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19. Oktober 2010
ОглавлениеDienstag. Die Sonne schien durchs Fenster. Sie zeigte sich noch manchmal, um mit ihrer Wärme einen wunderschönen Herbsttag zu gestalten. Die bunten Farben der Blätter an den Bäumen leuchteten bunt und gaben der Natur ein neues Kleid.
Hanna liebte den Herbst mit seinen Stürmen, die oft so gewaltig waren, dass man sich kaum draußen aufhalten konnte. Die enorme Kraft des Windes beeindruckte sie stets aufs Neue. Als sie erwachte, galt ihr erster Gedanke Christian. Der Abend ließ sie noch nicht los. Sie dachte an das Feuer und vermisste es jetzt schon. Ihre Großeltern hatten leider keinen Ofen, an dem sie ihre Abende verbringen konnte.
Sie kam so müde zu Hause an, dass sie nur noch ihre Reisetasche nahm und damit in ihr altes Zimmer ging. So schnell es ihre Müdigkeit zuließ, entkleidete sie sich. Ihr altes Bett hieß sie willkommen, und Hanna schlief sofort ein.
Beim Aufwachen konnte sie sich an keinen Traum erinnern. Sie war nach langer Zeit ohne die immer wiederkehrenden Fragen eingeschlafen. Sie hatte das Gefühl, wie ein Stein geschlafen zu haben.
Sie mochte es nicht, sofort nach dem Aufwachen aufzustehen. Sie ließ die Sonne noch eine Weile auf ihr Gesicht scheinen, bevor sie aufstand.
An ihr Zimmer grenzte ihr eigenes Bad. Diesen Luxus hatte sie früher geliebt. Ihr Großvater und ihr Onkel hatten für sie die kleine Abstellkammer zu einem Badezimmer umgebaut, was nur ihr gehörte.
Ihr kam es so vor, als ob sie diesem Raum nie den Rücken gekehrt hätte. Es war alles noch genauso, wie sie es vor drei Jahren verlassen hatte. Ihre Oma hatte hier Ordnung gehalten, und bis auf die Bettwäsche war keine Veränderung vorgenommen worden.
Ihr Bär, Bobo, schaute sie wie jeden Tag aus einem der Korbstühle an und lächelte ihr zu. Das Holzpuppenhaus stand ebenfalls noch an seinem Platz auf der Kommode. Selbst als sie zu alt für Puppenspiele wurde, konnte sie sich nicht von ihm trennen. Es war das schönste Weihnachtsgeschenk, was sie je bekommen hatte. Ihrem Opa standen Tränen in den Augen, als er ihre große Freude darüber sah.
In diesem Jahr hatte Hermann seiner Enkelin etwas Besonderes schenken wollen und war bereits im Sommer mit der Arbeit an dem Haus angefangen.
Stundenlang konnte Hanna mit dem Geschenk ihres Großvaters spielen. Sie liebte den Geruch des Holzes, und immer wieder fuhr sie mit den Fingern über die sorgfältig verarbeiteten Holzstücke. Bei ihrem Einzug brachte sie es ganz selbstverständlich mit, zur Freude von Hermann. Trude hielt das für überflüssig und meinte sofort, es könnte doch an andere Kinder weiterverschenkt werden.
Weder Hermann noch Hanna waren von ihrem Vorschlag begeistert und verteidigten das schöne Haus. Verschwörerisch brachten sie gemeinsam viele Argumente vor, gegen die Trude nicht mehr ankam. Das Puppenhaus zog mit Hanna ein und fand sofort einen Platz auf der Kommode, auf der es noch heute stand.
Harald hatte zusammen mit seinem Vater zuvor renoviert und den Umbau durchgeführt. Hannas neues Zimmer war Mariannes altes Kinderzimmer. Nach ihrem Auszug hatte sich dort auch nichts verändert.
Hermann meinte, ein junges Mädchen bräuchte in der heutigen Zeit ein modernes Zimmer und besprach vorher alles mit seiner Enkelin, damit sie sich in ihrem neuen Zuhause wohlfühlte. Schließlich würde sie dort einige Jahre leben müssen.
Hanna konnte sich für die Renovierungsarbeiten ihres Opas gar nicht begeisterten. Sie wollte mit ihren Eltern nach München gehen und dort ein neues Zimmer bekommen. Aber sie war noch ein Kind, was keinerlei Entscheidungsbefugnis hatte. Alles Protestieren und Weinen nutzte nichts. Ihre Eltern hatten die Entscheidung getroffen, ohne sie nach München zu gehen, was sie bis heute nicht verstand.
Anfangs hatte sie versucht mit ihren Großeltern darüber zu reden, doch sie waren fast genauso stur bei diesem Thema. Eine zufriedenstellende Antwort gab es von ihnen auch nicht, und bald waren sie auch ziemlich genervt von diesen Gesprächsversuchen.
Hanna musste sich damit abfinden, keine Antworten auf ihre Fragen zu bekommen, denn das sollte sich in Zukunft auch nicht ändern. Über gewisse Dinge wurde nicht gesprochen, und auf jede Frage gab es nicht unbedingt eine Antwort beziehungsweise die richtige.
Der Weggang von Marianne und Robert war lange Zeit Gesprächsthema in Rothwald, zumal sie ihre Tochter einfach zurückließen. Andererseits hielten die Dorfbewohner es auch für eine gute Idee, den Großeltern ein Enkelkind in Obhut zu geben, damit sie nicht zu sehr unter dem Verlust ihrer Tochter litten. Harald war ihnen geblieben, aber seine Schwester konnte er ihnen natürlich nicht ersetzen. Das konnte Hanna auch nicht, aber sie schien vorläufig ein ausreichender Ersatz zu sein.
Bei einem Spaziergang traf sie auf Christian und seine Clique. Sie nahmen sie bei sich auf, anfangs nur, weil die Oberdorfclique in der Unterzahl war. Doch es dauerte nicht lange und da spielte es keine Rolle mehr. Alle mochten das neue, schüchterne Mädchen, und sie gehörte einfach dazu, wie alle anderen auch. Sie war nicht wirklich neu im Dorf, jeder wusste, sie war die Enkelin der Nachtmanns.
Jeden Tag nach der Schule und an den Wochenenden traf sie sich mit ihnen, und ihre Tage waren lange Zeit ausgefüllt. In den Ferien war das Cliquenleben eine gute Ablenkung von dem Frust, den ihr ihre Eltern bereiteten.
In keinen Ferien hielten sie ihr Versprechen und holten Hanna zu sich nach München. Die Zeit schien wie im Flug zu vergehen und ihre Einsamkeit war durch ihre neuen Freunde gelindert worden. Nur die Nächte verbrachte sie alleine, und da gab es kein Entkommen vor der bösen Realität.
Ihre Eltern hatten sie verlassen, Großmutter und Onkel duldeten sie in ihrem Haus und ihr Großvater schien sich als Einziger über ihre Gegenwart zu freuen. Jede Nacht vor dem Einschlafen grübelte sie über ihre Fragen nach. Eine zufriedenstellende Antwort fand sie nie. Sie versuchte sich eigene Antworten zu geben, doch sie hatte keine Gewissheit über dessen Richtigkeit. Jede Nacht fragte sie sich, was wäre wenn und schlief mit den immer gleichen unbeantworteten Fragen ein.
