Читать книгу Ein Moment der Stille - Rebecca Hünicke - Страница 3

Ein Moment der Stiile

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Er weiß nicht genau wie viele Männer es sind, denn als sie auf den Hof fahren, befindet er sich bereits in der Scheune auf dem Dachboden, wo er sich vor seinen älteren Brüdern wieder einmal versteckt. Obwohl sie größer und kräftiger sind, ist er ihnen körperlich überlegen. Im Rennen ist er viel schneller als sie. Und besser klettern kann er auch.

Zuerst hört er nur das Motorengeräusch zweier Autos, die rasend schnell auf den Hof fahren. Dann ertönen lautes Türenknallen und kräftige Schritte. Die Männer aus den Fahrzeugen beginnen schrecklich zu schreien. Und plötzlich schreien auch seine Eltern und seine Brüder. Die Stimme seiner kleinen Schwester kann er nicht raushören.

Starr vor Angst bleibt er in seinem Versteck. Diese Männer machen ihm große Angst. Ihre Schreie hat er schon so oft im Dorf gehört. Sie treiben sich überall herum und schikanieren die Menschen, wo sie nur können. Immer wieder nehmen sie Bewohner mit, ohne ihnen einen Grund zu nennen. Sie dürfen nicht einmal ihre Sachen mitnehmen. Wer einmal abgeholt wird, der wird nie mehr wiedergesehen.

Gewaltige Schweißtropfen überschwemmen seinen ganzen Körper. Keiner der Männer kann ihn in seinem Versteck auf dem Dachboden entdecken. Doch das Klappern seiner Zähne hallt wie ein nicht enden wollender Donnerschlag in seinem Kopf. Ihm selbst erscheint es so laut, dass er davon ausgeht, auch die schreienden Männer müssten ihn hören. Aber sie machen die ganze Zeit einen entsetzlichen Lärm, vielleicht hören sie sein Zähneklappern gar nicht.

Panik steigt in ihm auf. Die Männer wollen nun auch ihn und seine Familie mitnehmen. Er kann gar nicht darüber nachdenken, was sie wohl mit ihnen machen werden, denn das Scheunentor wird bereits aufgetreten. Die grölenden Männer sind da, um ihn zu holen. Sein ganzer Körper zittert so enorm, dass er gar nicht weiß, wie er aufstehen und laufen soll.

Während er darauf wartet, dass sie zu ihm hochkommen, hört er das Schluchzen seiner Brüder. Einer der Männer befiehlt ihnen mit der Heulerei aufzuhören und beschimpft sie. Sie wären überhaupt keine richtigen Jungen, weil sie wie Mädchen heulen. Sie seien verdammte Heulsusen und schwachsinnige Krüppel, aber das Heulen werde ihnen gleich schon vergehen.

Er fragt sich, wo seine Eltern sind und seine Schwester ist. Und was die Männer mit seinen Brüdern vorhaben. Wieso sie mit den beiden in die Scheune gekommen und nicht weggefahren sind.

Für einen kurzen Moment hört das Schreien auf, und die Männer reden miteinander. Er kann ihre Worte aus seinem Versteck heraus verstehen. Sie besprechen sich und suchen nun nach einer Leiter und Seilen. Das versteht er noch viel weniger. Seine Angst vor Entdeckung drückt ihn weiter an den harten Holzbalken in seinem Rücken. Am liebsten wäre er jetzt eine kleine Maus, die sich tief im Stroh verkriechen kann ohne eine Gefahr befürchten zu müssen.

Anhand der Stimmen versucht er zu erkennen, wie viele Männer es sind, aber da sie ständig durcheinander reden, vermutet er, es seien sechs oder sieben. Sie nehmen die längste Leiter, die, die bis zu ihm auf den Dachboden reicht. Das Schlagen von Holz auf Holz lässt ihn das Atmen vergessen.

Er braucht die Leiter nicht, um bis nach oben zu gelangen. Er hat seinen Geheimweg. Am Ende der Scheune hat er sich aus Strohballen eine Treppe gebaut, die zu einer Luke in der Decke führt. Sie ist gerade so groß, dass ein Strohballen durchpasst. Genau richtig, um schnell hindurch zu schlüpfen. So gelangt er jedes Mal zu seinem Versteck, von dem niemand etwas weiß. Von hier aus kann er das Scheunentor unbemerkt im Blick haben.

Jetzt ist es zu spät. Er kann nicht fliehen. Derjenige, der gerade die Leiter hochkommt, würde ihn sofort bemerken. Panisch reißt er einen Arm vor den Mund, um dort hinein zu atmen. Seine Atemwolken, die er in schnellen Zügen seinem Mund entweichen lässt, dürfen ihn nicht verraten. Außerdem sieht er sich außerstande, seine Beine fortzubewegen. Sie scheinen sich in massive Baumstämme verwandelt zu haben und gleichzeitig zittern sie wie Espenlaub. Er kann nur noch abwarten.

