Читать книгу Ein Moment der Stille - Rebecca Hünicke - Страница 4
18. Oktober 2010
ОглавлениеMontag. Das Taxi hielt in der Einfahrt und Hanna bezahlte dem Fahrer dreißig Euro, von denen zwei Euro sechzig Trinkgeld waren. Sie bezahlte immer auf fünf oder zehn Euro genau, deshalb hasste sie es, in Geschäften mit Bargeld zu bezahlen. Die Kassiererinnen wollten immer irgendwelche Centbeträge haben. Bei Hanna sollte immer alles rund laufen, auch das Bezahlen. In Läden zahlte sie stets mit Karte, da musste sie sich nicht mit krummen Zahlen abgeben.
Als der Fahrer ihr ihre Reisetasche in die Hand gab, wurde sie von diesem seltsamen, altbekannten Gefühl übermannt. Sie wusste gleich, dass es ein Fehler war, hierher zurückzukommen. Während sie noch überlegte, wieder ins Taxi zu steigen, fuhr es bereits ab. Sie beschloss zu verschwinden, bevor sie jemand sah. Unterwegs würde sie ein neues Taxi bestellen und zurück zum Bahnhof fahren.
Der Begrüßungsruf von Harald ließ ihre neue Überlegung wie eine Seifenblase zerplatzen, und Hanna fügte sich ihrem Schicksal. Sie erwiderte mit einem kurzen Winken und ging langsam auf ihren Onkel zu, der ihr mürrisch entgegen kam.
„Da bist du ja endlich. Wir dachten schon, du kommst nicht mehr“, sagte er und nahm ihr ihre Reisetasche ab.
„Der Zug hat sich verspätet, ein umgekippter Baum lag auf den Schienen. Das Anrücken der Feuerwehr hat ewig gedauert, und dann mussten sie erst den Baum zerlegen, bevor sie ihn entfernen konnten“, entschuldigte sich Hanna.
„Du hättest wenigstens anrufen können. Du weißt doch, dass Oma sich schnell Sorgen macht“, gab Harald vorwurfsvoll von sich.
„Mein Akku ist leer“, schob sie noch schnell als Ergänzung nach. Eigentlich hatte sie nur an diese Ausrede gedacht. Sie wollte sie gar nicht laut aussprechen, aber Haralds Vorwurf hatte sie dazu verleitet. Jetzt war sie raus und konnte nicht mehr zurückgenommen werden. Sie würde sonst als Lügnerin dastehen, und das wollte sie auf keinen Fall.
Mit jedem weiteren Schritt Richtung Haus fiel ihr das Gehen schwerer. Sie setzte einen Fuß vor den anderen und begann zu zählen. Dreiunddreißig Schritte ging sie bis zur Haustür, und jeder einzelne fühlte sich für sie unüberwindbar an. Ihre Füße schienen sich in Betonklötze verwandelt zu haben. Sie wollte nicht hier bleiben. Sie bereute es, Harald ihre Reisetasche gegeben zu haben. Mit ihr hätte sie losrennen und dieses Haus wieder der Vergangenheit überlassen können.
Eine alte, vertraute Stimme fesselte sie an das Haus.
„Hallo Hanna, da bist du ja endlich. Wir warten bereits mit dem Essen auf dich. Ich hoffe, es muss nicht aufgewärmt werden. Du weißt doch, dass Opa seine festen Mahlzeiten braucht. Wenn es noch länger dauert, wird er den Rest des Abends schlechte Laune haben“, tadelte ihre Oma sie zur Begrüßung.
Hanna konnte sich nicht daran erinnern, ihren Großvater jemals mit schlechter Laune erlebt zu haben, schon gar nicht wegen aufgewärmtem Essen. Vielleicht hatte sich das ja in den letzten Jahren geändert, vermutete sie und bereitete sich innerlich auf einen Vorwurf von ihm vor.
Die erwartete Vorhaltung blieb aus. Der Großvater freute sich über die Ankunft seiner Enkelin. Er nahm sie in den Arm und streichelte ihr ein wenig zittrig über den Kopf. Er begrüßte sie herzlich.
„Schön, dass du wieder zu Hause bist.“
Lange hielt der alte Mann seine Enkelin umarmt, bis seine Frau alle aufforderte, sich endlich zu setzen. Prüfend fuhr sie mit den Händen an den Schüsseln entlang und befand das Essen für noch ausreichend heiß. Der Reihe nach nahm sie einen Teller nach dem anderen und füllte sie mit Erbsensuppe. Anschließend verteilte sie an alle ein Stück Weißbrot, so wie sie es immer getan hatte. Zuerst bekam ihr Mann seine Portion, dann Harald, anschließend sie. Sie selbst nahm sich immer zum Schluss.
Hanna ließ ein paar Blicke durchs Esszimmer schweifen. Sie musste nicht darüber nachdenken, ob sich etwas verändert hatte. Sie stellte schon beim Betreten des Hauses keine Veränderung festgestellt. Jede Blume stand an ihrem Platz. Die Kissen waren noch in der gleichen Anordnung auf den Stühlen und Sofas wie bei ihrer Abreise. Alle Figuren und Fotos präsentierten sich wie angewachsen auf ihren Plätzen.