Auch nach Hannas Auszug änderte sich das nicht. Die Fragen verließen mit ihr das Haus der Großeltern und warteten auch in Hamburg auf Antworten. So wie Hanna in Rothwald nicht zur Ruhe kam, änderte sich das woanders auch nicht. Sie sehnte sich nach einem Ende der Grübeleien, und nur deshalb war sie noch einmal zurückgekommen. Sie war kein kleines Mädchen mehr, sondern eine erwachsene Frau, die sich nicht mehr abwimmeln ließ. Sie wollte ihre Antworten, und sie würde alles daransetzen, um sie zu bekommen.
Als Hanna aus der Dusche kam, zeigte ihr Handy zehn Uhr dreißig an. Das Frühstück war längst vorbei, aber sie würde sich schnell was zu essen machen und einen großen Kaffee trinken. Es würde bald schon Mittagessen geben, aber so lange würde sie es ohne Essen nicht mehr aushalten können.
Sie zog ihre Sachen vom Vortag an und holte nur ihre dicken Socken aus der Reisetasche. Hausschuhe mochte sie nicht. Wenn man sie auszog, waren sie am Ende meistens nicht mehr an der gleichen Stelle, und man musste ihnen hinterher suchen. Ihre Oma würde das missbilligen, weil der Boden viel zu kalt sei und sie sich erkälten könne. Aber nun war sie erwachsen und traf ihre eigenen Entscheidungen.
Bevor sie den Weg in die Küche einschlug, öffnete sie ihr Fenster, um der frischen Herbstluft Einlass in ihr Zimmer zu gewähren. Ihr Bett wollte sie später machen, schließlich hatte sie Urlaub, da musste nicht alles einem exakten Zeitplan folgen.
Hermann und Trude saßen sich in der Küche schweigend gegenüber. Er las die Tageszeitung, und sie hatte einen Berg Gemüse vor sich auf dem Tisch liegen, den sie fürs Mittagessen verarbeitete.
„Guten Morgen“, begrüßte sie die beiden und ging zielstrebig auf die Kaffeemaschine zu, in der noch eine Tasse Kaffee warmgehalten wurde. „Soll ich noch mal neuen Kaffee kochen?“, fragte sie vorsichtshalber.
„Nein, brauchst du nicht. Den haben wir für dich übrig gelassen“, erklärte Trude, ohne sie anzuschauen.
Hanna nahm sich eine Scheibe Brot aus dem Brotkasten und Käse aus dem Kühlschrank. Sie setzte sich ihren Großeltern gegenüber auf die Bank und trank einen großen Schluck Kaffee. Der herrliche Duft konnte jedoch die entstandene Bitterkeit im Geschmack nicht mehr überschatten. Aber nach dem Aufstehen brauchte sie unbedingt einen Kaffee, sonst konnte sie nicht richtig in den Tag finden.
Manchmal sollte man nicht mit Ritualen brechen, wenn sie eine positive Auswirkung auf das Leben haben, hatte Hanna schon so oft beim ersten Kaffee des Tages gedacht. Den zweiten trank sie während ihrer Arbeit im Café, wenn der große morgendliche Ansturm von Frühstücksgästen bewältigt war. Da weckte ein heißer Kaffee ihre Lebensgeister von Neuem.
„Du bist ja recht spät gekommen. Hoffentlich hat Christian heute Morgen nicht verschlafen. Schließlich muss er seinen Laden pünktlich öffnen. In der Stadt sind die Leute nicht so geduldig und haben Verständnis“, sagte Trude ein wenig vorwurfsvoll.
„Wir haben uns lange nicht gesehen und hatten uns viel zu erzählen. Außerdem haben wir uns zusammen den Bildband angesehen“, brachte Hanna als Entschuldigung hervor und fragte sich, wer wohl letzte Nacht auf der Lauer gelegen hatte.
Herman faltete seine Zeitung zusammen und legte sie vor sich auf den Tisch.
„Und wie gefällt er dir? Ich finde Christians Arbeit hat sich gelohnt“, begann Hermann ein Gespräch mit seiner Enkelin.
„Die kleine Zeitreise durch Rothwald war ganz interessant, wenn man die dazugehörigen Geschichten erzählt bekommt. Ich habe in dem Buch keine Bilder von euch gesehen. Wolltet ihr euch nicht daran beteiligen?“, fragte Hanna ihren Großvater interessiert.
Mit dieser Frage hatten Trude und Hermann nicht gerechnet, und es dauerte einen Moment, bis eine Antwort kam.
„Wir haben keine Fotos mehr von unseren Eltern oder Großeltern“, sagte Trude.
Hermann schaute etwas verlegen, denn eigentlich hatte Hanna ihm die Frage gestellt, auf die er nicht so schnell antworten konnte. In solchen Situationen griff seine Frau schnell ein und übernahm für ihn das Reden.
„Ihr hättet ihm doch die eine oder andere Geschichte von früher erzählen können. Schließlich seid ihr doch hier aufgewachsen?“, ließ Hanna nicht locker und sah ihren Großvater fragend an.
Wieder war es Trude, die eine an ihn gerichtete Frage beantwortete.
„Die interessantesten Geschichten hatten inzwischen schon die anderen erzählt, die brauchte er ja dann nicht nochmal von uns hören.“
Eigentlich gab es für Hanna keinen Grund dies zu hinterfragen, doch die Reaktionen ihrer Großeltern machten sie stutzig. Sie hätte erwartet, dass ihre Oma so etwas sagte wie: Meine Familie kommt nicht aus Rothwald. Ich bin woanders aufgewachsen, und nach unserer Hochzeit bin ich hierher gezogen. Auch ihr Opa berichtigte ihre Aussage nicht. Hatte Christian nicht gesagt, ihre Oma wäre nicht aus Rothwald?
Es war schon sehr spät und müde war Hanna auch gewesen, vielleicht hatte sie da auch etwas falsch verstanden. Sie überlegte sich weitere Fragen, um sicher zu gehen.
„Wart ihr eigentlich schon als Kinder befreundet und habt euch gut verstanden? Jede Generation wächst hier wie Geschwister auf und alle kennen sich schon von klein auf ganz gut. War das bei euch auch so? In welchem Haus bist du eigentlich aufgewachsen, Oma? Das hast du mir noch nie erzählt“, gab Hanna eine Frage nach der anderen von sich. Dabei schaute sie ihrer Großmutter in die Augen.
Sie wollte Gewissheit haben. Sie wollte nur noch klare Antworten haben. Es war ihr egal, wo ihre Oma als Kind aufgewachsen war. Sie wollte nur die Wahrheit hören.
Sichtlich nervös schälte Trude ihr Kartoffeln weiter und starrte auf ihre zittrigen Hände. Sie war solche direkten Fragen zu ihrer Vergangenheit nicht gewohnt und auch nicht darauf vorbereitet. Sie musste sich schnell etwas überlegen, denn Hanna sah sie noch immer an und schien nicht damit aufzuhören, bis sie ihre Antworten hatte.
