung der Abwärtsspirale gewesen, in der sich die Welt heute befand. Die Lehre Buddhas erschien ihr daher das einzig richtige Mittel zu sein, um die totale Zerstörung der Lebensgrundlagen zu verhindern. Um ihren Beitrag dazu zu leisten, war sie mit ihrem Mann Matteo aus Deutschland nach Nepal gefahren. In Darchen hatten sie die beiden Freunde und Forschungskollegen ihres Mannes aus Pakistan, Awais und Fahad, getroffen und sich zwei einheimische Guides genommen.

Matteos Freunde waren zwar keine Anhänger des Buddhismus oder anderer Religionen, aber ebenso begeisterte Bergsteiger. Für Laura war die Besteigung des Gurla Mandhata jedoch vor allem ein spiritueller Akt.

Weniger religiöse Zeitgenossen zogen es vor, sich auf die Suche nach den Hauptverursachern der Klimakatastrophe zu machen. Überall auf der Erde strengten sie Prozesse gegen diejenigen an, die in ihren Augen schuld daran waren. Vielen ging es dabei nur um die Sache an sich, andere wollten vor allem finanzielle Entschädigungen erstreiten für wetterbedingte Schäden und Verluste. Die vernichteten Werte waren aber derart groß, dass nur die wenigsten Geschädigten entsprechenden Schadenersatz bekamen. Die geforderten Strafmaße wurden im Laufe der Jahre und den größer werdenden Schäden immer höher. Zu Beginn der Klagewelle, etwa um das Jahr 2040, war auch in schweren Fällen nur Sachbeschädigung Gegenstand der Anklage. Inzwischen war aber die weltweite Situation schon so schlimm, dass die als Hauptverursacher angesehenen Personen des Ökozids angeklagt wurden, also der völligen Zerstörung der Lebensgrundlage aller Menschen.

Parallel dazu wurde immer häufiger auch der noch weitergehende Vorwurf der fahrlässigen Tötung erhoben, der in seiner ultimativen Form als Anthropozid bezeichnet wurde. Mit diesem neu eingeführten Straftatbestand war die Vernichtung der gesamten Menschheit gemeint. Verfahren mit dieser Anklage wurden nicht mehr von lokalen Gerichten entschieden, sondern fanden vor dem Internationalen Strafgerichtshof statt. Dieser hatte früher seinen Sitz in Den Haag in Holland gehabt. Nach dem Untergang des Landes hatte man ihn zunächst nach Genf in die Schweiz verlegt, er war aber schon bald auf Druck Chinas nach Urumqi, der sich rasend schnell zur künftigen Hauptstadt Chinas entwickelnden Mega-Stadt im Nordwesten des Landes, verlegt worden. Außerdem hatte China mit seiner weltweiten Machtdominanz durchgesetzt, dass das alte europäisch-angelsächsische Rechtssystem ab diesem Zeitpunkt durch die chinesische Rechtsordnung ersetzt wurde.

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Auf dem letzten Wegstück entlang des Gipfelgrats wurde der Südostwind immer stärker. Da sie ihm hier ungeschützt ausgesetzt waren, kamen sie deutlich langsamer voran als geplant. Erst um 10: 55 Uhr erreichten sie den unteren Gipfelbereich. Es handelte sich um eine relativ ebene Fläche, die übersät war mit Stupas, den kleinen privaten Denkmälern der Gläubigen, sowie den an Leinen aufgehängten bunten kleinen Fahnen, die frühere Expeditionen hier gelassen hatten. Die Fahnen hätten vor dem dunkelblauen Himmel mit den wenigen, an weiße Mandeln erinnernden Cirrocumuluswolken, eigentlich einen fröhlichen Anblick bieten können, wenn nicht überall der dunkelgraue Ruß gelegen hätte. Auch war der Wind inzwischen so stark, dass sie laut knatterten, was zusammen mit dem scharfen Pfeifen der Befestigungsleinen bedrohlich wirkte.

Von hier oben hatte man den Blick auf zwei ganz unterschiedliche Landschaften. Mit Blick nach Süden erstreckten sich zur linken Seite hin die parallel zueinander verlaufenden Bergkämme des nepalesischen Himalaya, nach rechts war der indische Teil zu sehen. Diese Landschaft sah aus wie eine Gruppe versteinerter Brandungswellen, die auf einen Strand zuliefen.

Im Südwesten war in fünfundsechzig Kilometern Entfernung der 7.100 Meter hohe Api schwach zu erkennen. Als einzig markanter Berg im Süden erhob sich der Saipal mit 7.000 Metern und bildete damit in dieser Richtung den Horizont. Östlich, im Gegenlicht der Morgensonne, verliefen sich die vergleichsweise unspektakulären Bergkämme des nepalesischen Himalaya.