Sie hatte nicht wirklich etwas anderes erwartet, und das war auch mit ein Grund, warum sie an ihrem achtzehnten Geburtstag das Haus verließ. Sie brauchte Luft zum Atmen. Hier hatte sie das Gefühl elendig zu ersticken. Sie hatte nur ihre wichtigsten Sachen gepackt, ihr Sparbuch geplündert und war am Bahnhof in den ersten Zug gestiegen, der gerade zur Abfahrt bereit war. So führte sie ihr Weg nach Hamburg. Ihr Zielort war ihr egal, er musste nur weit genug weg von ihrem Zuhause sein.
Ihr neues Leben begann ganz schnell und unkompliziert. Sie fand eine billige Unterkunft in einer Pension und einen Job direkt am nächsten Morgen. Einen zweiten Arbeitsplatz für den Abend erhielt sie drei Tage später. Abends spülte sie Geschirr in einem Restaurant und morgens bediente sie in einem Frühstückscafé.
Die ersten Wochen waren hart für Hanna, denn tagsüber war sie zwischen den Jobs auf Wohnungssuche und konnte sich kaum Ruhepausen gönnen. Durch einen glücklichen Zufall vermittelte ihr ein Kollege im Restaurant die Wohnung eines Bekannten. Dieser zog gerade um, und es gab noch keinen Nachmieter. Wohnung war übertrieben, es war ein winziges Zimmer mit Kochzeile und einem kleinen Bad mit Dusche. Es war allemal günstiger als das Zimmer in der Pension, und eine nervige und überaus neugierige Pensionswirtin gab es auch nicht.
Niemand in dem Haus interessierte sich für Hanna, aber das beruhte auf Gegenseitigkeit. Obwohl sie bereits seit fast drei Jahren in diesem Haus lebte, hatte sie noch nicht alle Nachbarn im Haus gesehen. Ihre kleine Wohnung lag im vierten Stock, was täglich ein längeres Treppenlaufen erforderte. Es gab einen Fahrstuhl, der jedoch dauerhaft außer Betrieb war und nun wie ein stummer Hausbewohner vor sich hinvegetierte.
Manchmal verglich Hanna sich im Vorbeikommen mit dem Aufzug. Jeder Hausbewohner wusste, dass es ihn im Haus gab, doch alle ignorierten ihn. Wenn aber schwere Einkäufe und quengelnde Kinder nach oben zu befördern waren, verfluchten ihn alle aufs Äußerste. Hin und wieder fragte sie sich, ob sie ebenfalls von ihnen verflucht wurde, weil sie diesen Umstand kommentarlos hinnahm. Den Gedanken verwarf sie dann schnell wieder, weil er ihr doch zu absurd erschien. Schließlich kannte sie niemand in diesem Haus.
Sobald sie genug Geld gespart hatte, wollte sie sich nach etwas Besserem umsehen. Aber solange war diese kleine Dachkammer ihr Reich, in dem ihr niemand Vorschriften machte oder Dinge an einen festen Platz stellte, wo sie bis in alle Ewigkeit zu verweilen hatten.
Hanna war nicht nach Reden zumute, doch sie wusste, es würden gleich unzählige Fragen auf sie einprasseln, auf die sie nur mühsam Antworten finden würde. Ihnen die Wahrheit zu sagen wäre vergebliche Mühe. Tief in ihrem Innern kannten sie sie, davon war Hanna überzeugt, aber die wollten sie natürlich nicht hören.
Mit den Fragen würden weitere Vorwürfe kommen, doch da musste sie jetzt und in der nächsten Zeit durch. Sie selbst hatte die Entscheidung getroffen, hierher zurückzukehren. Ob sie letzten Endes gut sein wird ist fraglich. Sie hatte keine Wahl, wenn sie endlich die richtigen Antworten finden wollte.
Hanna hatte jetzt zwei Wochen Urlaub, hoffte aber, dass sie nicht solange werde bleiben müssen. Sie hatte keinen Hunger, obwohl sie viele Stunden unterwegs war. Wenn sie nichts aß, kämen deswegen gleich schon Vorwürfe wie: Bist du jetzt was Besseres gewohnt? Oder: Ist dir unser Essen nicht mehr gut genug? Sie wollte den ersten Abend in Ruhe überstehen und achtete darauf, möglichst wenig Spielraum für spitze Bemerkungen zu lassen.
Hanna fiel es nicht leicht, ihren Besuch anzukündigen. Sie vermied einen Anruf, weil sie nicht wusste, wie sie sich am Telefon verhalten sollte. Sie entschied sich für einen kurzen Brief, der nur wenige Informationen über sie enthielt. Sie schrieb lediglich, sie lebe in Hamburg, es gehe ihr gut, und sie würde am achtzehnten Oktober für ein paar Tage zu Besuch kommen. Der Brief endete mit der Ankunftszeit des Zuges und mit dem Hinweis, dass sie vom Bahnhof direkt zu ihnen kommen werde.