„Es war bei uns wie bei allen anderen auch. Wir kannten uns schon lange und beschlossen irgendwann zu heiraten. Mein Elternhaus gibt es nicht mehr. Es ist im Krieg ausgebombt worden und war nicht mehr zu retten, dabei ist alles verbrannt. Wir konnten uns rechtzeitig in Sicherheit bringen und hatten nur noch die Kleider, die wir trugen.“
Trude sah Hanna an, und ihre Nervosität hatte beim Erzählen nachgelassen. Sie hielt ihre Antwort für zufriedenstellend, doch das reichte ihrer Enkelin nicht. Hanna drückte ihr ehrliches Mitgefühl aus, und ihr Interesse an der Geschichte ihrer Großmutter war geweckt.
„Wo habt ihr denn dann gewohnt? Hat Opas Familie euch aufgenommen?“, fragte Hanna weiter. Zwischen ihren Großeltern schien gerade etwas zu passieren, was sie merkwürdig fand. Kurze, starrende Blicke schienen eine Geschichte zu erzählen, für die es keine Worte brauchte.
„Ich hatte eine Tante, sie war die Schwester meines Vaters. Sie lebte damals mit ihrer Familie in Grünfeldt. Sie hat uns bei sich aufgenommen, bis wir wieder ein eigenes Zuhause hatten. Mein Onkel hatte ein kleines Lokal, in dem mein Vater arbeiten konnte, deshalb sind wir dann in Grünfeldt geblieben. Opa und ich haben uns irgendwann wiedergetroffen und haben geheiratet. So war das damals“, endete Trude ihre Erzählung und machte mit einem gewissen Unterton deutlich, dass dies wohl das Ende ihrer Geschichte sei.
Die Erklärung klang für Hanna plausibel und das meinte Christian wohl damit, dass ihre Großmutter nicht von hier sei. Aber die Erinnerung an die Blicke, die sich eben zwischen den beiden ereignet hatten, räumte den Zweifel nicht wirklich aus. Ihre Oma war sehr hartnäckig, wenn sie etwas wollte. Ihre überraschenden Fragen hatten Trude aus dem Gleichgewicht gebracht. Hanna sah ihr an, dass sie keine weiteren Fragen mehr beantworten würde und beließ es dabei. Auf zukünftige Fragen war ihre Oma nun vorbereitet, und sie würde wohl nicht mehr so redselig sein wie heute. Bei einer sich bietenden Gelegenheit würde sie ihren Großvater noch mal fragen.
Inzwischen war Trude mit ihren Kartoffeln zur Spüle gegangen und wusch sie ab, wobei sie sehr beschäftigt tat. Hermann verabschiedete sich für einen Spaziergang und Hanna blieb allein am Tisch zurück. Ihr Kaffee war nur noch lauwarm und das Käsebrot unberührt. Sie tat das, was sie bereits eben tun wollte- frühstücken. Schweigend widmete sich Hanna ihrem Kaffee und dem Brot und beobachte ihre Großmutter beim Zubereiten des Mittagessens.
Bei jeder Bewegung knarrte die Bank und erfüllte die Küche mit einem unmelodischen Singsang. Die bunten Blumen auf den Bankkissen hatten durch das jahrelange Waschen ihre kräftigen Farben verloren und boten nur noch einen tristen Anblick auf dem braunen Hintergrund. Das hatte sich bis heute nicht geändert.
Hanna war erleichtert, dass sie vor ihrem Einzug selbst über die Einrichtung ihres Zimmers entscheiden konnte. Das Haus ihrer Großeltern hatte schon immer einen kühlen Eindruck auf sie gemacht. Richtig wohl hatte sie sich hier nie gefühlt. Es ist nie ein Zuhause für sie geworden. Wenn sie von diesem Zuhause sprach, hatte es für sie nie die Bedeutung, wie die ihrer Wohnung in Hamburg. Sie war nach dem Verlassen ihres Elternhauses vor fast zehn Jahren ihr richtiges Zuhause geworden.
Außer einem neuen Anstrich gab es absolut keine Veränderung im Haus. Die kalte, weiße Farbe strömte in jedem Raum von den Wänden und frischte seine Krankenhausatmosphäre auf. Sie waren schneeweiß und ließen die alten Bilder an sich eher wie einen Makel erscheinen. Auch die dunklen, wuchtigen Eichenmöbel bildeten einen unnatürlichen Kontrast. Harald und seine Eltern schien es nicht zu stören. Ihre Unnahbarkeit bildete in diesem Hause eine Stimmigkeit mit seinem Inventar. Dieser Gedanke ließ eine Gänsehaut auf Hannas Armen entstehen, und sie musste sich bei dem plötzlichen Kälteanflug kurz schütteln.
Schweigend räumte sie ihr Geschirr ab und stellte es in die Spülmaschine. Trude tat noch immer sehr beschäftigt. Hanna ließ sie mit ihren Kartoffeln und dem Blumenkohl allein in der Küche zurück. Jede Minute, die sie für sich in diesem Haus hatte, war eine Wohltat. Sie war noch keine vierundzwanzig Stunden hier und fühlte sich, als ob sie eine Woche durchgearbeitet hätte. Familienleben war anstrengend, und insgeheim hoffte sie, dass sich dieses Opfer am Ende auszahlen würde.
Im Esszimmer lag ihr Fotobildband noch an der gleichen Stelle, wo sie ihn gestern Abend zurückgelassen hatte. Bis zu ihrem Besuch bei Christian konnte sie ihm nichts abgewinnen. Mit seinen Erzählungen hatte er es geschafft, ihr Interesse für Rothwalds altes Dorfleben zu wecken.
Sie nahm ihn vom Tisch und ging damit in ihr Zimmer. Sie wickelte das Geschenkpapier erneut ab und knüllte es zu einer unförmigen Kugel zusammen, die sich knisternd ausdehnte, als Hanna es wieder aus ihren Händen in die Freiheit entließ.
Das schwere Buch hatte einen cremefarbenen Einband, auf dem ein altes Foto das Zentrum des Dorfes darstellte. Die Kirche und der Dorfplatz waren deutlich zu erkennen. Es war eine Luftaufnahme, die die einzelnen Häuser der näheren Umgebung jedoch nicht so deutlich zum Ausdruck brachte. Zudem zeichnete sich ab, wie klein Rothwald einmal gewesen war. Über dem Bild stand in einer alt aussehenden Schrift: Rothwald 1910 - 2010.
Hanna vermisste Christians Namen auf dem Buchcover und blätterte die ersten Seiten durch. Am Anfang war das gleiche Bild noch einmal abgebildet, und hier stand unter dem Titel der Zusatz:
zusammengefasst von Christian Nölle.
Mit ihrem Zeigefinger fuhr sie den Namen mehrmals entlang und dachte an den gestrigen Abend zurück. Stolz und begeistert erzählte er ihr von seiner Arbeit an diesem Buch. Sie lernte an ihm eine neue Seite kennen, die eines guten Erzählers. In die scheinbar langweiligsten Familiengeschichten legte er so viel Spannung, dass es nicht möglich war, abzuschweifen. Sie hing an seinen Lippen und war ein wenig enttäuscht, als er die letzte Geschichte aus seinem Bildband beendete.
Hanna blätterte Seite für Seite des Buches durch und ließ die dazugehörigen Geschichten Revue passieren. Gestern Abend, im Licht des Feuerscheins, konnte sie nicht jedes Detail auf den Bildern erkennen. Heute bei Tageslicht entdeckte sie noch das eine oder andere auf den Fotografien: Häuser im Hintergrund und Menschen, die sie auf den ersten Blick nicht als solche erkannt hatte.