Der Blick nach Norden bot ein völlig anderes Bild. Hier erstreckte sich 2.000 Meter unterhalb ihrer momentanen Position das tibetische Hochland. Die beiden großen Seen Rakshastal und Manasarovar zogen hier den Blick auf sich, bevor dahinter die Berge des Transhimalaya den Horizont bildeten. Am vorderen Rand dieser Bergkette war die Pyramide des Kailash zu erkennen, die von hier aus aber keineswegs spektakulär erschien.

Die gesamte Region aus Hochland und Hochgebirge war nicht nur für Anhänger der Religionen etwas ganz besonderes. Das tibetische Hochland war das Quellgebiet riesiger Ströme, wie des Mekong, der vor allem für Thailand, Vietnam und Kambodscha wichtige Fluss, des Brahmaputra, der durch den Norden Indiens und Bangladesh floss, oder, ganz im Osten des Hochlandes gelegen, des Yangtze, einem der grössten Flüsse Chinas. Aus dem Rakshastal floss der Satluj nach Westen ab, wo er letztlich in den Indus mündete, dem größten Fluss Pakistans.

Die Wetter- und Klimaverhältnisse in der Region waren daher von größter Bedeutung für riesige angrenzende Gebiete und die darin lebenden Millionen von Menschen. Dass sich dies heute zum ersten Mal mit seiner ultimativen Gewalt zeigen würde, ahnte keiner in der Gruppe.

Für den Gipfelaufenthalt hatten sie etwa eine Stunde eingeplant. Matteo, Awais und Fahad begannen auf dem flacheren Bereich vor dem eigentlichen Gipfelgrat, aus großen Steinen die Stupa zu errichten, die sich Laura als Votivgabe gewünscht hatte. Diese sollte sich von den vielen anderen hier vorhandenen, nur aus Steinen aufgebauten, traditionellen Tempeln deutlich unterscheiden. Laura hatte dazu eine solarbetriebene Wetterstation sowie eine Rundumkamera einschließlich Funkeinheit mitgebracht. Matteo, Awais und Fahad würden diese Geräte auf der Stupa fest mit Stahlseilen und in den Fels gebohrten Halterungen fixieren.

Der eigentliche Gipfel des Gurla Mandhata lag einhundertfünfzig Meter entfernt und noch einmal fünfzig Meter höher als die Stupafläche, auf der sie sich gerade alle befanden. Er verdeckte mit seinem Westgrat einen Großteil des Panoramas und des Himmels.

Laura machte sich daran, auch noch diesen obersten letzten Teil des Gipfels zu besteigen, um von dort Aufnahmen mit der Kamera von der Himalayakette im Süden und des tibetischen Hochlandes im Norden zu machen. Nur von diesem höchsten Punkt hatte man einen uneingeschränkten Rundumblick.

Zusammen mit den beiden tibetischen Guides brach sie auf. Um dem starken Südwind weniger ausgesetzt zu sein, traversierten sie zunächst eine einhundert Meter lange Strecke auf der Nordseite des Gipfels.

Das Gelände war dort ziemlich steil, sodass sie immer wieder auch die Eispickel verwendeten. Erst als sie sich direkt unterhalb des Gipfels befanden, begannen sie zu ihm aufzusteigen. Auf halber Höhe trafen sie auf eine weniger steile Stelle. Laura beschloss, auch dort ein paar Aufnahmen in Richtung Norden zu machen.

Sie war von der weiten vegetationslosen Landschaft, die sich unter ihr erstreckte, fasziniert. Die Klarheit der Luft hatte etwas Überirdisches. Die beiden tiefblauen Seen in der fast ebenen, beige und braun schattierten Landschaft erschienen ihr wie Edelsteine. Links lag der Rakshastal mit dem Kailash im Hintergrund, rechts der den Buddhisten heilige Manasarovar.

Zusammen mit den Bergketten des Himalaya, die sie auf der Südseite des Gipfels noch aufnehmen würde, könnte sie eine fantastische Panoramaaufnahme für zuhause machen. Diese würde sie wie einen 360-Grad-Altar nutzen können und damit immer und überall Kraft und Erleuchtung erlangen. Zusammen mit den von der Stupa-Kamera erfassten Bildern und den von ihrer Wetterstation übertragenen Daten würde das Betrachten der Aufnahmen mit einer RD-Brille eine perfekte Illusion der aktuellen Situation hier oben am Gipfel ermöglichen, die kaum von der realen Szenerie zu unterscheiden wäre.

Während sie die Aufnahmen machte, nahm der Wind weiter zu. Es schien dabei immer wärmer zu werden. Laura schaute auf die Anzeige der Thermosensoren, die in ihre Jacke integriert waren. Die Außentemperatur lag bei plus acht Grad Celsius. Das war für diese Höhe absolut außergewöhnlich. Die oberste Schnee- und Eisschicht wurde dadurch schon angetaut.

