Читать книгу Das Asam Vermächtnis - Rüdiger Woog - Страница 10
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Adi rührte in seinem Teeglas und sah dabei angewidert auf Leos Kaffeehaferl, auf dem die Kelheimer Befreiungshalle auf der einen und die Regensburger Walhalla auf der anderen Seite, beides Bauwerke Leo von Klentze, abgebildet waren.
»Ich werde nie verstehen, wie du dieses Automatengesöff runterkriegst«, sagte er zu Dietz.
»Und mir geht nicht ein, was man nur an Tee finden kann. Ich gebe zu, dass er immer richtig lecker riecht, aber letztendlich schmeckt er dann doch nur nach heißem Wasser.«
»Das ist auch kein normaler Tee, du Kulturbanause«, rief Adnan.
»Das ist echt türkischer Kaçkar. Was Besseres gibt es nicht auf der Welt!«
Aber Leo hörte schon nicht mehr zu. Er hatte an seinem PC die Fenster mit den aktuell zu bearbeitenden Fällen, sprich unzähligen Formularen, Anträgen und Anfragen, kleingemacht und Bilder von historischen Lanzen aufgerufen. Nach einer Weile stieß er auf eine Waffe, die ziemlich so aussah, wie die am vergangenen Freitag in Weltenburg, mit der Gräber ermordet worden war. Leo machte das Bild größer und klickte auf Drucken. Da der Drucker in der Mitte ihrer beider Tische stand, sah Adnan den Ausdruck und blickte fragend zu seinem Kollegen hinüber.
»Ist das so eine Lanze wie die in Weltenburg, von der du mir erzählt hast?«
Dietz nickte.
»Eigentlich hätte ich sie fotografieren sollen, aber dann hätte mir die Landshuter Schnepfe wahrscheinlich noch Handschellen angelegt.«
Adi zog das Bild aus der Druckerausgabe.
»Weißt du was, die sieht aus wie die Lanze des Longinus. Da gibt’s doch hunderte Filme drüber.«
Leo verstand nicht sofort, was sein Kollege meinte.
»Geht’s jetzt um Das Leben des Brian, oder was meinst du?«
»Ich sag’s ja, du bist einfach ein Kulturbanause!«, lachte Adi.
»Nein, Mann. Dies hier ist eine Abbildung der Lanze, mit der der römische Soldat Longinus Jesus am Kreuz in die Seite stach, um zu sehen, ob er noch lebte«, erklärte er.
»Ach so, ja, klar, die Geschichte kenne ich schon. Die deutsch-römischen Kaiser hatten ja immer behauptet, sie in ihrem Besitz zu haben …«
Leo googelte die Lanze des Longinus und bekam sofort über eine Million Treffer.
»Hör mal, hier steht, dass sogar Hitler und Himmler persönlich danach gesucht haben und dass Reste davon in der alten Reichskrone eingefasst wurden. Die Krone befindet sich jetzt in der Wiener Schatzkammer.«
»Klar«, meinte Adi, »das ist wie bei Indiana Jones: Sobald es irgendwo auf der Welt einen sakralen Fetisch gibt, manchmal ist es die Bundeslade, manchmal der Gral, dann sind sofort die Nazis hinterher und wollen damit die Welt erobern, gutes, altes Hollywood eben. Aber letzten Endes sind das alles nur Legenden ohne jeglichen wissenschaftlichen Beleg.«
Leo sah auf die Uhr. Er musste es heute unbedingt pünktlich nach Hause schaffen. Seine Tochter spielte um neunzehn Uhr bei einem kleinen Schultheaterstück mit, worauf er sich schon seit Wochen freute. Michaela hatte Anna und ihm kein Sterbenswörtchen über ihre Rolle verraten, nur so viel, dass es sich um ein lustiges Stück handeln sollte. Aber von Aufregung konnte bei Michaela gar keine Rede sein. Anna hingegen war schon die ganze Woche nervös und auch Leo würde seinen Blutdruck auf die Zerreißprobe stellen, wenn sein kleiner, lispelnder Engel in zwei Stunden die Bühne in der Schulturnhalle betreten sollte. Also fuhr er den PC herunter, schüttete den mittlerweile kalten Milchkaffee runter und steckte den Ausdruck mit der schwarzen Lanze in seine Jackentasche. Gerade wollte er sich von Adi verabschieden, als sein privates Handy läutete. Die Nummer kannte er nicht.
»Ja, hallo, hier Leo Dietz?«, meldete er sich.
»Challo Cherr Dietz, Choffmann-Bühl am Apparat«, meldete sich das andere Ende der Leitung, »wir chatten gestern das Vergnügen.«
»Äh, ja, hallo Frau Hoffmann-Bühl«, erwiderte Leo und schielte genervt zu Adi hinüber, »wieso rufen Sie auf dieser Nummer …«
»Wir chaben mit Tim Gräbers Frau gesprochen«, unterbrach sie ihn schon wieder. Aus einem gewissen Trotz heraus antwortete er nicht, sondern wartete ab, was da noch kommen würde.