Auf der ganzen Fahrt war sie sich nicht sicher, ob ihr überhaupt Einlass gewährt werden würde. Vor einer verschlossenen Tür zu stehen wäre dann keine Überraschung für sie gewesen. Das müsste sie dann halt so hinnehmen. Es hätte vielleicht auch was Gutes, denn damit nähme man ihr die Entscheidung ab, sich dem Ganzen zu stellen. Ihr Vorhaben machte ihr Angst.
Hanna hatte sich viele Varianten zurechtgelegt, um auf jede Frage ihrer Familie vorbereitet zu sein. Es war heute genau drei Jahre her, als sie wortlos verschwand.
Sie hatte wieder Geburtstag. Seit ihrem Verschwinden hatten diese Tage keinerlei Bedeutung mehr für sie. Vorher schon, denn jeder weitere Geburtstag führte sie zu ihrem langersehnten Ziel- dem achtzehnten Geburtstag, ihre Freiheit.
Trude, Hannas Großmutter musterte sie beim Essen mit vielen Blicken. Die lockere, bunte Kleidung ihrer Enkelin missfiel ihr. Eine schlabberige Hose, in die sie mindestens zweimal passte, und der giftgrüne Pullover mit der langen Zipfelmütze ließen sie in ihren Augen zu einer Clownsfigur werden, über die sich jeder lustig machte. Die vielen bunten Bänder in ihren Haaren rundeten den unvermeidlichen Spott nur noch ab.
Die Großmutter wollte beim Essen keinen Streit provozieren und schob diesen Unsinn auf das verderbliche Großstadtleben. Sie war davon überzeugt, sobald Hanna die ersten Tage wieder zu Hause verbracht hätte, würde sie schon zur Vernunft kommen.
Im Gegensatz zu seiner Frau gefiel Hermann die äußerliche Veränderung seiner Enkelin. Sie hatte sich von einer grauen Maus in einen wunderschönen Schmetterling verwandelt. Er hatte es sich für sie gewünscht, als sie spurlos verschwand. Er hoffte so sehr, dass sie irgendwann glücklich werden würde.
Die letzten zwei Jahre vor ihrem unerwarteten Verschwinden war er sehr besorgt um Hanna gewesen. Ihr ging es zunehmend schlechter, ohne erkennbaren Grund. Oft saß sie schweigend bei ihnen und sah sie alle nur unentwegt an. Sie redete auch nicht mehr viel. Der einzige Grund das Haus zu verlassen war die Schule.
Hermann fragte sich jeden Tag aufs Neue, ob sie unter der Trennung der Eltern zu sehr leide. Er wollte ihr gerne helfen, aber er wusste nicht wie. In seiner Familie sprach man nicht über Gefühle. Jeder musste lernen, selbst im Leben klar zu kommen.
Er verstand nicht, warum Robert und Marianne sich nicht mehr meldeten und ihre Tochter besuchten. Damals war es für ihre Eltern sehr wichtig, Hanna nach der fünften Klasse nicht die Schule wechseln zu lassen und sie aus ihrem Freundeskreis zu reißen. Sie sollte zu Hause bei den Großeltern bleiben und ihre Eltern und ihren kleinen Bruder Jonas in den Ferien besuchen.
Keiner dieser geplanten Besuche in München hatte stattgefunden. Roberts Karrieresprung beinhaltete mehr als eine reguläre vierzig Stunden Woche. Er war viel auf Geschäftsreisen im Ausland, und Marianne war in so vielen Vereinen beschäftigt, dass gerade noch Zeit für Jonas blieb. Für eine Tochter, die hunderte von Kilometern entfernt lebte und immer weniger in das Leben ihrer Eltern passte, wurde keine Zeit verschwendet.
Zu Weihnachten und den Geburtstagen kamen große Pakete mit der Post von Marianne aus München. Schließlich gehörte es sich so. Bevor Hannas Eltern ihre Tochter verließen, richteten sie ihr noch ein Konto ein, auf das sie jeden Monat hundert Euro Taschengeld überwiesen, damit sie ihren Großeltern nicht mit Extrawünschen zur Last fiel. Aber auch sie bekamen von ihrer Tochter und ihrem Schwiegersohn monatlich Geld, damit sie Hanna versorgen konnten. Obwohl es mehr als genug war, reichte es Trude nicht. In ihrer Verbitterung schimpfte sie zum Monatsbeginn nach Zahlungseingang auf ihre Tochter, wie geizig sie doch wäre.
Trude gönnte ihrer Tochter ihr neues Leben in München nicht. Sie selbst hatte nur ein einfaches Leben geführt und musste auf jeglichen Luxus verzichten. In ihrem ganzen Leben war sie nicht einmal im Urlaub gewesen. Sie hatte Rothwald nie wirklich verlassen.