Wegen des starken Winds würden sie mit Sicherheit nicht länger als nötig auf dem Gipfel bleiben. Laura schaute zurück nach ihrem Mann und seine Freunden. Sie schienen mit dem Aufbau der Stupa noch nicht viel weiter zu sein als zuvor. Der Wind auf der ungeschützten Fläche machte ihnen beim Aufbau offenbar große Probleme.

Laura und die Guides stiegen weiter. Der Wind hatte inzwischen Sturmstärke erreicht und erschwerte den Aufstieg immer mehr, je höher sie kamen. In der sauerstoffarmen Luft hier in fast 7.700 Metern war ohnehin jeder einzelne Schritt eine große Anstrengung und Laura spürte, wie ihre Kraftreserven nachließen, zumal sie auch noch die schwere RD-Spezialkamera im Rucksack hatte.

Laura und die beiden Guides waren nur noch etwa zehn Meter unterhalb des Gipfels, als sie schlagartig von tiefem Schatten getroffen wurden. Laura und die Guides erschraken zutiefst und rissen reflexartig ihren Kopf herum nach Osten, wo vor einer Sekunde noch die Sonne geschienen hatte. Am soeben noch fast wolkenlosen Himmel breitete sich jetzt eine schwarze Wolkendecke rasend schnell nach Norden und hin zu ihnen aus.

Der ohnehin von Ruß überzogene Gipfel lag jetzt in tiefstem Schatten. Die Situation erschien allen sehr bedrohlich. Sie stiegen so schnell sie konnten weiter dem Gipfelgrat entgegen, um sich einen Überblick darüber zu verschaffen, was dieser noch verdeckte. Nach einer knappen Minute und völlig außer Atem hatten sie den höchsten Punkt erreicht.

Der Blick in Richtung Süden schockierte alle zutiefst. Anstatt die Bergketten des Himalaya mit seinen in der Sonne gleißenden, schneebedeckten Sieben- oder Achttausendern vor sich zu haben, deren Anblick sie noch vor einer halben Stunde von der Stupafläche aus kurz genossen hatte, blickten sie jetzt plötzlich in eine riesige schwarze Wolkenwand. Der Himmel und der Horizont im Süden, an dem sich vorhin noch das gesamte Panorama der Bergkette mit dem 7.000 Meter hohen Gipfel des Saipal erhoben hatten, waren dahinter verschwunden.

Aus dem anfänglich starken Wind war inzwischen ein regelrechter Orkan geworden, der die schwarze Wand mit brachialer Gewalt auf sie zu trieb. Es bestand kein Zweifel, dass sie in wenigen Minuten den Gipfel des Gurla Mandhata erreichen würde mit Windgeschwindigkeiten wie in einem Hurrikan, Niederschlagsmengen, die eher Wasserfällen glichen, sowie tausenden Blitzen. Der Berg würde sich in einen tödlichen Hexenkessel verwandeln. Laura stieß einen Schrei des Entsetzens bei diesem Anblick aus.

Den beiden Guides war mit einem Blick klar, dass sie es mit einer extremen Form des Monsuns zu tun hatten. Die Front dieses Regensturms war so schnell aufgezogen, dass es keinerlei Warnungen gegeben hatte. Vor einer derart bedrohlich wirkenden Situation hatten auch sie noch nie zuvor gestanden.

Der Regen setzte schlagartig und mit beängstigender Heftigkeit ein. Die Tropfen folgten dem Orkan, sodass sie hier am Gipfel mehr von unten nach oben als horizontal dahergepeitscht wurden. Eine Bö riss Laura um und sie wurde gegen einen der Guides geschleudert. Beide stürzten zu Boden. Benommen blieb sie für einige Sekunden auf dem Rücken liegen. Das Brüllen des Orkans war inzwischen so heftig, dass eine mündliche Kommunikation nicht einmal mehr mit ihren beiden Guides möglich war. Sie zerrten Laura hinter einen Felsen, der ein wenig Schutz bot.

Durch die dichten Regenschleier sahen sie unten auf der Stupafläche Matteo, Awais und Fahad aufgeregt mit Armen und Händen Zeichen machen, mit denen sie signalisierten, den Gipfelbereich so schnell wie möglich zu verlassen.

Nur den beiden Guides war schnell klar, was in wenigen Minuten noch auf die Gruppe zukommen würde. Nur direkt auf dem höchsten Punkt des Berges würden sie eine Chance haben zu überleben. Sie versuchten, dies Laura mit Handzeichen klar zu machen. Im ersten Moment erschien ihr diese Idee absurd, denn hier würden sie ihrer Ansicht nach am stärksten vom Orkan und den Regenmassen getroffen werden. Ihrer Ansicht nach mussten sie so schnell wie möglich tiefer gelegenes Gelände aufsuchen. Die beiden Guides bestanden aber darauf, hier oben zu bleiben und hinderten Laura mit Gewalt, zu ihrem Mann und den zwei Freunden hinabzusteigen.