»Sie cheißt Katja. Erinnern Sie sich?« Nein, das tat er nicht.
»Tut mir leid, ich habe zwar einmal gehört, dass Tim geheiratet hätte, aber ich wusste nicht, wen.«
»Sie erinnern sich also nicht an Katja?«, hakte Hoffmann-Bühl nach.
»Nein, weshalb sollte ich das denn?«
»Das ist aber komisch, Cherr Kollege. Denn Frau Gräber erinnert sich sehr wohl an Sie. Sie sagt, sie chätten sich früher sogar sehr gut gekannt, ihr Geburtsname ist übrigens Kuhning.«
Katja Kuhning? Das war absolut unmöglich! Auch sie hatte mit Tim und Leo dasselbe Gymnasium besucht, aber die Uncoolen und Loser seinerzeit niemals auch nur eines einzigen Blickes gewürdigt. Vermutlich wusste sie gar nicht, dass es außer ihrem kleinen, privaten Fanclub, der ihr auf Schritt und Tritt folgte, noch andere sterbliche Lebewesen in der Klasse gab. Wie sollte sich so ein Mädchen, beziehungsweise so eine Frau, mit jemandem wie Tim Gräber einlassen? Katja Kuhning war der Inbegriff des schönen Biests, des blonden Gifts, aus einem amerikanischen Highschool-Film. Die Welt war für sie getrennt in Verehrer, Diener und Kriechtiere. Ganz ohne Frage war sie das meist verehrte und begehrte Mädchen der Schule. Als sie sechzehn oder siebzehn Jahre alt war, wurde sie zur Weißbierkönigin gewählt – ja, auch Leo hatte für sie gestimmt – und bei der kleinen Siegesfeier im Tennisheim waren sie sich sogar ziemlich nahegekommen, woraus eine fast zweiwöchige, leider ziemlich einseitige Beziehung entstand, deren Feuer seitens der frisch gekürten Weißbierkönigin schneller erloschen war, als man bis drei zählen konnte. Katja Kuhning und Tim Gräber! Wie konnte denn das zusammenpassen? Die Göttin und der Loser …
»Chören Sie, Cherr Kollege, abgesehen von Ihrer kleinen Gedächtnislücke wundert es mich ja nicht, dass bei Ihnen da unten jeder jeden zu kennen scheint.«
Was sollte denn das nun wieder? Leo hasste es, wie sie bei Ihnen da unten sagte, und fragte sich ganz nebenbei, wieso denn aus Landshuter Sicht Kelheim unten sei.
»Aber da gibt es noch etwas anderes«, fuhr sie fort. Wieder wartete Leo ab, ohne Hoffmann-Bühl zu antworten.
»Frau Gräber möchte mit Ihnen sprechen.«
»Mit mir? Aber wieso das denn?«, entfuhr es Leo.
»Das weiß ich nicht, Cherr Kollege. «
Beim nächsten Cherr Kollege würde er durchs Telefon springen, schwor sich Leo.
»Aber sie bestand darauf, mit Ihnen sprechen zu dürfen. Ich vermute mal, sie möchte auch wissen, was Sie und ihr Mann in aller Cherrgottsfrüh im Kloster Weltenburg zu schaffen chatten.«
»Das verstehe ich natürlich. Ich möchte mich aber in keinster Weise in Ihre Ermittlungen einmischen, Frau Kollegin«, sagte Dietz genüsslich.
»Deswegen chabe ich Sie angerufen. Chierbei – und nur chierbei – chaben Sie grünes Licht. Ihren Bericht können Sie mir gerne per E-Mail zusenden. Guten Abend.«
Und weg war sie.
»Meinen was? Meinen Bericht?«, rief Leo laut und hätte am liebsten sein Handy an die mintgrüne Wand geworfen.
»Bin ich jetzt vom Mordverdächtigen zu ihrem Assistenten aufgestiegen, oder was?«
Er wandte sich an Adnan.
»Adi, bitte sag mir, dass hier irgendwo eine versteckte Kamera ist und sich jemand mit ganz, ganz komischem Humor eine Schmierenkomödie ausgedacht hat und mir diesen Dolores Umbridge-Verschnitt auf den Hals geschickt hat!«
Aber Adi zuckte nur verständnisvoll lächelnd mit den Schultern und sagte »Lass dich doch von der Landshuterin gehörig am … apropos Komödie – wollte da nicht jemand sich noch in Schale schmeißen und dem Theaterspektakel des Jahrhunderts beiwohnen?«
»Oh scheiße, nicht schon wieder zu spät!«, rief Leo, sprang auf, boxte seinem Partner zum Abschied gegen die Schulter und rannte ins Treppenhaus.