Mit dem Bus fuhr sie ein- bis zweimal in der Woche acht Kilometer in die Stadt zum Einkaufen, weiter war sie in den letzten dreißig Jahren nicht gekommen. Die wenigen Ausflüge, zu denen Hermann sie damals bewegen konnte, entfernten sie nicht mehr als fünfzig Kilometer von zu Hause.
Irgendwann im Sommer, als Harald und Marianne noch Kinder waren, fuhren sie an einen See, um den man drei Stunden lang spazieren gehen konnte. Es war ein herrlicher Sommertag, und die Sonne strahlte am klaren Himmel auf sie hinab. Das glitzernde Wasser bewegte sich in kleinen Wellen fort. Es wurde nicht müde ununterbrochen die gleichen Bewegungen zu tun. Enten und Schwäne schwammen in Familien am Ufer entlang, und von einer Brücke sprangen Kinder in das erfrischende Wasser, während ihre Eltern ihnen auf Picknickdecken dabei zusahen und sie zur Vorsicht ermahnten. Harald und Marianne wollten natürlich auch schwimmen und von der Brücke springen, doch sie hatten keine Badesachen dabei. Ihre gute Laune war schlagartig dahin, und ein großes Eis vom Eiswagen unter der schattenspendenden Kastanie brachte sie auch nicht zurück.
Während Hermann mit den Kindern Kieselsteine sammelte und sie über den See hüpfen ließ, vergaß Trude für einen Moment ihre Familie. Für eine kurze Weile gab es nur sie und den See. Auch die fremden Menschen in ihrer Umgebung waren vergessen. Sie könnte aufstehen und einfach fortgehen, bis sie weit genug weg war. Sie dachte darüber nach, sich ein Zimmer zu suchen, bis sie eine Wohnung und eine Anstellung gefunden hätte. Das Haushaltsgeld in ihrem Portemonnaie würde bestimmt die nächsten zwei Wochen reichen. Sie hatte zwar keinen Beruf erlernt, aber das war nicht wichtig. Sie war nicht arbeitsscheu. Es würde sich schon was Passendes finden lassen, bis sie wüsste, wie sie ihre neue Zukunft gestalten könnte.
Eine harte Berührung an ihrem Hinterkopf ließ Trude zusammenzucken. Ein erschrockener Junge in Haralds Alter kam auf sie zu gerannt und entschuldigte sich mehrmals für sein Missgeschick mit dem Ball. Er versprach ihr, besser aufzupassen. Irritiert rieb sie sich die schmerzende Stelle am Kopf und erwiderte dem Jungen gegenüber nichts. Stattdessen stand sie auf und ging zu ihrer Familie, die noch eifrig flache Kiesel über den See hüpfen ließ.
Harald durchbrach die angespannte Stille und forderte seine Nichte auf, von ihrem Leben in Hamburg zu berichten.
„Na ja, wirklich viel zu erzählen gibt es nicht“, sagte Hanna mit leicht bebender Stimme.
In wenigen, kurzen Sätzen erzählte sie ihren Verwandten von ihrem Leben in der Großstadt. Dabei versuchte sie es doch irgendwie aufregend und interessant klingen zu lassen.
„Und willst du das ewig machen, spülen und bedienen? Wäre eine vernünftige Ausbildung nicht besser, damit du ein geregeltes Leben hast? Dr. Stolte, der Kinderarzt in Weilach, sucht noch eine Auszubildende. Er hat bisher noch keine gefunden. Du könntest morgen mal vorbeigehen und nach der Stelle fragen. Vielleicht bekommst du sie noch?“, schlug Harald vor.
Mit einem Mal wurde Hanna übel und sie musste dagegen ankämpfen, es sich nicht anmerken zu lassen. Ihr wurde schwindelig und ihr Herz raste vor Wut. Sie wollte nur ein paar Tage zu Besuch kommen, das hatte sie deutlich in ihrem Brief mitgeteilt. Doch das ignorierten sie einfach.
Ihr plötzliches Auftauchen war für ihre Familie kein Besuch, sondern eine Heimkehr. Und scheinbar hatten sie ihr Leben schon verplant. Jetzt fehlte nur noch die Präsentation ihres zukünftigen Ehemannes und die Angabe, wie viele Kinder sie zu bekommen hatte. Und zur Krönung des Ganzen, die Verkündung, dass sie mit ihrer Familie bei den Großeltern leben werde, weil genug Platz für alle im Haus sei.
Hanna erwiderte nichts auf den Vorschlag ihres Onkels und wandte sich stattdessen an ihre Oma.
„Deine Erbsensuppe schmeckt noch genauso gut wie früher“, lobte Hanna das Essen ihrer Oma.
„Warum sollte sie anders schmecken? Ich habe mein Rezept nicht verändert“, antwortete Trude, die dem Kompliment ihrer Enkelin nichts abgewinnen konnte.
Hermann nahm Hannas missliche Lage wahr und versuchte ihr Beistand zu leisten.
„Es ist schön, dass du uns an deinem Geburtstag besuchst“, freute sich der Großvater stand auf und ging zum Geschirrschrank.