Laute und feste Schritte erklimmen jede weitere Sprosse der Leiter und kommen ihm gefährlich nahe. Je näher die Bedrohung kommt, desto größer wird seine Angst, die sein Herz zum Rasen antreibt. Er schließt seine Augen, um das nahende Unheil nicht zu sehen. Die Schritte auf der Leiter hallen in seinem Kopf wie ein Echo nach. Sein Kopf erscheint ihm wie eine Bombe, die kurz vor der Explosion steht.

Die Schritte verstummen, und er kann nicht anders, als seine Augen zu öffnen. Er muss die Bedrohung sehen, ob er will oder nicht. Er weiß nicht warum. Irgendetwas zwingt ihn, seine Augen wieder zu öffnen. Die Bedrohung besteht aus zwei Händen, die Seile vor sich an den Rand des Dachbodens legen. Die Hände hantieren mit den Stricken und wickeln sie schließlich um den Querbalken, der auf der linken Seite ein Teilstück des Geländers ist.

Am Rande des Bodens streckt sich eine Mütze empor, unter der kurze Haare den Ansatz der Kopfbedeckung einrahmen. Er bekommt den Hinterkopf eines Mannes zu Gesicht. Die Reichweite seiner Hände ist für den Fremden nicht ausreichend, damit er sein Vorhaben beenden kann. Er steigt noch eine Sprosse höher, für eine bessere Ausgangsposition. So kann er die Seile einfacher befestigen. Der Mann verknotet sie am Balken, und anschließend zieht er kräftig daran, um sich ihrer Festigkeit zu versichern.

Das Gesicht des Mannes blickt zur entgegengesetzten Seite, aber jeden Moment könnte er sich umdrehen und ihn entdecken. Der Nacken des SA-Mannes ist kaum zu sehen, denn der Kragen seiner Uniformjacke verdeckt ihn fast. Er starrt wie hypnotisiert seinen Hinterkopf an. Jeden Millimeter prägt er sich ein. Das trübe Tageslicht was die Männer durch ihr Eindringen in die Scheune einlassen, ist ausreichend, um alles genau erkennen zu können. Er versucht die Haare seines Gegenübers zu zählen, so nah ist er hinter ihm. Er sitzt nur zwei Armlängen von ihm entfernt, und der Mann mit den Seilen bemerkt ihn nicht.

Sein Blick verharrt für einen Moment am rechten Ohr des Mannes, denn irgendetwas unterbricht die glatte Hautebene- eine Kerbe. Nein, keine Kerbe, sondern eine Narbe. Sie ist nicht groß, aber doch prägnant genug, dass sie ihm bei den schlechten Lichtverhältnissen auffällt. Der Rand seiner Ohrmuschel ist durch sie in der Mitte in zwei Hälften unterteilt.

Der SA-Mann sagt kein Wort. Er erledigt seine Aufgabe, überprüft sie noch einmal zur Sicherheit und steigt schnellen Schrittes die Leiter wieder runter. Er verschwindet, ohne sich ein einziges Mal nach rechts umgesehen zu haben.

Dann beginnt das Geschrei von vorne. Das Rascheln von Stroh dringt nach oben. Unten werden Strohballen gestapelt und das Schluchzen der Brüder verstummt für kurze Zeit.

Nun schreien auch die beiden wieder. Doch sie haben keine Chance. Es sind zu viele Männer, und kräftiger sind sie auch. Die Brüder setzen alle Kraft ein, die sie aufbringen können, um sich zu wehren- vergebens.

Lautlos beugt er seinen Oberkörper ein Stück nach vorne, um mehr von dem unteren Geschehen mitzubekommen. Die befestigten Seile schwingen hin und her, und die SA-Männer schreien seine Brüder an, sie sollen sich bewegen.

Das Strohrascheln wird lauter. Es wird wild auf den Halmen herumgetrampelt. Die Befehle der Männer wechseln sich mit grauenhaftem Gelächter ab. Das Wehklagen und erneute Schluchzen der Brüder geht darin unter.

Noch lachend verlassen die Männer die Scheune. Je weiter sie sich entfernen, desto leiser wird es. Der SA-Trupp steigt in ihre Autos. Als sie vom Hof fahren, ist die hämische Geräuschkulisse mit ihnen verschwunden.

Auf allen vieren bewegt er sich Zentimeter für Zentimeter zum Rand des Bodens. Obwohl er noch von Panik ergriffen ist, muss er wissen, ob die Männer seine Brüder mitgenommen haben. Seine Brüder sollen noch dort unten sein. Er will Gewissheit haben.

