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»Kannst du bitte noch beim Papa am Grab vorbeifahren und schauen, ob man gießen muss?«, fragte Anna zwischen Kaffee und Marmeladensemmel. »Ich schaffe es sonst nicht mehr rechtzeitig, Michi zur Schule zu bringen.«

»Mmh, klar«, nuschelte Leo mit vollem Mund, »kein Ding.«

Annas Vater war vor zwei Jahren an Leberzirrhose gestorben. Vor anderthalb Jahrzehnten war seine Tochter, Annas Schwester, von einem Serienmörder getötet worden, den die Presse den Einschläfer nannte, weil er seine Opfer in blauen Plastiksäcken, wie in einem Kokon, ablegte, ganz so, als würde er sie sanft zur Ruhe betten. Leo hatte damals den Täter zur Strecke gebracht und sich im Laufe der Ermittlungen in Anna, die damals wie heute am Kelheimer Gymnasium unterrichtete, verliebt – und umgekehrt. Aber der alte Stadler, einst ein stolzer und lebenslustiger Hopfenbauer, konnte den Verlust und die Trauer nie verwinden und ertränkte seinen Kummer mehr und mehr in Hochprozentigem, wobei ihm völlig bewusst war, wohin diese feuchte Straße münden würde, doch weder Anna, noch Leo oder den Ärzten war es möglich gewesen, ihn auf der Zielgeraden in den Todessuff aufzuhalten.

Leo schenkte sich noch etwas Kaffee nach und erzählte Anna »Stell dir vor, gestern hat mich ein alter Schulkamerad auf dem Revier angerufen, Tim Gräber. Er war völlig aufgelöst und ich habe ihn zuerst an seiner Stimme gar nicht erkannt. Habe ich dir nicht schon einmal von ihm erzählt? «

Anna überlegte einen Augenblick, dann sagte sie »Tim … lass mich mal überlegen … Tim, ach ja! Das war doch der, der, naja, ein bisschen speziell war, oder?«

Anna drehte mit dem Zeigefinger einen kleinen Kreis um ihre Schläfe und hoffte, dass Michaela das nicht mitbekam.

»Ein bisschen speziell, ja, das könnte man durchaus sagen; du meinst den Richtigen.«

»Ist der nicht Pfarrer geworden?«, fragte Anna. Leo schüttelte den Kopf.

»Nö, er hat zwar Theologie studiert und war, glaube ich, sogar schon Diakon oder so. Aber dann ist er doch wieder abgesprungen. Ich glaube, er hat dann sogar geheiratet.«

Anna nickte.

»Aber war da nicht noch etwas anderes? Hatte der nicht einen Verfolgungswahn, oder so?«

Leo drehte seinen Kaffeebecher in den Händen und starrte hinein, als könnte er darin Tims Biografie lesen.

»Ja, stimmt. Ich glaube, Tim war sogar schon mal in der Geschlossenen. Er hatte bereits als Jugendlicher immer irgendwelche Weltverschwörungstheorien in petto und sah hinter jeder Kleinigkeit irgendein Riesenkomplott.«

»Was für ein Riesenkompott? Ist das was zu essen? «, rief Michaela, die in fertiger Montur und mit geschultertem Schulrucksack in der Diele stand. Weil ihr vor kurzem erst die letzten zwei Milchzähne, und zwar ausgerechnet die Schneidezähne, ausgefallen waren, lispelte sie ein wenig, und wehe, Anna oder Leo machten sich darüber lustig.

»Nein, mein Schatz«, lachte Anna und stand auf. »Das ist eine alte Geschichte aus Papas Schulzeit, nichts weiter.«

Nach dem Friedhof lenkte Leo den Defender in Richtung Regensburg. Er genoss es, ab und zu noch mit seiner kleinen Familie zu frühstücken, bevor er in die Arbeit fuhr, aber dafür blieb er dann umso länger im Büro und schaffte es meistens nicht zum gemeinsamen Abendessen. Als er Kelheim hinter sich gelassen hatte und die Serpentinenstraße durch den Wald nach Sinzing hinauffuhr, hörte er die Journey-CD, die er vor einigen Tagen im Internet bestellt hatte, dachte an seine Schulzeit in Kelheim und an den kleinen, dicken Tim Gräber. Professor wurde er damals von den meisten Schülern genannt, tatsächlich sogar auch von ein paar Lehrern. Leo selbst hatte er immer an Master Higgins, jenen britischen Gentleman-Hausverwalter aus der Krimiserie Magnum, erinnert, was er ihm aber nie gesagt hatte.

So nach und nach rief ihm Steve Perrys unvergleichlich sehnsuchtsvolle Stimme mit Open Arms eine Geschichte nach der anderen ins Gedächtnis zurück, zum Beispiel, als Professor Tim trotz seiner glänzenden Leistungen einen Verweis bekam, Leo meinte, es war sogar ein Direktoratsverweis, weil Tim in einem Deutschaufsatz das komplette Kelheimer Gymnasium als Scientology-Ableger und den Direktor selbst als Opus Dei-Funktionär zu enttarnen versucht hatte. Leo musste breit grinsen.

Irgendwie war er in seiner Kindheit und Jugend ungewollt immer so etwas wie der Losersammler gewesen. Er wusste nicht, woran es lag, aber es schien so, als ob die Randfiguren der Schülergesellschaft, diejenigen, die nie ins Völkerballteam gewählt wurden, und diejenigen, mit denen niemand in den Pausen rumhing, die nie ihren Geburtstag mit Negerkussschlachten – ja, das hieß damals so – feierten und auch nie zu einer Party eingeladen wurden, als ob all diese Verlierer an ihm, Leo, hingen wie Kletten. Irgendetwas musste er damals ausgestrahlt haben, was die Uncoolen magisch anzog – obwohl er selbst sich nie zu ihnen gezählt hatte. Tim, alias Professor Higgins, war in den Augen der 80er-Kids definitiv uncool gewesen, das heißt, er war das fleischgewordene Sinnbild der Uncoolness schlechthin.

Tim war einer von denen, die niemandem etwas recht machen konnten. Nie und nimmer. Die einen Kinder waren neidisch auf seine guten Noten, die anderen lachten über seine Eunuchenstimme und seinen Schwabbelbauch und wieder andere verachteten und verspotteten ihn ganz offen, weil er ein Scheidungskind und das Muttersöhnchen einer bigotten alleinerziehenden Frau war, die sich, nachdem ihr Mann davongerannt war, nur noch grau und schwarz anzog und die Gesellschaft, den Kirchgang ausgenommen, mied, wie ein Vampir das Sonnenlicht. Scheidungen waren im Niederbayern der 80er Jahre keine alltägliche Formalität, sondern brannten den gescheiterten Eheleuten ein grelles Kainsmal auf die Stirn, das ihnen vorauseilte wie Glühwürmchen einem nächtlichen Waldwanderer.

Einmal, fiel Leo plötzlich ein, kurz bevor er auf dem Polizeiparkplatz ankam, hatte er sich sogar für Tim geprügelt, als andere Jungs ihn in der Umkleidekabine hänselten und malträtierten. Vielleicht hatte sich Tim das gemerkt und nun Leo deswegen um Hilfe gebeten. Naja, einmal Samariter, immer Samariter, dachte sich der Kommissar und öffnete die Tür zum mintgrünen Polizeipräsidium, das mit kiloweise Akten und immer noch über hundertzwanzig E-Mails aus seinem Osterurlaub auf ihn wartete.

Das Asam Vermächtnis

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