Er öffnete eine der oberen Glastüren und holte ein Geschenk heraus. Strahlend überreichte er es ihr, zum Missfallen seiner Frau.
Hanna nahm den flachen, rechteckigen Gegenstand, der in dickes Papier verpackt war, in Empfang und bedankte sich. Sie erwartete nicht, dass er schwer sein würde. Ihre Hände sackten ein wenig Richtung Tisch.
Das Geburtstagskind schob seinen Teller beiseite und legte das Geschenk auf den Tisch. Dem Format nach erwartete sie ein Bild, ein Familienportrait oder eine Landschaftsaufnahme von Rothwald. Wahrscheinlicher war ein Bild vom Dorf.
Sie konnte sich nicht vorstellen, dass Harald mit seinen Eltern nett vor einer Kamera für sie posieren würde. Mit Daumen und Zeigefinger löste sie die Klebestreifen von dem gepunkteten Papier.
Der Schwere nach zu urteilen schien es doch eher ein Buch zu sein. Sie konnte sich aber nicht vorstellen, was für ein Buch ihre Großeltern ihr schenken sollten. Das Geschenk war eine richtige Geburtstagsüberraschung. Hanna hatte keinen blassen Schimmer, was sie gleich in den Händen halten würde.
Für einen Moment fühlte sie sich in ihre Kindheit zurückversetzt. Sie liebte es, Geschenke auszupacken, vor allem wenn sie nicht wusste, was es sein konnte. Das Rätselraten um die Sache war immer das Aufregendste an ihrem Geburtstag oder Weihnachten gewesen. Beim aufkommenden Gefühl dieser Kindheitserinnerung lächelte sie.
Jetzt musste nur noch der Klebestreifen in der Mitte entfernt werden und das Geschenk kam zum Vorschein. So plötzlich wie das Lächeln in Hannas Gesicht aufflammte, war es auch schon wieder verschwunden. Vor ihr auf dem Tisch lag ein Fotobildband von Rothwald. Das machte sie sprachlos.
Sie hatte schon viele unnütze Geschenke von ihnen bekommen, aber das hier war wohl das langweiligste von allen. Während Hanna noch nach Fassung rang und ein Danke zwischen ihren Zähnen durchpresste, hatte Trude auch schon eine Erklärung für ihr Geschenk.
„Christian hat sein Hobby zum Beruf gemacht. Irgendwann hat er das ganze Dorf fotografiert. Daraus entstand dann die Idee, einen Bildband zur Siebenhundertjahrfeier drucken zu lassen. Im Stadtarchiv fand er altes Material über Rothwald, und einige Familien stellten Fotos von früher zur Verfügung. Inzwischen ist Christian guter Fotograf geworden und hat sein eigenes Fotostudio in der Stadt eröffnet“, erzählte sie ihrer Enkelin.
Hermann war von Anfang an gegen dieses Geschenk. Aber Harald und Trude meinten, wenn sie sich intensiver mit ihrer Heimat beschäftigte, würde sie schon von alleine ihren Fehler eingestehen und nach Hause zurückkommen. An Hannas Blick sah er sich bestätigt.
„Hamburg ist so weit weg von deinem Zuhause und da dachten wir, es wäre schön, wenn du ein Stück Heimat mit nach Hamburg nimmst“, versuchte er die eigentliche Absicht zu vertuschen.
„Danke. Eine schöne Idee von euch“, bedankte sie sich höflich bei ihrer Familie.
„Trude, du hast doch Hannas Lieblingskuchen gebacken. Lasst uns zum Nachtisch übergehen“, versuchte Hermann seiner Enkelin eine kleine Freude zu machen. Er drückte kurz ihre Hand und lächelte sie dabei an.
Während Hermann wieder aufstand und begann, den Tisch abzuräumen, wickelte Hanna ihren Fotoband wieder ins Papier ein. Enttäuscht legte sie ihr Geschenk weg. Sie stellte die Suppenteller zusammen und trug sie in die Küche. Für Trude blieb nur noch der Topf übrig, und Harald schaute ihnen dabei zu.
Hanna brauchte einen Moment für sich. In Ruhe spülte sie die Teller und das Besteck unter heißem Wasser ab, bevor sie alles in die Spülmaschine einräumte. Ihre Großeltern kümmerten sich in der Zwischenzeit um den Kuchen und neues Geschirr.
Nebenbei erwärmte der Wasserkocher das Teewasser, was schnell zu sprudeln begann. Hanna goss das kochend heiße Wasser in die bereitstehende Teekanne und sog das sich verbreitende Aroma des Früchtetees ein. Ein Geruch, den sie seit drei Jahren nicht mehr gerochen hatte. Sie trank in Hamburg nur noch Kaffee.
Sie musste an ihre Eltern denken. Sie fragte sich, ob sie sie schon längst vergessen hätten. Seit dem sie Rothwald verlassen hatte, blieben auch ihre monatlichen Zahlungen aus. Sie konnten nur von ihrer Großmutter von ihrem Weggang erfahren haben, denn sonst hatte niemand aus der Familie Kontakt zu ihnen.