Von den ersten vierzig Jahren gab es nicht viele Bilder. Und ab etwa neunzehnhundertfünfzig die meisten. Aber ab Anfang der dreißiger Jahre bis Ende der vierziger gab es so gut wie keine. Das fiel Hanna erst beim zweiten Durchsehen auf. Sie schob es auf das schwarze Kapitel deutscher Geschichte. Diese Zeit wollten die Rothwälder wahrscheinlich genauso vergessen wie alle anderen auch. Sie wollte Christian bei Gelegenheit nach diesem Teil des Buches fragen. Das wäre ein Grund, ihn wiederzusehen.
Bei genauer Betrachtung der Häuser konnte sie feststellen, dass ein Teil von ihnen heute noch genauso in Rothwald existierte. Sie hatten nur einen neuen Anstrich bekommen, und das Drumherum war etwas verändert. Bei den meisten Schnappschüssen der Personen standen Namen, und wenn sie an die Familienmitglieder von heute dachte, meinte sie Ähnlichkeiten zu sehen.
Bei einer Familie wusste sie sofort ohne Zweifel, wer diese war. Unter dem Kurzhaarschnitt der Männer kamen ganz deutlich die großen Ohren zum Vorschein. Ebenfalls wie die zu klein geratenen Nasen waren sie ihr Familienerkennungsmerkmal. Die Mitglieder der Familie Hölting waren nicht zu verkennen, insbesondere die männlichen.
Auf dem Foto waren Anton, Erwin und Josef mit ihrem Vater Wilhelm. Da die Mutter nicht auf dem Bild zu sehen war, vermutete Hanna, sie habe das Foto gemacht. Rechts im Bild war ein Teil der Hausecke abgelichtet, und auf der Erde davor kauerte ein kleines Mädchen. Hanna überlegte, ob es ihre Schwester sei, doch sie konnte sich nicht daran erinnern, von einer Schwester der Hölting Brüder zu wissen.
Bei den Menschen, zu denen sie keine Verbindung hatte, fragte sie sich, wer sie waren oder was aus ihnen geworden war. Vielleicht erlitten sie ein ähnliches Schicksal wie die Familie ihrer Oma. Oder sie überlebten den Krieg und waren inzwischen altersbedingt eines natürlichen Todes verstorben.
Ein Foto im Buch fand Hanna sehr interessant. Es war auf dem Dorfplatz aufgenommen worden. Unter dem Bild stand der Vermerk: Dorffest 1936. Im Gegensatz zu den anderen Fotos war auf diesem hier der alte Dorfplatz sehr gut zu sehen.
Die Mädchen trugen geblümte Kleider, Sandalen und geflochtene Zöpfe. Die Jungen sahen fast alle gleich aus in ihren kurzen Hosen und den karierten Hemden. Das Bild war im Vordergrund etwas verschwommen, wahrscheinlich, weil es eine Momentaufnahme und der Junge in Bewegung war. Die Erwachsenen standen im Hintergrund zusammen und kümmerten sich genauso wenig um den Fotografen wie die Kinder. In Rothwald schien es schon immer eine gute Dorfgemeinschaft gegeben zu haben. Alle wirkten fröhlich und ausgelassen bei ihrem Fest.
Hanna schaute sich das Bild lange an, und der Junge im Vordergrund zog ihre besondere Aufmerksamkeit auf sich. Diese Augen kannte sie. Sein Gesicht war zwar etwas verschwommen, aber die Augen konnte sie deutlich erkennen. Sie schaute in die Augen ihres Großvaters.
Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. Jetzt konnte sie sehen, wie ihr Opa als Junge ausgesehen hatte. Sie wollte ihm nach seinem Spaziergang das Foto unbedingt zeigen. Hanna glaubte, er habe sich bestimmt nicht erkannt.
Sie schaute sich auf dem Bild jedes Kind noch einmal an, in der Hoffnung, unter den Mädchen ihre Großmutter zu entdecken. Leider wies keins für Hanna eine Ähnlichkeit mit ihrer Oma auf. Bei dieser Aufnahme war es auch nicht einfach, die Menschen im Hintergrund zu identifizieren. Sie wollte ihren Opa fragen, der müsste seine Frau auf dem Bild erkennen.
Im Flur wurde es laut und Hanna vernahm Haralds Stimme. Die Haustür wurde geschlossen und sie konnte hören, wie ihr Onkel Jacke und Schuhe auszog. Kurz darauf öffnete sich die Haustür erneut. Da es nicht geklingelt hatte, musste es ihr Großvater sein, der von seinem Spaziergang zum Mittagessen nach Hause kam.
Hanna schaute auf die Uhr, es war zwölf Uhr dreißig. Sie hatte sich über eine Stunde das Buch angesehen und dabei die Zeit vergessen. Sie stand vom Bett auf, legte den Bildband auf ihren Schreibtisch und machte noch ihr Bett, bevor sie zu den anderen in die Küche ging.
Harald begrüßte Hanna und fragte sie beiläufig nach ihrer ersten Nacht zu Hause.
„Ich muss nach dem Mittagessen eine Lieferung in die Stadt ausfahren. Ich nehme dich mit, dann kannst du wegen der Stelle nachfragen“, bestimmte Harald die Gestaltung ihres Nachmittags.
Hanna fand Haralds Bevormundung anmaßend. Sie wollte deswegen jedoch keinen Streit.
„Ich habe ganz gut geschlafen“, sagte sie lediglich.
„Ich habe schon gehört, dass du eine kurze Nacht hattest. Christian scheint aber pünktlich aus dem Bett gekommen zu sein. Er ist mir heute Morgen beim Bäcker entgegengekommen. Für den ersten Abend hattet ihr euch ja viel zu erzählen“, unterbreitete der Onkel die Analyse des gestrigen Abends seiner Nichte.
Hanna war der Ansicht, dass der Abend bei Christian keinen etwas anging und erwiderte auch darauf nichts. Stattdessen suchte sie das Gespräch mit Hermann, um ihm von ihrer Entdeckung zu berichten.
„Opa, ich habe mir eben noch mal die Fotos aus Christians Buch angesehen. Ich glaube, auf einem der Bilder bist du drauf. Ich bin mir nicht ganz sicher, weil es ein Kinderfoto ist“, sagte sie aufgeregt.
Hermann wollte nicht mehr über früher reden, deshalb war er in einen Spaziergang geflüchtet. Er wollte die Vergangenheit ruhen lassen. Trudes und Haralds Idee für Hannas Geburtstagsgeschenk schien seine Frau wohl inzwischen zu bereuen. Anstatt Hanna damit die Zukunft in Rothwald schmackhaft zu machen, beschäftigte sich ihre Enkelin lieber mit der Vergangenheit.
Niemand interessierte die wahre Geschichte von Rothwald, da war sich Hermann sicher. Christians Fotobildband war eine schöne Fassade, die sich gut nach außen hin präsentierte, doch die Realität dahinter waren gutgehütete Geheimnisse. Nur so konnte Rothwald weiterexistieren.
Wie jeden Tag ging Hermann den gleichen Weg ums Dorf herum und setzte sich für eine Weile auf eine Bank, von wo aus sich der ganze Ort überblicken ließ. Von hier aus konnte man dem täglichen Treiben auf den Straßen oder in den Gärten zuschauen. Vor vielen Jahren hatte er seinen ersten Spaziergang hierher gemacht und seitdem war er ein fester Bestandteil seines Lebens. Nur der Zeitpunkt hatte sich geändert. Als er noch berufstätig war, war er nach dem Abendessen seine Runde gegangen. Mittlerweile ging er nach dem Frühstück.
