Читать книгу Das Asam Vermächtnis - Rüdiger Woog - Страница 9
Оглавление4
Leo war sehr früh aufgestanden und hatte schon um sieben am Schreibtisch gesessen. Er hatte die Idee, nach dem Treffen mit Tim Anna und Michaela mit warmem Leberkäse und frischen Semmeln daheim zum Mittagessen zu überraschen und erst dann wieder ins Büro nach Regensburg zurückzufahren.
Natürlich war er wie immer spät dran und kam erst um zehn nach neun auf dem Busund Touristenparkplatz in Weltenburg an. Deshalb zog er die Polizeikarte aus dem Handschuhfach, warf sie vor sich auf das Armaturenbrett und steuerte auf das Kloster zu. Dann hielt er noch einmal kurz an und rief von der erhöhten Straße aus dem Parkwart auf seinem Campingstuhl hinunter »Polizei Regensburg. Tut mir leid. Ich bin ein bisschen spät dran …«
Der Parkwart machte eine lässige Handbewegung.
»Is‘ schon gut. Fahren’s nur zu. Ihre Kollegen sind eh schon da.«
Kollegen? Wie war das denn gemeint? Zielte der Mann womöglich auf irgendwelche Touristen ab, die sich mit allerlei Ausreden die drei Euro Parkgebühr sparen wollten, und steckte ihn jetzt mit denen unter einen Hut?
Als Leo vor dem Torbogen des Klosters ankam, den Defender links davon auf dem ausladenden Kiesbett des Donauufers abstellte und durch die hintere Pforte den Klosterhof betrat, sah er, was oder wen der Parkwart gemeint hatte.
Im Hof standen ein Rettungswagen, ein Streifenwagen und zwei dunkle BMW mit Blaulicht und Landshuter Kennzeichen. Zwei Polizeibeamte in Uniform waren dabei, ein Absperrband um den Kircheneingang zu ziehen, und zwei weitere Leute, ein Mann in Leos Alter und ein etwas jüngerer, trugen Westen mit der Aufschrift KIT Landshut.
Einer der Polizisten bezeigte Dietz von weitem mit einer abwehrenden Handbewegung, dass er sich fernhalten sollte. Als er das aber nicht beachtete, kam der Beamte auf ihn zu.
»Bleiben Sie bitte zurück. Hier ist vorläufig alles gesperrt.«
Leo zog seinen Dienstausweis aus der Jackentasche und hielt ihn dem Polizisten hin.
»Hauptkommissar Leo Dietz, Kripo Regensburg. Was ist hier passiert?«
Der Polizist besah sich den Ausweis genau, etwas zu genau, fand Leo, bevor er antwortete »Eine Person wurde offensichtlich getötet – in der Kirche.«
»Was für eine Person? Und wie?«
»Ein Mann. Er wurde vermutlich mit einem Speer… aufgespießt.«
»Was? Mit einem Speer?«, entfuhr es dem Kommissar.
»Mit einer Lanze, nicht mit einem Speer«, hörte Dietz dicht hinter sich eine Frauenstimme und drehte sich ruckartig um. Er hatte nicht bemerkt, wie lange die Mittdreißigerin mit den brünetten, schulterlangen Haaren und der roten Softshellkapuzenjacke schon neben ihm stand. Obwohl die Frau perfektes Deutsch sprach, erkannte Leo an ihrer Art, wie sie jedes h im Wortanlaut zu ch machte, dass sie keine gebürtige Deutsche war. Sie war offensichtlich aus dem Konventeingang herausgekommen, wo ein hochgewachsener grauhaariger Benediktinermönch mit Brille und scharf geschnittenen Gesichtszügen unbeweglich, wie aus Stein gemeißelt, verharrte und seinen Blick über den Hof schweifen ließ.
»Eine Lanze ist länger als ein Speer. Sie wird nicht geworfen, sondern dient zum Stoßen«, ergänzte die Frau, wobei ihre blauen Augen den Blick des Kommissars fixierten.
»Elena Choffmann-Bühl, Chauptkommissarin aus Landshut«, stellte sie sich vor und reichte Leo eine kleine Hand mit kalten Fingern.
»Wie kommt es, dass Sie chier sind, Cherr Kollege?«, fragte sie. »Wir chaben gar keine Chilfe aus Regensburg angefordert.«
Leo stellte sich noch einmal vor.
»Ich bin eigentlich privat hier, oder halbprivat, wenn man so will.«
Elena Hoffmann-Bühl hob fragend die Augenbrauen.
»Ich wollte mich vor zwanzig Minuten mit jemandem treffen, der mich um Hilfe gebeten hat, um Hilfe als Polizist, nehme ich an. Aber wahrscheinlich wurde er von Ihren Kollegen schon mit den anderen Touris fortgeschickt, nehme ich an.«
Die Kommissarin und der Polizeibeamte wechselten einen kurzen Blick.
»Wie cheißt dieser Jemand, Cherr Dietz?«
Leo fühlte plötzlich ein äußerst unangenehmes Gefühl in der Magengegend.