Harald und ihre Mutter hatten sich noch nie besonders gut verstanden. Er war wohl froh, als sie nach München ging. Er versuchte seinen Neid gegenüber seiner Schwester immer zu verbergen, aber Hanna hatte es oft an Kleinigkeiten bemerkt. Er hatte eine bestimmte Art, in Gesprächen nebenbei gewisse Sätze fallen zu lassen, die seine Schwester und ihren Mann in ein negatives Licht rückten. Manchmal glaubte Hanna, ihr Onkel würde ihre Mutter hassen.
Trudes Stimme holte Hanna aus ihren Gedanken zurück in die Küche.
„Kommst du mit dem Tee? Wir wollen Kuchen essen“, rief sie nach ihrer Enkelin.
„Ja, ich komme“, antwortete Hanna und entfernte die Teebeutel aus der Kanne.
Vorsichtig trug sie sie ins Esszimmer, wo sie allen einschenkte. Auf ihrem Teller lag bereits ein Stück Zitronenkuchen mit Zuckerguss. Bevor auch sie ihr Stück aß, wollte sie die Aufmerksamkeit von sich ablenken und fragte nach den Neuigkeiten im Dorf.
Klatsch und Tratsch hatten Harald schon immer begeistern können, deswegen ging er jeden Sonntagmorgen zu seinem Stammtisch und den regelmäßigen Treffen des örtlichen Schützenvereins. Er wusste über alles und jeden im Ort Bescheid. Er konnte sich wie viele in Rothwald nicht vorstellen, sein Heimatdorf zu verlassen.
Sein Arbeitsplatz war vom ersten Tag an der gleiche. Nach der Schule begann er wie sein Vater eine Ausbildung zum Schreiner bei Gerd Nölle im Sägewerk. Das machte ihn glücklich. Als Junge war er am liebsten im Wald und kletterte auf Bäume. Er kannte alle Baumarten in Rothwald, und es gab keinen Tag, an dem er nicht irgendwelche Holzstücke mit sich rumtrug und aus ihnen etwas herstellte.
Hermann arbeitete während seines ganzen Berufslebens im Sägewerk als Schreiner, einer anderen Tätigkeit war er nie nachgegangen. Sein Sohn besuchte ihn oft bei der Arbeit, um von ihm zu lernen. Als Jugendlicher arbeitete Harald bereits in den Ferien dort, um sich noch schneller und besser mit der Materie Holz befassen zu können. Da war es nur naheliegend, dass er auch Schreiner werden würde. Handwerklich war er sehr geschickt. Viele Arbeiten an seinem Elternhaus übernahm er selbst. Natürlich mit dem Wissen, dass es irgendwann in sein Eigentum übergehen würde.
Manchmal dachte er auch an andere. Für Jonas hatte er zu seinem dritten Geburtstag einen Bauernhof angefertigt. Viele Abende hatte er liebevoll an dem Haus in seiner Werkstatt gearbeitet und die Tiere geschnitzt. Sogar Hanna hätte sich mit elf Jahren noch über ein so wunderschönes Geschenk gefreut.
Jonas war ein kleiner Sonnenschein, der alle zum Lachen brachte. Jeder hatte Zeit für ihn und beschäftigte sich gerne mit ihm. Sein quirliges Kinderlachen erfüllte dieses Haus mit Leben. Kaum war sein dritter Geburtstag vorbei, verkündeten Robert und Marianne ihren Umzug ohne Hanna nach München.
„In drei Jahren passiert viel in einem Ort. Einige haben geheiratet und Kinder bekommen. Ältere Leute sind verstorben. Wir hatten drei neue Schützenkönige, und beim Stammtischturnier sind wir Holzfäller noch unschlagbar. Zwei neue Familien sind hierher gezogen, aber mit denen gibt es keine Probleme. Sie haben sich schnell ins Dorfleben eingefügt, und ihre Kinder sind keine verzogenen Bälger, obwohl sie die ersten Jahre in einer Großstadt aufgewachsen sind. Du weißt ja selber, wie schnell Unfrieden durch Fremde kommen kann, wenn die sich nicht an die Regeln halten wollen. Mit dieser Familie Brenner gab es nur unnötigen Ärger, aber, Gott sei Dank, ist die irgendwann wieder verschwunden. Den Laden hat letztes Jahr Andreas mit seiner Frau übernommen. Er hat Anja geheiratet. Und die Bäckerei gehört nun Felix, weil Werner einen Schlaganfall hatte und nicht mehr arbeiten kann. Maria muss sich jetzt den ganzen Tag um ihn kümmern. Eva ist dann von der Backstube in den Laden gewechselt, damit Maria nicht auch noch dieser zusätzlichen Belastung ausgesetzt war. Felix und Eva werden nächstes Jahr heiraten. Offiziell ist zwar noch nichts, aber die eine oder andere Planung steht schon im Raum. Wenn die beiden Kinder bekommen, wird das Bäckerhaus viel zu klein sein für alle, deshalb wollen sie rechtzeitig anbauen. Der Huberbauer ist bereit, einen Teil seiner Wiese zu verkaufen. Somit können Felix und Eva Maria bei Werners Pflege besser unterstützen. Das sind erst mal die wichtigsten Ereignisse der letzten Jahre. Du wirst in den nächsten Tagen alle wiedertreffen, dann wirst du weitere Neuigkeiten erfahren“, schloss Harald seinen Bericht über die wichtigsten Dorfereignisse im Schnelldurchgang.