Die Anstellung im Sägewerk hatte ihm das Arbeiten im Freien ermöglicht, wo er sich am liebsten aufhielt. Bevor er seinen Aussichtsposten verließ, warf er einen letzten Blick auf die rechte Seite des Dorfes. Für einen kurzen Moment schloss er die Augen und setzte seinen Weg dann weiter fort. Niemand hatte ihn jemals auf diesem Spaziergang begleitet. Er war das Einzige, was er für sich alleine in seinem Leben hatte.
„Ich werde mir nachher das Foto ansehen. Das Essen ist fertig“, vertröstete Hermann seine Enkelin auf einen späteren Zeitpunkt.
Ein wenig enttäuscht stimmte Hanna zu und deckte den Tisch ein. Trude trug die dampfenden Schüsseln ins Esszimmer, während die Männer sich auf ihre Plätze begaben.
Harald hatte immer Hunger und aß seine erste Portion. Alles sah gut aus und roch auch so, doch Hanna konnte sich nicht vorstellen, wie sie das große Schnitzel auf ihrem Teller aufessen sollte. Ihr Frühstück war noch nicht so lange her, und außerdem war sie solche üppigen Mahlzeiten nicht mehr gewohnt, und schon gar nicht so früh am Tag. Sie schnitt sich eine Hälfe ab und legte die andere zurück auf die Servierplatte. Vom Blumenkohl und den Kartoffeln schob sie die Hälfte an den Tellerrand. Trude nahm Hannas Verhalten verständnislos und stillschweigend hin.
„Ich bin noch satt vom Frühstück. So viele regelmäßige Mahlzeiten bin ich gar nicht mehr gewohnt“, gab Hanna schnell als Erklärung ab, denn der Blick ihrer Oma schien Bände zu sprechen.
„Das wird sich bald ändern, wenn du hier wieder regelmäßige Mahlzeiten zu dir nimmst. Beim Essen kann man sich schnell umstellen“, meinte Harald.
Für ihn war Hanna zurückgekehrt, und er wollte auch nichts mehr von ihrem Leben in Hamburg wissen. Mit ihm würde sie noch in Streit geraten, da war sich seine Nichte ganz sicher.
Trude und Hermann hatten ebenso wenig wie Hanna etwas zu erzählen. Es war genauso wie vor ihrem Verschwinden- ein wortkarges Miteinander. Die Geräusche von Besteck und Geschirr, die beim Essen aller Beteiligten entstanden, erfüllten das Esszimmer mit mehr Lebendigkeit als die Lebewesen in ihm.
Während Hanna noch mit ihrer ersten Portion kämpfte, begann Harald schon mit seiner dritten und gönnte sich auch noch Hannas verschmähte Hälfte des Schnitzels. Er hatte nur eine Dreiviertelstunde Mittagspause, die gleich schon wieder um war. Mit dem letzten Bissen im Mund stand er auf, zog seine Hose zurecht und ging ins Bad.
„Bist du soweit? Ich muss los. Ich habe gleich noch Termine“, rief er kurz darauf aus dem Flur nach seiner Nichte.
Hanna hatte den Grund verdrängt, warum er sie mit in die Stadt nehmen wollte.
„Ja, ich komme. Einen Moment, ich hole nur eben meine Sachen“, antwortete sie resigniert.
Auf eine aufgezwungene Fahrt mit Harald hatte sie gar keine Lust, aber wenigstens konnte sie so dem Mittagstisch entkommen. Wegen des Ausbildungsplatzes würde sie sich unterwegs etwas überlegen, um Harald ruhig zu stellen.
Hastig zog sie ihre Jacke an und griff nach ihrem Handy. Sie steckte es in ihre Tasche, und im letzten Moment schnappte sie sich noch den Bildband und packte ihn ebenfalls ein.
Harald wartete bereits ungeduldig im Wagen und klopfte mit dem Zeigefinger auf die Uhr an seinem linken Arm, als er sie in der Tür sah.
Hanna rannte fast zur Beifahrertür, riss sie auf und stieg ein. Bevor sie sich anschnallen konnte, fuhr ihr Onkel bereits aus der Einfahrt. Sie hoffte, die Fahrt wäre schnell zu Ende und sie konnte einem Gespräch entkommen, doch da hoffte sie vergebens. Harald ließ es sich nicht nehmen, sie mit Vorwürfen zu überhäufen.
„Kannst du dir eigentlich vorstellen, was wir uns vor drei Jahren für Sorgen um dich gemacht haben? Dir ist es bei uns immer gut gegangen. Dir hat nichts gefehlt. Oma und Opa haben das nicht verdient. Wochenlang waren wir Dorfgerede, weil du von heute auf morgen weg warst. Wir haben es so hinbekommen, dass alle glaubten, du seiest zu deinen Eltern gezogen. Aber als du nach einem Jahr nicht einmal zu Besuch kamst, fing das Gerede erneut an. Falls dich jemand fragt, bist du viel mit deinen Eltern gereist. Es wäre einfach besser für dich, sonst erzählen sie noch blöde Geschichten über dich, wie über Marianne.“
Hanna schaute überrascht, denn sie kannte keine blöden Geschichten über ihre Mutter, die im Dorf erzählt wurden.
„Was für blöde Geschichten über Mama meinst du denn?“, fragte sie nach.
„Vergiss was ich sagte, es war nur so daher gesagt. Du weißt ja wie schnell sich Geschichten in Rothwald verbreiten, erspar es deinen Großeltern einfach“, verlangte er von ihr.
Für den Rest der Fahrt dachte Hanna über Haralds Standpauke nach, und je länger sie das tat, desto wütender wurde sie auf ihn. Wie kann er behaupten, mir hätte nichts gefehlt? Mein halbes Leben lang fehlt mir meine Familie. Sie haben mich wie einen alten Schrank bei meinen Großeltern untergestellt und vergessen abzuholen. Eine größere Demütigung gab es aus ihrer Sicht nicht.
Eigentlich wollte sie die Gelegenheit nutzen, ihm in aller Deutlichkeit zu erklären, dass ihr Aufenthalt nur ein Besuch sei. In ihrer Wut unterließ sie es aber, weil sie befürchtete, noch andere Sachen zu sagen, die sie nachher wahrscheinlich bereute. Sie musste es ihm auf einem anderen Weg begreiflich machen. Sie wollte nichts von dem befolgen, was er von ihr verlangte. Sie würde den Leuten im Dorf die Wahrheit erzählen. Und der Ausbildungsplatz beim Kinderarzt interessierte sie erst recht nicht. Wenn sie in ein paar Tagen das Haus wieder verließ, würde er schon sehen, was sie von seiner Bevormundung hielt.
Harald ließ Hanna in der Innenstadt an einer Bushaltestelle aussteigen.
„Dann bis heute Abend“, sagte er und fuhr direkt weiter zu seinem Termin.
„Tschüss“ gab Hanna genervt beim Aussteigen von sich und knallte die Autotür hinter sich zu.