»Gräber, Tim Gräber, vielleicht ist er auch noch gar nicht gekommen. Warum möchten Sie das wissen?«
Wieder ein Blickwechsel.
Dietz sah unwillkürlich zu dem geschlossenen Rettungswagen hinüber.
»Moment mal! Sagen Sie jetzt nicht, dass …«
»Kommen Sie!«, erwiderte die Landshuter Kommissarin anstatt einer direkten Antwort und ging mit Dietz hinüber zum RTW. Sie gab dem jungen Mann vom Kriseninterventionsteam, der sich gerade eine Zigarette anstecken wollte, ein Zeichen, der daraufhin wiederum eine Sanitäterin mit ungewöhnlich langem Pferdeschwanz anstupste, die schließlich die Heckklappen des Fahrzeugs öffnete. Leo stieg nach ihr ein und sah ihr zu, wie sie den Leichensack auf der Bahre öffnete, wobei ihr langer Pferdeschwanz beinahe das Gesicht der Leiche berührte.
Der Tote war nicht Gräber. Der Professor war immer sehr korpulent gewesen und hatte eine richtige Wolle an rotem, krausem Haar, das ihm meistens auf der verschwitzten Stirn klebte. Diese Leiche jedoch war hager und hatte weder Kopfhaar noch Augenbrauen.
»Er ist es nicht«, sagte Leo erleichtert, »Tim Gräber sieht anders aus«.
Die Kollegin aus Landshut sah ihn irritiert an.
»Es tut mir leid, Cherr Dietz: Doch, das ist Tim Gräber. Chier ist sein Personalausweis. Sie chaben Ihren Freund wohl schon länger nicht mehr gesehen.«
Elena Hoffmann-Bühl hielt Leo einen Plastikbeutel mit dem Ausweis, dem Führerschein, einer Geldbörse und einem Schlüsselbund hin.
Leo besah sich den dünnen Mann mit den wachen, fast listigen Augen, die ihn durch die Plastikhülle aus einem regungslosen Gesicht, wie es bei biometrischen Passbildern erforderlich ist, anstarrten. Lag da so etwas wie eine stille Anklage in Gräbers Blick? Vor zwei Tagen hatte Leo einen Anruf aus der Vergangenheit erhalten. Einer der Uncoolen und Loser hatte seine Hilfe gebraucht und er war zu spät gekommen. Nun lag dort drüben im RTW ein Toter, der mit Leos Erinnerung bis auf den Namen nichts, absolut gar nichts zu tun hatte. Wer zum Teufel mochte dieser zweite Tim Gräber sein?
Dietz wandte sich seiner Landshuter Kollegin zu.
»Könnte ich bitte die Tatwaffe sehen?«
Hoffmann-Bühl antwortete nicht sofort. Sie schien die möglichen Konsequenzen ihrer Antwort abzuwägen.
»Also gut, Cherr Kollege. Ich zeige sie Ihnen. Aber lassen Sie mich bitte von vorncherein etwas klarstellen: Die Ermittlungen führen wir Landschuter. Das chier«, sie machte eine ausladenden Handbewegung, »ist unser Einzugsgebiet, wie Sie wissen.«
Leo hatte mitnichten vor, sich einzumischen. Er nickte schulterzuckend und hob den linken Daumen hoch.
Elena Hoffman-Bühl öffnete den Kofferraum eines der Zivilfahrzeuge und zog die mangels einer größeren Folie in lauter kleine aufgeschnittene Plastikhüllen eingewickelte Lanze heraus. Sie war von der flachen, geschmiedeten Spitze bis zum hölzernen Schaft gänzlich schwarz und hatte einen Durchmesser von etwa vier Zentimetern. Im oberen Drittel des Schafts wies eine Fissur daraufhin, dass das Holz schon einmal gebrochen und wieder geleimt worden war. Auf der einen Seite der Spitze war eine Art Stift oder Nagel derart eingearbeitet, dass sich die dünnen, schnurartigen Eisenbänder wie Lederriemen ausnahmen. Leo drehte und wog die Lanze mit einer Hand. Die Waffe war überraschend leicht. Er tippte auf Eschenholz.
»Können Sie damit etwas anfangen oder irgendwie mit Ihrem Freund in Verbindung bringen?«, fragte die Landshuter Kommissarin.
»Er ist … er war nicht mein Freund. Wir haben uns seit Jahrzehnten nicht mehr gesehen. Ich habe wirklich keine Ahnung, wo da ein Zusammenhang bestehen könnte«, antwortete Dietz.
»Sie sieht irgendwie römisch oder frühmittelalterlich aus, finde ich«, sagte Hoffmann-Bühl.
Leo nickte.
»Mmh, wahrscheinlich stammt sie von irgendeinem Römeroder Ritterfest. Da kann man solche nachgemachten Waffen und alles Mögliche kaufen. Ich wollte mir auch schon einmal ein Langschwert, so eines wie in Braveheart, zur Deko kaufen, aber meine Freundin hätte mich wahrscheinlich rausgeworfen oder gleich mit dem Ding erschlagen.«
Die Kommissarin lächelte kurz und mechanisch.