Er fleht Gott um Beistand an. Er werde seinen Brüdern den Geheimplatz zeigen, damit sie in Zukunft auch ein sicheres Versteck haben, falls die Männer noch einmal wiederkommen sollten. Er würde den Aufstieg verbessern, damit sie es einfacher haben hinaufzukommen.

Wenn er selbst vor ihnen auf der Flucht ist, ist er jedes Mal erleichtert, dass sich ihre Körper langsamer bewegen. So kann er ihnen geschickt entkommen. Doch heute verflucht er es. Wären ihre Körper so wie seiner, hätten sie den bösen SA-Männern entkommen und sich verstecken können.

Je näher er der Leiter kommt, desto schneller schlägt sein Herz. Er will nicht nach unten gucken, doch er muss es tun. Den Mut, den er hierfür aufbringt, ist nichts im Vergleich zu dem, wenn er nach einem Disput mit seinen Brüdern die Flucht ergreift.

Seine Brüder sind noch da, die braunen Männer haben sie nicht mitgenommen. Er ruft nach ihnen. Erst leise, dann etwas lauter, doch sie antworten nicht. Er bemerkt, dass sie sich seltsam in der Luft drehen und nicht auf der Erde stehen. Sie stehen auch nicht auf den gestapelten Strohballen unter ihnen. Ihre Köpfe sind nach vorne geneigt, wie in ein Gebet versunken, und ruhen auf ihren Händen, die unter ihrem Kinn sind. Ihre angewinkelten Arme erinnern ihn an kleine Flügel. Für einen kurzen Augenblick glaubt er, seine Brüder haben sich in Engel verwandelt, die in der Scheune umherschwirren.

Während er über die Frage nachdenkt, ob seine Brüder wirklich Engel geworden sind, bekommt er den Eindruck, dass seine Vorstellung von Engeln nicht zu dem Bild seiner Brüder passt. Sie tragen noch die gleiche Kleidung wie eben und keine weißen Gewänder. Sie haben auch keine goldenen Flügel auf dem Rücken. In seiner Vorstellung schweben Engel auch nicht an Seilen. Er versteht es nicht. Irritiert verlässt er den Dachboden durch die Luke am anderen.

Er rutscht seine selbstkonstruierte Strohtreppe herunter und stolpert zu seinen schwebenden Brüdern. Etwa einen Meter hinter ihnen bleibt er stehen und blickt langsam nach oben. Allmählich begreift er, welches Bild sich vor ihm abzeichnet.

Die hängenden Körper seiner Brüder lassen sie noch viel größer erscheinen, als sie es bereits sind. Die drehenden Bewegungen ängstigen ihn, denn so haben sie sich noch nie bewegt. Seine Kehle wird trocken und das Atmen fällt ihm mit jedem weiteren Schritt schwerer.

Schritt für Schritt geht er voran, den Blick nach oben gerichtet. Er tritt gegen etwas und fällt darüber zu Boden. Mehrere Strohballen liegen wüst verteilt in der Scheune herum.

Reflexartig entfährt ihm ein Schrei. Verwirrt rappelt er sich wieder auf und schaut auf die Schuhe seiner Brüder. Synchron ziehen sie Bögen von links nach rechts und wieder zurück, wobei sie feuchte Kreise auf dem staubigen Erdboden zeichnen. Von ihren Schuhen tropft eine Flüssigkeit. Seine Augen wandern von den Schuhen über ihre Beine. Auch sie sind an den Innenseiten nass. Eine feuchte Spur zieht sich an ihnen entlang. Schließlich blickt er in ihre Gesichter.

Der Schock bringt ihn zum Taumeln. Erneut landet er auf dem Boden. Seine Ellenbogen fangen seinen Sturz ab. Sein Mund öffnet sich zu einem weiteren Schrei, doch er kann keinen Ton mehr von sich geben. Die schreckgeweiteten und von Panik erfüllten Augen seiner Brüder starren ihn bedrohlich an.

Mit ihren Händen haben sie versucht die Seile von ihren Hälsen fernzuhalten, aber es ist ihnen nicht gelungen. Der sich verbreitende Uringeruch, lässt Übelkeit in ihm aufkommen. Er muss sich übergeben. Der Rest seines unverdauten Frühstücks schießt in einem unkontrollierten Schwall vor die Füße seiner Brüder.

Hinter sich hört er schnelle Schritte auf sich zukommen. Er wagt es nicht, sich umzudrehen. Er starrt weiter auf seine hängenden Brüder. Der gellende Schrei seiner Mutter lässt ihn taub werden und verbannt ihn in eine unendliche Dunkelheit.















Ein Moment der Stille

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