„Dann hat sich nicht so viel verändert, fast alles ist beim Alten geblieben“, zog Hanna ein Abschlussresümee.
Sie hatte ihrem Onkel so aufmerksam zugehört, dass sie vergessen hatte, ihren Kuchen zu essen. Das holte sie hastig nach. Sie sprach ihrer Oma ein weiteres Lob für ihre Backkunst aus, was diese aber genauso überflüssig empfand wie das erste.
Es war kurz vor zwanzig Uhr, gleich begann die Tagesschau, dessen Gucken jeden Abend eins der täglichen Rituale war. Für Hanna waren es in der kurzen Zeit bereits genug Rituale. Sie entschied sich für einen Spaziergang, um sich aus dieser beklemmenden Situation zu befreien.
Hanna verließ alleine das Haus und zog sich im Gehen ihre schwarze Fließjacke an. Es war inzwischen wesentlich kühler als am Nachmittag, und routinemäßig steckte sie ihre Hände in die Jackentaschen, um sie zu wärmen.
In ihrer linken Tasche befand sich ein kalter metallener Gegenstand. Sie zog ihn heraus und hielt ihren alten Haustürschlüssel in der Hand. Sie nahm ihn vor drei Jahren mit. Hanna hatte sich damals keine Gedanken gemacht, warum sie ihn mit auf ihre Reise nahm. Wahrscheinlich war es die Gewohnheit. Oder sollte er sie daran erinnern, dass sie noch nicht mit ihrer Vergangenheit abgeschlossen hatte? Da sie ihn noch besaß, brauchte sie später nicht zu klingeln und konnte so jederzeit ins Haus gelangen.
Es war bereits dunkel, und der Mond lugte hinter dem Dach des Nachbarhauses hervor. Mit jedem Schritt, den sie über die Einfahrt machte, knirschten die Steine unter ihren Sohlen. Leichte Abdrücke bildeten sich im Kiesbett und zeichneten Hannas Spur nach. Bevor sie den Gehweg betrat, atmete sie tief ein und aus und machte sich auf den Weg ins Dorf.
Die Straßenlaternen säumten wie Gardisten die Straßen und ihren wachen Augen blieb nichts verborgen. Hanna hoffte niemandem zu begegnen, denn auf lange Erklärungen hatte sie keine Lust. Sie wollte in Ruhe in ihrem Heimatdorf spazieren gehen und sich wieder ein Stück mit ihm vertraut machen, bevor ihr altes Leben für eine kurze Zeit in den Vordergrund rücken würde.
In Gedanken ging sie die Straßen durch und sagte sich die Namen der Familien auf, die in ihnen wohnten. Sie achtete gar nicht richtig auf die Häuser, denn sie waren natürlich noch an derselben Stelle und hatten sich nicht verändert. Sogar die gleichen Autos standen nach wie vor auf ihren Parkplätzen in den Einfahrten.
Am Dorfanfang konnte sie umkehren oder links einen Bogen um das Dorf laufen. Dieser Weg führte an einem Waldrand entlang, der Hanna auf einmal gespenstisch erschien. Sie überlegte eine Weile, ob sie ihn gehen sollte und entschied sich dagegen.
Sie fragte sich, warum sie ausgerechnet jetzt Angst hatte, im Dunkeln alleine vorbeizugehen? Unzählige Male hatte sie dies bereits als Kind getan. Der Weg war nicht lang, und am Ende wohnten Kesslers. Der Waldrand war ideal zum Versteckspiel. Und das wollte sie doch, sich unbemerkt im Dorf aufhalten.
Das Rascheln der Bäume glitt in einem gleichmäßigen Singsang über sie hinweg, begleitet von den Rufen einer Schleiereule. Hanna brauchte nur umzukehren, und sie wäre wieder auf der beleuchteten Straße. Somit wäre sie der gespenstischen Dunkelheit des Waldes schnell entkommen, doch irgendwie konnte sie sich nicht von diesem Anblick lösen. Wie eine Säule stand sie reglos dort am beginnenden Waldrand und schaute zu den Bäumen.
Ein mulmiges Gefühl beschlich sie. Sie dachte an ihre Freunde aus Kindertagen, mit denen sie hier gespielt hatte, aber auch an ihre Streifzüge am Nachmittag, wenn sie alleine sein wollte. Es war den Kindern im Dorf verboten gewesen, weit oben im Wald zu spielen. Überall waren Höhlen, und die wenigsten waren den Dorfbewohnern bekannt.