Die Lufttemperatur war inzwischen so weit angestiegen und der Regen so stark und dicht, dass der Schnee zusehends schmolz und schnell kleine Bäche über das Eis flossen. Als Laura das sah, begriff sie. Die beiden Guides versuchten auch, Lauras Freunden mit entsprechenden Handzeichen verständlich zu machen, dass sie auf keinen Fall von der Stupafläche absteigen durften.

Die Sicht war jetzt durch den Regen, den Nebel und die Dunkelheit in der gigantischen Wolke so schlecht geworden, dass Matteo und seine Freunde die Warnzeichen, welche die Guides und Laura machten, nicht mehr erkennen konnten. Es blieb für sie völlig unverständlich, warum Laura und die Guides nicht zu ihnen herunterkamen.

In seiner Verzweiflung beschloss Matteo, zu Laura hinaufzusteigen, obwohl er überzeugt war, dass dies auch seinen sicheren Tod bedeuten würde. Als Awais und Fahad seine Absicht bemerkten, handelten sie sofort. Sie packten ihn an seiner Jacke und rissen ihn mit aller Kraft zurück. Mit aufgerissenen Augen starrte er sie an. Sein Puls jagte und er bekam kaum mehr Luft.

Sie haben Recht… es bleibt keine Zeit… sofort hinunter … schoss es ihm durch den Kopf.

Um nicht von dem heranjagenden Unwetter weggerissen und getötet zu werden, traf er die schwerste Entscheidung seines Lebens. Er folgte Awais und Fahad und überließ Laura ihrem Schicksal

Vielleicht schafft sie es …. irgendwie… unvorstellbar … mein

Gott!

Was tun wir ? ….

Zu dritt begannen sie abzusteigen. Alle hofften, dass Laura bei den beiden Guides irgendwie überleben würde, konnten sich das aber eigentlich nicht vorstellen.

Matteo, Awais und Fahad war klar, dass der Abstieg über den exponierten Westgrat wegen des Orkans nicht mehr möglich war. Als schnellster Weg nach unten kam nur die direkte Linie über die steile Nordflanke in Frage. Da hier noch keine Route bis zum Übergang auf felsiges Gelände gespurt war, würde der Abstieg hier deutlich schwieriger sein als über die Aufstiegsroute und wertvolle Zeit kosten. In ihrer Panik stürzten und rutschten sie mehr talwärts, als dass dies noch ein kontrollierter Abstieg gewesen wäre.

Als sie schon etwa zweihundert Höhenmeter hinter sich gebracht hatten und damit nur noch wenige Meter auf dem Gletscher zurücklegen mussten, wurden sie von der ganzen Gewalt der Sturmfront eingeholt.

Zum Brüllen des Orkans kam jetzt noch das ohrenbetäubende Donnerknallen der Blitze, die plötzlich überall um sie herum in nächster Nähe einschlugen. In den niedergehenden Wassermassen war kaum mehr Luft zum Atmen.

Oben auf dem Gipfel kauerten Laura und die beiden Guides dicht zusammen in einer kleinen Vertiefung im Schnee, nur wenige Meter vom höchsten Punkt entfernt. Die weitere Umgebung war hinter den dichten Wasserschleiern verschwunden. Der Schnee und das Eis um sie herum wurden durch die niedergehenden Wassermassen in unglaublichem Tempo abgeschmolzen.

Der Niederschlag war jetzt so stark, dass schon wenige Meter unterhalb des Gipfels regelrechte Bäche ins Tal stürzten.

Es kam so viel Wasser von oben nach, dass diese auf ihrem Weg nach unten rasend schnell zu breiten Sturzfluten anschwollen. Noch im unteren Gletscherbereich hatten sich ihre Wassermassen zu einer geschlossenen, vom Orkan aufgepeitschten Wasserfläche vereinigt, die wie ein einziger riesiger Fluß mit meterhohen Stromschnellen und Wasserfällen rund um den Berg ins Tal stürzte. Alles lockere Gestein und selbst riesige Felsen wurden mitgerissen und bildeten so eine einzige große Schlamm- und Gerölllawine, die erst weit unten in der Hochebene zum Stillstand kam.

Matteo, Awais und Fahad hatten nicht die geringste Chance, zu überleben. Sie wurden vom Wasser mitgerissen und ertranken.

Der Gipfel verlor durch den Niederschlag und die warme Luft, die der Sturm herbeigeführt hatte, innerhalb von einer Stunde seine gesamte Eiskappe.

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