Weilach war eine Kleinstadt, die nichts Attraktives zu bieten hatte. Für den alltäglichen Bedarf bekam man alles, aber suchte man was Außergewöhnliches, suchte man vergebens. In Hamburg war das kein Problem. Dort fand jeder, was das Herz begehrte.
Bevor Hanna sich auf den Weg machte, schaute sie auf den Busfahrplan. Die Zeiten hatten sich geändert. Der letzte Bus fuhr nun um achtzehn Uhr nach Rothwald. Somit hatte sie über vier Stunden, um ihrer Wut Luft zu machen. Die Fahrzeiten besagten, dass zu jeder vollen Stunde bis achtzehn Uhr ein Bus fuhr, also konnte sie auch früher zurückfahren.
Auf direktem Weg in die Fußgängerzone kam sie an der Kinderarztpraxis von Dr. Stolte vorbei. Sie machte nicht einen Schritt Richtung Eingangstür. Sie würde einfach sagen, die Stelle sei inzwischen vergeben. Wenn sie so behandelt wurde, hatte sie keine andere Wahl als sie zu belügen, auch, wenn ihr das zuwider war.
Harald und ihre Großeltern hatten so einige Geheimnisse vor ihr, und Hanna fand, dass das nichts anderes als Lügen war. Was sollte die Anspielung auf ihre Mutter? Anstatt ehrlich zu sein, belog er sie. Hanna wollte nicht so enden wie die Menschen in Rothwald und überlegte morgen schon wieder abzureisen.
Sie konnte das Familienleben jetzt schon nicht mehr aushalten. Es ging ihr mit ihrer Entscheidung nicht gut. Sie musste sich damit abfinden, keine Antworten zu bekommen. Sie würde morgen nach Hamburg fahren.
Beim Frühstück wollte Hanna ihnen sagen, was sie zu sagen hatte. Weil sie so seien, wie sie eben seien, hätten sie sie aus dem Haus getrieben. Es sei ihre alleinige Schuld, dass sie vor ihnen flüchten musste. Dann würde sie ihre Tasche nehmen und ihnen sagen, sie wolle sie nie wieder sehen.
Als sie das dachte, hatte sie bereits ein schlechtes Gewissen, denn um ihren Großvater tat es ihr ein bisschen leid. Er war irgendwie anders zu ihr, andererseits ließ er sie auch mit ihrem Kummer allein. Sie konnte auf ihn keine Rücksicht nehmen. Morgen reiste sie ab, Schluss, aus, Ende, entschied Hanna für sich.
Während sie mit sich selbst haderte, landete sie vor Café Klein und ging, noch in Gedanken versunken, hinein. Die Auslage quoll mit bunten Köstlichkeiten über. Hanna konnte sich nicht entscheiden und bestellte nur einen Cappuccino. Sie setzte sich an einen der hinteren Tische, von dem sie einen guten Ausblick nach draußen hatte. Sie mochte nicht direkt am Fenster sitzen, dort würde sie sich wie auf dem Präsentierteller fühlen.
Hanna machte es sich gemütlich, soweit das in einem Café ging und wartete auf ihren Kaffee. In der Zwischenzeit nahm sie den Fotobildband von Rothwald aus ihrer Tasche und legte ihn vor sich auf den Tisch. In der Eile hatte sie ihn gegriffen und eingesteckt. Nun würde er ihr die Langeweile ein wenig vertreiben.
Die Bedienung kam und stellte ihr ihren Cappuccino hin. Hanna bedankte sich und vom Kassenbon ragte ihr die Zahl zweifünfunddreißig entgegen. Sie drehte den Zettel um und versuchte die Zahl zu vergessen. Die ältere Frau, die ihr ihre Bestellung brachte, war ganz typisch für so ein Café gekleidet: weiße Bluse, weiße Schürze, schwarzer Rock und schwarze Schuhe. Ihre grauen Haare waren streng nach hinten gekämmt und mit kleinen braunen Haarkämmen zu den Seiten festgesteckt. Dies Erscheinungsbild machte die Frau viel strenger, als sie zu sein schien, denn die Worte aus ihrem Mund klangen freundlich.
Hanna mochte keinen gesüßten Kaffee, und deshalb verrührte sie nur den Milchschaum. Sie nahm die Tasse in beide Hände und spürte die Wärme dadurch. Das würde heute ihr erster leckerer Kaffee sein, und den wollte sie in aller Ruhe genießen.
Sie lehnte sich in ihrem Stuhl zurück, streckte die Beine unter dem Tisch aus und blickte auf das Foto von dem Buchcover. Dabei trank sie den ersten Schluck und war froh, sich für dieses Café entschieden zu haben.
So bieder eingerichtet es für die heutige Zeit war, tat es dem guten Cappuccino und den Auslagen keinen Abbruch. Hanna war noch nicht oft hier gewesen, nur manchmal nach dem Einkaufen mit ihrer Großmutter.
Sie wusste nicht mehr, wann sie zuletzt hier war, aber es kam ihr wie gestern vor. Die dunkelbraunen, wuchtigen Möbel mit ihren weinroten Bezügen auf den Stühlen und den Bänken würden wohl noch in hundert Jahren hier stehen, vermutete Hanna.
Sie schob ihre Tasse ein wenig zur Seite und schlug das Buch auf. Jedes Bild besah sie sich von Neuem und überflog die Texte. Auch jetzt fielen ihr wieder Details auf, die sie vorher nicht wahrgenommen hatte. Dieses Buch faszinierte sie immer mehr, besonders das Bild vom Dorffest 1936. Je öfter sie es anschaute, desto sicherer war sie, dass der Junge mit dem leicht verschwommenen Gesichtsausdruck ihr Großvater war. Hanna war sehr mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt. Sie bemerkte zunächst nicht, dass die Bedienung sie ansprach.
„Sie schauen sich den Fotobildband von Rothwald an. Ich habe ihn mir auch gekauft. Ich finde, der junge Mann hat damit eine tolle Sache für das Dorf geleistet“, begann die Frau ein Gespräch mit ihrem Gast.
Hanna stimmte ihr zu und meinte es auch so. Die Bedienung drehte das Buch ein bisschen zu sich herum und zeigte auf ein Mädchen mit zwei langen Zöpfen.
„Das ist meine ältere Schwester Maria. Und das hier ist Hildegard, ihre beste Freundin. Sie sahen sich sehr ähnlich, sodass jeder sie für Zwillinge hielt“, erzählte sie weiter und zeigte auf ein anderes Mädchen.
„Sie sind aus Rothwald?“, fragte Hanna überrascht. „Darf ich fragen, aus welcher Familie Sie kommen?“
„Thormann“, war die Antwort auf Hannas zweite Frage. „Ich bin als Therese Thormann geboren und seit meiner Heirat mit Theo heiße ich Klein. Ich habe direkt nach meiner Hochzeit Rothwald verlassen und lebe seitdem in Weilach. Früher war das Handwerk noch eine viel härtere Arbeit als heute. Im Krieg ist so viel zerstört worden, da war jede helfende Hand erforderlich“, teilte sie mit Hanna ihre Erinnerungen.
Hanna erzählte ihr von ihrem Besuch und dem Geschenk. Die gebürtige Rothwälderin freute sich über das Interesse ihres Gastes an der Chronik.
Spontan fragte Hanna Frau Klein nach den anderen Kindern auf dem Bild, denn die ältere Frau schien sich noch an sie zu erinnern.
