Читать книгу Ein Moment der Stille - Rebecca Hünicke - Страница 7
Frühjahr 1942
ОглавлениеIch bin der Einzige von uns Jungen, der noch zur Schule gehen darf. Mein Klassenwechsel nach dem vierten Schuljahr ist nicht so unproblematisch wie bei den anderen Kindern. Die Schulbehörde verlangt eine ärztliche Bescheinigung über meinen Gesundheitszustand. Es muss bei mir die vererbte Krankheit von Großvater Kurt ausgeschlossen sein. Die Volksgesundheit darf in der Schule nicht durch schwachsinnige oder verkrüppelte Kinder gefährdet werden. Nur noch gesunde deutsche Kinder dürfen zur Schule gehen und lernen.
Alles muss auf deutsche Richtigkeit überprüft werden, sogar wir Menschen. Die Schule in Rothwald hat mittlerweile ein Drittel weniger Schüler. Nicht alle Kinder entsprechen der deutschen Norm, so wie meine Brüder.
In jedem Unterrichtsfach müssen wir lernen, dass nur wir Deutschen die besten Menschen sind. Niemand ist uns Ariern ebenbürtig. Damit wir nicht nur geistig stark sind sondern auch körperlich, ist der Turnunterricht mit allen Fächern gleichzustellen.
Zu Beginn jeder Turnstunde haben wir unsere ersten Pflichtübungen zu machen, die jedes Mal von einem anderen Schüler angeleitet werden. Hierbei nimmt mich Lehrer Hölting genau unter die Lupe. Er notiert sich nach jeder Übung etwas in sein schwarzes Büchlein über mich. Ich weiß genau, dass er sich nur Notizen über mich macht, denn seine Blicke gelten ausschließlich mir. Meine Mitschüler wissen das auch, und deshalb möchte niemand mehr mit mir befreundet sein. Wer auffällig ist, von dem hält man sich lieber fern.
Meine Idee, dem Jungvolk beizutreten, handelt mir nur eine heftige Ohrfeige meines Vaters ein. Mit den braunen Verbrechern dürfen wir uns nicht einlassen. Außerdem würden sie mich wegen meiner Brüder sowieso nicht aufnehmen. Ich muss mich von den Braunhemden fernhalten, sonst bekommen wir nur Schwierigkeiten.
Ich gehöre zu niemanden mehr. Wenn ich nicht in der Schule verspottet werde, passiert es im Dorf. Und zu Hause lebe ich im ständigen Streit mit meinen Brüdern. Vater und Mutter sind nur mit sich und ihrer Arbeit beschäftigt.
Meine Brüder leiden sehr unter dem Schulausschluss und hegen deshalb einen großen Hass auf mich. Ich darf weiter zur Schule gehen und lernen- sie nicht. Sie verstecken meine Schulsachen oder verbrennen meine Hausaufgaben. Sie machen alles heimlich, damit Vater und Mutter nichts mitbekommen. Ich glaube, sie hassen sie auch, weil sie sich dem Ganzen fügen. Sie kämpfen nicht gegen die Ungerechtigkeit an, die ihren Söhnen widerfährt.
Meine ärztliche Untersuchung in der Gesundheitsbehörde ist anstrengend. Ich muss viele komische Übungen machen und Fragen aus dem Unterricht beantworten. Anschließend darf ich mit Vater nach Hause fahren. Der Arzt hält mich weiterhin für schultauglich.
Bei der Feldarbeit fragen mich meine Brüder nach der Untersuchung aus. Sie haben viele Fragen, die ich nicht alle verstehe, und sie werden wütend auf mich. Ich muss nicht in eine Klinik für weitere Untersuchungen. Schmerzen habe ich ebenfalls keine.