Anna trug ein kurzes, hellblaues Kleid mit einem weißen Tuffschal und hohen, weißen Schuhen. Sie sah darin zum Anbeißen aus. Leo hatte sich extra passend zu Annas Kleid einen dunkelblauen Anzug und eine hellblaue Krawatte gekauft. Als er zu Hause in den Spiegel sah, fand er sich recht passabel, um ganz ehrlich zu sein, sogar ziemlich attraktiv. Wenn er sich so mit anderen Männern auf der Zielgeraden in die Fünfzig verglich, konnte er sich eigentlich nicht beklagen. Auch seine Fitness war mehr als passabel, er fühlte sich sogar besser in Form als in seinen Dreißigern.
Michaela war schon lange von der Mutter einer ebenfalls mitwirkenden Klassenkameradin abgeholt worden, sodass das Paar Dietz/Stadler alleine mit Annas schwarzem Sportflitzer an der Turnhalle mit der kleinen Theaterbühne vorfuhr und nach dem einen oder anderen Plausch mit bekannten Eltern und Lehrern in der dritten Reihe Platz nahm, um Hand in Hand freudig darauf zu warten, dass sich der Vorhang hob.
Das Stück war als krönender Abschluss eines klassenübergreifenden Projekts ein mit viel Liebe und Mühe arrangiertes Plädoyer für das soziale Miteinander und mehr Empathie in der modernen Multikultigesellschaft. Als Schauspieler traten aber nur die Viertklässler auf. Somit kam der Aufführung ein gewisser vorweggenommener Abschiedscharakter zu, denn mit Michaela sollten noch viele andere Schüler diesen Herbst auf weiterführende Schulen wechseln.
Den zentralen Schauplatz des Stücks stellte ein kleiner Kramerladen vor, dessen Inhaberin von Michaela gespielt wurde. Die Pointe bestand darin, dass die Kunden, je nachdem, mit wem sie gerade zusammentrafen, im Gespräch über Gott und die Welt ihre Meinung wie die Hemden wechselten und so ständig ihr Fähnchen nach dem Wind hängten. Ein Klassenkamerad, dessen Name Leo nicht kannte, gab einen Asylbewerber, der als Aushilfe in dem kleinen Kramerladen arbeitete und mit seinen ehrlichen, naiven Fragen an die Chefin über das Verhalten ihrer Kundschaft die Doppelmoral der Menschen aufdeckte und auch dem Publikum einen Spiegel vorhielt. Der Junge war wirklich gut und bekam viel Szenenapplaus, wobei Leo immer wieder um sich sah und sich fragte, wie viele der laut klatschenden Moralapostel im Publikum bei der letzten Wahl ihr Kreuzchen heimlich bei den Rechtsextremen gemacht hatten.
Aber auch Michaela verkörperte ihre Rolle als Tante Emma mit Schürze und grau gepudertem Dutt mit Bravour. Nur einmal verhaspelte sie sich im Text, aber das schien außer Anna niemandem sonst aufzufallen. Leo indessen war vor Stolz kurz vorm Platzen. Seine Augen ruhten auf der kleinen Michaela, oder Lela, wie sie sich als Kleinkind immer selbst genannt hatte, da sie ihren kompletten Namen noch nicht aussprechen konnte, und plötzlich bekam er, wie aus heiterem Himmel, Angst – nein, es war mehr als Angst, er hatte eine regelrechte Panikattacke. Erst fühlte er einen kleinen Schauer im Nacken, dann spürte er, wie sein Atem schneller und schneller ging und sein Herz zu rasen anfing. Anna sah ihn erschrocken an und flüsterte ihm zu »Geht es dir nicht gut, Leo? Du bist kreidebleich.«
Leo spürte den kalten Schweiß auf der Stirn und fühlte sich elendig.
»Alles gut, Schatz«, flüsterte er zurück, »hier ist es nur ein bisschen stickig und ich habe außer literweise Kaffee seit dem Frühstück noch nichts im Bauch.«
Er machte den obersten Hemdknopf auf und lockerte seine Krawatte.
Es war Anna deutlich anzusehen, dass sie sich mit dem leeren Bauch nicht zufrieden gab, aber sie drückte Leos Hand ein wenig fester, schob ihr Bein etwas enger an seines und versuchte, sich wieder auf das Geschehen auf der Bühne zu konzentrieren.
Nach endlosen Augenblicken der Hilfslosigkeit und einem kalten Gefühl des absoluten Ausgeliefertseins beruhigte sich Leo langsam wieder und versuchte, sich alles mit dem Stress der letzten Tage und seinem übertriebenen Kaffeekonsum zurechtzulegen.
Als die kleine Familie schließlich zu Hause war, drehte sich natürlich alles um die kleine Schauspielerin, die sich nach ihrem großen Erfolg zu Mama und Papa ins Bett kuscheln durfte; und auch in den darauffolgenden Tagen gab es keine Gelegenheit, den kleinen Vorfall zu besprechen. Also schlich sich wieder der gewohnte Alltag ein. Eine Zeitlang nahm alles seinen gewohnten Gang wie eh und je – eine Zeitlang.