Zuletzt zeigte sie auf den Jungen, den sie für ihren Opa hielt. Frau Klein überlegte kurz und dann schien es ihr wieder einzufallen.
„Das ist Albert. Er ist ein paar Jahre älter als ich. Ich hatte nicht viel mit ihm zu tun“, erklärte sie.
„Sind sie sicher, dass er Albert heißt?“, fragte Hanna enttäuscht.
„Ja, da bin ich mir sicher. Er war bei Maria in der Klasse. Sie kannte ihn gut. Doch, da bin ich mir ganz sicher“, bestätigte ihr Therese nochmals.
Hanna bedankte sich für das nette Gespräch und bestellte einen zweiten Cappuccino. Wenige Augenblicke später war Frau Klein mit einer neuen Tasse und einem Teller mit Kleingebäck zurück.
„Lassen Sie es sich schmecken“, sagte die alte Frau lächelnd und stellte den Teller neben Hannas Kaffeetasse. Sie bedankte sich und versuchte ihre Enttäuschung zu verbergen. Frau Klein war eine Zeitzeugin und mitten im Geschehen des damaligen Rothwalds gewesen. Sie kannte die Menschen aus dieser Zeit. Hanna schloss damit vorläufig einen Irrtum dieser Frau aus.
Andererseits war es über siebzig Jahre her, und das Bild war teilweise verschwommen. Vielleicht verwechselte sie auch nur jemanden, machte sich Hanna neue Hoffnungen. Sie würde heute Abend einfach ihren Opa fragen. Der muss ja schließlich wissen, ob er auf diesem Foto war. Damit konnte sie sich erst einmal zufrieden geben.
Hanna packte das Buch zurück in ihre Tasche, aß den letzten Keks und trank ihre Tasse leer. Frau Klein stand an der Theke und verkaufte einem Kunden gerade eine Platte gedeckten Apfelkuchen. Hanna stellte sich hinter ihm an und als er sich verabschiedete, reichte sie Frau Klein einen Fünfeuroschein über die Theke.
„Lassen Sie mal Fräulein. Sie sind mein Gast“, lehnte sie Hannas Geld ab.
„Vielen Dank, Frau Klein. Es hat mich sehr gefreut, Sie kennenzulernen“, bedankte sich Hanna für die Einladung.
„Ich habe gar nicht nach Ihrem Namen gefragt“, sagte Frau Klein bei der Verabschiedung.
„Ich bin Hanna, Hanna Fischer. Meine Großeltern sind Hermann und Trude Nachtmann“, erzählte sie.
„Nachtmann?“, fragte Therese Klein überrascht.
„Ja“, bestätigte Hanna mit einem Lächeln.
Als die Frau hinter der Theke den Nachnamen ihrer Großeltern aussprach, wurde ihre Stimme leiser und sie hatte plötzlich so einen merkwürdigen Gesichtsausdruck. Alle Freundlichkeit war aus ihrer Stimme verschwunden. Hanna irritierte das plötzliche Umschwenken ihrer Stimmung.
„Frau Klein, ist alles in Ordnung mit Ihnen?“, fragte Hanna etwas besorgt.
Therese Klein sammelte ihre Gedanken und legte wieder einen anderen Ton in ihre Stimme.
„Aber ja, es ist alles gut. Es war nett, Sie kennengelernt zu haben, Hanna“, meinte die ältere Frau zum Abschied.
Hanna verabschiedete sich und verließ das Café. Die Verabschiedung fand sie im Nachhinein seltsam. Der Name ihrer Großeltern schien etwas bei der alten Frau ausgelöst zu haben. Ihr Blick glich dem ihrer Großeltern heute Morgen beim Frühstück.
Weil Hanna nicht wusste, was sie mit ihrer Zeit anfangen sollte, bummelte sie lustlos durch ein paar Geschäfte und kam irgendwann an Christians Atelier an.
Im großen Schaufenster hingen Babyportraits und Fotos von einer Hochzeit. Die Braut trug ein weißes Kleid, das von oben bis unten mit funkelnden Applikationen bestickt war. Der Saum und die Ärmel waren mit Rüschen in Rosenform besetzt. Hanna fand das Kleid extrem kitschig, weil es sie an ein Prinzessinnenkleid für Barbiepuppen erinnerte. Die dunkelroten Rosen in ihrer linken Hand rundeten das Ganze ab. Der Farbton der Blumen wirkte auf Hanna wie ein überdimensionaler Blutfleck, der sich auf dem strahlend weißen Kleid auszubreiten drohte.
Der Bräutigam trug einen schlichten schwarzen Anzug, und beide lächelten über ihr gemeinsames, glückliches Ereignis. Der schönste Tag in ihrem Leben, dachte Hanna. Von ihr würde es nie solche Fotos geben, da war sie sich ganz sicher. Solche Fotos gab es doch überall in unzähligen Wiederholungen. Nur die zwei Statisten sahen jedes Mal anders aus. Die Bilder waren für sie nur eine Fassade: Braut und Bräutigam auf einer grünen Wiese umringt von Bäumen oder Braut und Bräutigam vor einer Schlossfassade.
Im kleineren Schaufenster auf der rechten Seite hing ein großes schwarzweiß Portrait einer Familie, ganz klassisch. Vater und Mutter lächelten mit ihren vier Söhnen in die Kamera. Die Jungen standen der Größe nach wie Orgelpfeifen vor ihren Eltern. Hanna vermutete, dass immer nur ein Jahr zwischen dem älteren und dem nächstjüngeren Bruder lag.
Nur zufällig schaute Christian nach draußen und entdeckte Hanna vor seinem Schaufenster. Er freute sich, sie schon wieder zu treffen und riss förmlich die Ladentür auf. Die kleinen Glöckchen, die auf das Öffnen der Tür hinwiesen, überschlugen sich in ihrem Klingeln.
„Hanna, was für eine erneute Überraschung, dich zu sehen“, begrüßte er sie.
„Mich hat es heute irgendwie nach Weilach verschlagen. Und da ich schon mal hier bin, dachte ich, ich könnte mir kurz dein Atelier ansehen und dich von der Arbeit abhalten“, teilte sie ihm ihr spontanes Vorhaben mit.
Einen Besuch bei Christian hatte sie nicht geplant. Es waren eher die unfreiwilligen Umstände, die sie zu ihm führten. Er nahm sie bei der Hand und führte sie hinein.
„Das ist mein zweites, kleines Reich, das erste kennst du ja schon“, präsentierte Christian seinen Laden.
Hanna drehte sich langsam im Kreis, um sich in Ruhe umzusehen. Das Atelier schien ihr nicht sehr groß zu sein, aber sie kannte auch kein anderes, um einen wirklichen Vergleich ziehen zu können.
Rechts, in einer fensterlosen Ecke, standen verschiedene Stellwände, Scheinwerfer und ein Stativ. Im Hintergrund an den Wänden reihten sich Kisten und Kindermöbel aneinander. Der Verkaufsraum war im hinteren Bereich durch eine helle Theke getrennt, die sich direkt gegenüber der Eingangstür befand. An den Wänden standen Regale in Schwarz und Buche, die mit Bilderrahmen, Fotoapparaten, Alben und allem möglichen Kram für Fotos bestückt waren. Ein kleiner runder Glastisch, mit schwarzen Sitzwürfeln drum herum füllte auf der linken Seite den Innenraum weiter aus. Die schmale grüne Umrandung der Tischplatte war der einzige Farbtupfer in diesem Bereich. Durch die Schaufenster strömte genug Tageslicht herein, was das Atelier sehr gut erhellte.
