Читать книгу Ein Moment der Stille - Rebecca Hünicke - Страница 5
Frühjahr 1942
ОглавлениеAls der Brief von der Schule eintrifft, bin ich schon zu Hause. Minka hat in der Nacht ihre Jungen bekommen. Nach dem Unterricht renne ich los, so schnell ich kann. Ich will mir die Kleinen in Ruhe ansehen, ohne meine Brüder.
Unsere Katze hat sich im hinteren Teil der Scheune ein gemütliches Plätzchen für sich und ihre Babys ausgesucht. Ich nähere mich der maunzenden Familie, als ich ein lautes Schluchzen höre. Es ist Mutter, die mit einem Blatt Papier im Eingang der Scheune steht und bitterlich zu weinen beginnt. Einen Augenblick später erscheint Vater, der Mutter in den Arm nimmt und sie tröstet.
Verwundert starre ich meine Eltern heimlich an. Ich habe Mutter noch nie weinen gesehen, und Vater war auch noch nie so nett zu ihr. Als wir klein waren, hat Mutter uns getröstet, wenn wir weinten oder uns verletzten. Jetzt wird nur noch unsere kleine Schwester von ihr in den Arm genommen. Vater drückt Mutter eine Weile fest an sich und streicht ihr dann mit einer seiner großen Hände über den Kopf.
In meiner Ecke ist es sehr dunkel, doch das klare Tageslicht reicht aus, um dies deutlich zu erkennen. Meine Kehle ist inzwischen ganz trocken, und ich bekomme Bauchdrücken vor Angst. Wenn sie mich hier erwischen, erwartet mich eine ordentliche Tracht Prügel.
Vater löst sich von Mutter und spricht zu ihr. Ich kann nicht alles verstehen, weil seine Stimme nicht den gewohnten, festen, ausdrucksstarken Klang hat.
Meine Brüder dürfen nicht mehr zur Schule gehen, was Vater nicht so schlimm findet wie Mutter. Seine Söhne können lesen, schreiben und rechnen. Das sei ausreichend, um später den Hof bewirtschaften zu können.
Mutter findet das ungerecht, denn ihre Jungen seien gute Schüler: anständig, pflichtbewusst und gehorsam. Außerdem sei mein älterer Bruder schon wegen des verlorenen Schuljahres im Nachteil. Nur wenige Monate vor Beendigung seiner Schulzeit muss er die Schule ohne einen Schulabschluss verlassen. Und dann sagt sie Vater etwas, was ich überhaupt nicht verstehe. Sie will wissen, ob es ihren Jungen genauso wie Großvater Kurt ergehen wird. Vater beantwortet ihre Frage nicht und verlässt ohne ein weiteres Wort die Scheune.
Mutters Vater ist in einer Heil- und Pflegeanstalt, weil er nicht mehr gut laufen kann. In der Klinik wird ihm geholfen, damit er bald wieder richtig gehen kann. Er ist schon lange dort, Besuch kann er leider nicht bekommen. Mutter darf ihm nur Briefe schreiben oder ein Paket schicken. Sie möchte auf keinen Fall, dass ihre Söhne ebenfalls in eine Anstalt müssen, so wie ihr Vater. Bald haben sie einen Termin für eine Untersuchung in Dremel.
Mutter steht weiterhin an der gleichen Stelle und beginnt erneut zu schluchzen. Sie tut mir schrecklich leid. Am liebsten würde ich jetzt aufspringen und sie trösten, doch dann wüsste sie, dass ich sie und Vater belauscht habe. Sie ist so bestürzt über den Ausschluss ihrer Söhne vom Unterricht.
Ihr permanentes Drängen am Morgen nicht zu trödeln und das frühere Wecken hat nicht geholfen. Meine Brüder haben genug Zeit für ihre Aufgaben vor dem Unterricht und den Schulweg bekommen, aber leider ist es keine ausreichende Hilfe gewesen, trotz ihres gewissenhaften Handelns. Die beiden wollen Vater und Mutter nicht enttäuschen, aber sie kommen nicht gegen ihre Langsamkeit an.
Manchmal ist Vater sehr verärgert, weil sie für die gleichen Arbeiten zunehmend Zeit brauchen. Ihre Füße wollen sich nicht mehr so schnell bewegen wie früher. Sie schlurfen eher, als dass sie gehen. Die körperliche Arbeit wird anstrengender für sie, obwohl sie wachsen und kräftiger werden. Die gebeugte Körperhaltung fügt ihnen mit der Zeit Schmerzen zu, die sie zu ungewollten Pausen zwingen. Sie wollen nicht, dass es jemand aus der Familie bemerkt, aber ich sehe ihre Verzweiflung. Sie kennen mein Versteck nicht, und deshalb kann ich sie unbemerkt beobachten.