»Dann sind Sie ja ein Spezialist mittelalterlicher Waffen. Denken Sie, es könnte auch ein Artefakt sein?«
»Sie meinen, dass die Lanze wirklich alt ist? Bestimmt nicht. Ich kann Ihnen eine ganze Reihe Kunstschmiede nennen, die Ihnen so etwas für einen Fünfziger basteln. Die Frage ist nur, wer mit so einem Ding durch die Gegend läuft und Menschen umbringt.«
»Stimmt, genau das ist die Frage, die ich mir stelle.«
Sie betonte ich mit einem Nachdruck, der Leo ganz und gar nicht gefiel.
»Vielen Dank für den Wink mit dem Zaunpfahl, Frau Kollegin. Ich werde Ihnen schon nicht reinpfuschen.«
Damit reichte er der Kommissarin die Hand.
»Also dann, ich wünsche Ihnen viel Erfolg bei der Aufklärung; und natürlich können Sie mich jederzeit anrufen, wenn ich Sie doch noch irgendwie unterstützen könnte. Ich wohne übrigens nur ein paar Kilometer von hier entfernt.«
Er hatte sich schon zum Gehen umgedreht, als sie ihn am Arm festhielt – am Arm festgehalten zu werden war etwas, das Leo auf den Tod nicht verknusen konnte, umso mehr verwunderte ihn diese barsche Geste von der bisher so reservierten jungen Polizistin.
»Cherr Kollege, verstehen Sie mich bitte nicht falsch. Sie waren wahrscheinlich einer der Letzten, der mit dem Opfer Kontakt hatte.«
»Ich? Ich habe den Tim mindestens zwanzig Jahre nicht mehr getroffen. Sie haben ja gesehen, dass ich ihn nicht einmal mehr erkannt habe. Vor zwei Tagen haben wir das erste Mal nach all der Zeit wieder miteinander geredet, und das eine Minute lang.«
Die Kommissarin machte ein gleichgültiges Gesicht.
»Und jetzt ist er tot. Komisch, nicht wahr? Wie auch immer, chalten Sie sich bitte zu unserer Verfügung bereit. Wir werden sicher noch die eine oder andere Frage an Sie chaben.«
Langsam wurde es Leo zu bunt.
»Zur Verfügung bereithalten? Was soll denn das heißen? Bei aller Liebe, Frau Hoffmann-Bühl, ich habe Ihnen gerade meine Hilfe angeboten und Sie wollen, dass ich mich für Ihre Fragen zur Verfügung stelle, wie ein … wie ein Verdächtiger? Das kann ja wohl nicht Ihr Ernst sein!«
Ein Hauch von Röte zog über Hoffmann-Bühls Gesicht.
»Ich verstehe ja, dass Sie durch den Verlust Ihres Freundes –«
»Er – war – nicht – mein Freund!«, unterbrach Leo sie um einiges lauter, als er beabsichtigt hatte.
»Wie auch immer, Sie chören von uns. Schönen Tag noch, Cherr Kollege.«
Damit drehte sie ihm den Rücken zu und wandte sich an die Leute vom Kriseninterventionsteam.
Bevor Leo wegfuhr, lehnte er sich an den Defender und blickte lange auf den unaufhaltsam vorüberziehenden Fluss. Wie oft war er, schon als Kind, hier vorbei geschwommen, gepaddelt oder am jenseitigen Ufer geradelt? Wahrscheinlich über hundert Mal. Und jedes einzige Mal hatte er dieselbe Ehrfurcht vor diesem Ort empfunden. Wenn ihn die Strömung an den Mauern des anderthalb Jahrtausende alten, wenn nicht noch älteren Klosters vorübertrieb, dann sah er einen Ort zeitloser Beständigkeit. Er fühlte sich wie in einem tickenden Kettenkarussell, das immerzu um einen steten Mittelpunkt kreist, und dieser Mittelpunkt war das Kloster Weltenburg – eine Feste inmitten der rastlosen Welt, die sich außerhalb der Klostermauern unentwegt weiterdrehte, sich veränderte, verging und wieder erstand, eine Welt, die so beständig war wie das Sonnenglitzern auf den Donauwellen an heißen Sommertagen.
Und nun stand er an seinem Fluss und fragte sich, was da an ihm vorbeigezogen sein mochte, was er nicht mitbekommen hatte. Was war mit Tim Gräber passiert und wie kam diese überambitionierte Kollegin dazu, ihn wie einen Schuljungen zu behandeln und sogar – hatte sie das wirklich? – in den Kreis der Verdächtigen mit aufzunehmen? Moment mal: Was für ein Kreis? Galt er sogar als einziger Verdächtiger? Leo schüttelte mit einem bitteren Lächeln den Kopf und bückte sich nach einem flachen Kieselstein. Er schleuderte ihn aus der Hüfte heraus auf das Wasser, um ihn darüber tanzen zu lassen, aber anstatt vier-, fünfoder sechsmal über die Wasseroberfläche zu hüpfen, versank er nach dem zweiten Sprung mit einem hohlen Plattscher für immer und ewig in den unergründlichen Tiefen des Donaudurchbruchs.