Christian war noch nie stolz auf seinen Laden gewesen. Er war für ihn nur sein Arbeitsplatz, so wie sein Haus der Ort war, an dem er lebte. Hanna gegenüber war er stolz, sie interessierte sich für seine Arbeit, im Gegensatz zu Silke. Er hielt seinen Beruf für nichts Besonderes, doch er liebte ihn. Fotografieren bedeutete für ihn, ein Stück Welt in ihrem Istzustand zu bewahren oder Geschichte festzuhalten. Der Moment, in dem er ein Foto machte, war nicht mehr veränderbar. Natürlich konnte er auf die Löschtaste drücken oder das Bild bearbeiten, aber das meinte er nicht. Der Augenblick, in dem er auf den Auslöser drückte, war an sich nicht wiederholbar, denn dieser Bruchteil einer Sekunde gehörte im nächsten Moment der Vergangenheit an.
Unaufgefordert setzte sich Hanna auf eine der Sitzgelegenheiten und legte auf eine zweite ihre Tasche. Christian nahm grinsend auf dem letzten freien Würfel gegenüber Platz.
„Hat dich das große Shoppingparadies Weilach hierher gelockt, oder konntest du es ohne mich in Rothwald nicht mehr aushalten?“, fragte er sie ganz direkt mit einem Lachen, um seine Ernsthaftigkeit hinter dieser Frage zu verbergen.
„Weder das eine noch das andere“, klagte Hanna ihm ihr Leid mit Harald, wobei sie gewisse Details ausließ.
Dabei kam die ganze Wut von eben wieder hoch, was sie gar nicht wollte.
„Wäre es denn so schlimm, wieder zurückzukommen? Du musst ja nicht bei deinen Großeltern und Harald leben. Du könntest dir eine eigene Wohnung nehmen. Eine Ausbildung wäre nicht verkehrt, aber es muss ja nicht Arzthelferin sein. Obwohl, wenn ich krank bin, könntest du mich gesund pflegen“, versuchte er ihr gute Gründe für eine Rückkehr verständlich zu machen, was sie daraufhin skeptisch schauen ließ.
Christians Worte machten sie noch wütender.
„Habt ihr euch etwa abgesprochen? Ich bin nur zu Besuch hier und werde wieder abreisen“, sagte sie lauter als beabsichtigt.
„Dir scheint es ja richtig ernst zu sein mit deinem Besuch. Ich meine, dass du nicht zurückkommen wirst. Was ich sagen wollte war, ich würde mich sehr darüber freuen, falls du es dir anders überlegst. Wie dem auch sei, du triffst deine Entscheidungen, egal, was andere von dir erwarten. Es ist dein Leben“, lenkte Christian ein und Hanna beruhigte sich wieder.
„Tut mir leid, ich wollte dich nicht so anfahren“, entschuldigte sie sich.
Hanna holte das Buch aus ihrer Tasche und legte es zwischen sie auf den Tisch.
„Ich habe mir mit deinem Buch heute die Zeit vertrieben. Ich glaube, ich habe auf einem der Bilder meinen Opa entdeckt, auf dem Bild Dorffest 1936.“
Sie blätterte zur entsprechenden Seite und zeigte ihm ihre Entdeckung.
Christian nahm den Bildband in die Hände und schaute angestrengt auf den Jungen.
„Das Bild ist ein wenig verschwommen.“
„Sieh dir seine Augen an. Das sind die Augen meines Opas.“
Christian tat ihr den Gefallen und schaute ein zweites Mal hin, aber er konnte Hannas Vermutung nicht beipflichten.
„Hast du Hermann das Bild schon gezeigt?“
„Konnte ich noch nicht, das werde ich heute Abend nachholen“, erklärte sie und erzählte ihm von ihrem Gespräch mit Frau Klein.
„Aber wenn sich Frau Klein ganz sicher ist, dass dieser Junge ein anderer ist, wird dein Opa dir das sicher bestätigen“, wollte der Fotograf das Thema beenden.
„Mit Rätselraten komme ich sowieso nicht weiter. Ich werde Opa fragen und meine Antwort bekommen“, beendete auch Hanna das Thema. „Das ist also dein Arbeitsreich. Dein Atelier gefällt mir“, sagte sie, weil sie nach einem neuen Gesprächsthema suchte.
Sie könnte stundenlang mit ihm über den Bildband reden, aber sie hatte das Gefühl, er würde lieber alles über sie wissen wollen.
„Danke. Ich habe das Glück, der einzige Fotograf mit Studio in Weilach zu sein. Das ist ein guter Vorteil. Alle anderen Fotografen arbeiten eher hobbymäßig zu Hause und werden nur für irgendwelche privaten Veranstaltungen gebucht“, erläuterte Christian. „Wie lange bleibst du in Weilach? Falls du bis zum Abend bleibst, kann ich dich nachher mitnehmen. Um halb sieben schließe ich den Laden“, bot Christian ihr an.
Hanna schaute auf die Uhr.
„Es ist erst halb vier und ich wüsste nicht, was ich hier noch drei Stunden machen sollte. Ich werde den Bus um vier Uhr nehmen.“
„Okay. Ich lasse dich unter einer Bedingung gehen. Ich gehe nach Ladenschluss einkaufen, und du kommst um acht Uhr zu mir zum Essen“, verlangte Christian von ihr.
Hanna sah ihn an und erinnerte sich an ihren Plan für morgen. Ein Abendessen wäre eine gute Gelegenheit, sich zu verabschieden. Außerdem wollte er demnächst nach Hamburg kommen, dann würden sie sich ja schon wiedersehen. Hanna ging auf sein kleines Spiel ein und stellte ebenfalls eine Bedingung.
„Ich habe noch Fragen zum Buch, die musst du mir aber dann beantworten“, forderte sie nun von ihm ein.
„Einverstanden. Du kommst um acht Uhr zum Essen und anschließend beantworte ich deine Fragen“, willigte er ein.
Hanna verabschiedete sich mit einer kurzen Umarmung von ihm und verließ den Laden unter Glöckchenklingeln.
Christian sah ihr so lange nach, bis sie um die nächste Ecke verschwunden war. Während er ihr nachschaute, fragte er sich, warum sie sein Fotobildband so sehr interessierte. Sie hatte doch die Flucht aus Rothwald ergriffen, und ihr jetziger Aufenthalt sollte doch nur ein kurzer Besuch sein. Niemand der Rothwälder hatte je so großes Interesse am Buch gezeigt wie sie. Jede Familie hatte es gekauft, damit sie es hatten. Aber nicht, um sich mit ihren Wurzeln auseinander zu setzen.
Hanna war für ihn schon immer geheimnisvoll gewesen. Er hatte sich oft gefragt, wer sie wohl wirklich war. Das wollte er herausfinden und ihr Treffen am Abend sollte ihm dabei helfen, ihre Geheimnisse zu lüften. Und wenn es einen Umweg über das Buch bedeutete, sollte es ihm recht sein. Er wollte Hannas Herz gewinnen. Und wenn sie es in Rothwald verlor, hatte sie einen triftigen Grund, nach Hause zurückzukommen.