Der Waldrand diente den Kindern als Spielplatz, und eine klare Abgrenzung durch gefällte Fichten bildete die Grenze zum verbotenen Bereich. Mit abschreckenden Geschichten über dunkle, tiefe Höhlen, die die Kinder verschlucken und nicht mehr hergeben, brauchten die Eltern sich keine Sorgen über eine Grenzüberschreitung zu machen.
Als Jugendliche ließen sie es sich nicht nehmen, jedes Verbot ihrer Eltern zu missachten. Aus Kinderbanden entwickelten sich Jugendcliquen, die sich gegenseitig zu Mutproben anstachelten, sobald sie eine Höhle entdeckten. Bei jeder dieser Prüfungen wurde ein anderes Mitglied ausgewählt, was dann alleine eine bestimmte Zeit in der Höhle verbleiben oder zu einem zuvor erkundeten Punkt hingehen und einen deponierten Gegenstand mitbringen musste. Es war nie ungefährlich, denn es konnte jederzeit ein Steinschlag innerhalb einer Höhle ausgelöst werden und den Auserwählten treffen.
Hanna konnte sich noch gut an ihre Mutprobe erinnern. Sie hatte panische Angst, sich zu verlaufen und für immer verloren zu sein. Das konnte sie aber niemandem sagen, nicht einmal Christian. Carla hätte an diesem Tag dran sein sollen, so entschied das Los einen Tag zuvor. Sie hatte das Glück, über Nacht zu erkranken und rutschte somit auf die nächste Position. Weigern konnte Hanna sich nicht. Der darauffolgende Spott lastete sonst auf allen, und das wollte sie nicht verantworten. Das einzige Ziel jeder Clique war, einfach die coolste von allen zu sein.
Hanna hoffte, Tim, der Chef der Unterdorfclique, würde von ihr nur die Zeitprüfung verlangen. Bei dieser Aufgabe musste man im Dunkeln bis zur ersten Abzweigung gehen und dort eine halbe Stunde warten, bis die eigene Clique einen von dieser Tyrannei befreite.
Tim wusste, dass Hanna die Zurückhaltendere in ihrer Gruppe war und sich oft notgedrungen den anderen anschloss. Deswegen verlangte er von ihr die Kreuzprüfung. Wenn sie sich und die anderen nicht zum Gespött machen wollte, musste sie alleine bis zum großen Innenraum gehen und das Kreuz holen. Alleine hinlaufen, das Kreuz holen und dann zurücklaufen, das war die Aufgabe.
Auf dem Weg gab es viele Winkel, die das Innere des Berges zu einem Labyrinth formten. Es gab nur einen Weg, der über die richtigen Abbiegungen in den Höhlenraum führte. Die Abzweigungen hatten sie bei ihren ersten Erkundungstouren markiert, eigentlich musste sie denen nur folgen. Hanna beschloss, konzentriert zu gehen und jede Markierung genau zu beachten, so hatte sie in dem Moment der Mitteilung ihrer Prüfungsaufgabe gedacht.
Christian gab ihr die Taschenlampe und Hanna schaltete sie an. Die ersten Schritte waren schnell gemacht, denn das Tageslicht leuchtete die ersten Meter noch aus und die Stimmen und das Gelächter der Wartenden waren noch zu hören. Je dunkler der Weg und je leiser die Geräusche wurden, desto höher stieg Hannas Adrenalinspiegel. Sie hatte nur einen Gedanken: Sie wollte Tim beweisen, dass sie kein Feigling war.
Obwohl sie ihren dicken Pullover anhatte, fror sie. Ihre Hände wurden immer kälter, und die Taschenlampe wackelte in ihren Händen und ließ den Lichtstrahl umherwandern. Bei jeder Abzweigung leuchtete sie die Wände exakt ab, um keine Markierung zu übersehen. Schneller als erwartet kam sie im Innenraum an und hob erleichtert das selbstgemachte Holzkreuz auf. Sie verließ den Raum und ging zurück in den ersten Gang.
Vor Freude ließ Hanna einen Jubelschrei los, weil sie es alleine hierher geschafft hatte. Doch ihre Freude war nicht von langer Dauer, denn mit einem Mal wurde der Lichtschein der Lampe schwächer und erlosch gänzlich.
Panik überfiel Hanna, und sie verfluchte die Taschenlampe. Alles Schütteln und Knopfdrücken nutzte nichts, der Lichtspender versagte ihr den Dienst. Der Stolz, der sie vor einem Moment noch über sich hinauswachsen ließ, hatte sich in Luft aufgelöst und Hanna fühlte sich nur noch wie ein Häufchen Elend. Ihre schlimmsten Befürchtungen waren wahr geworden. Sie war für immer in dieser Höhle verschollen und hatte ihre Clique zum Gespött gemacht.
Ihre Freunde würden sie hassen. Dicke Tränen rollten über ihre Wangen, und Hanna fing an zu schluchzen. Sie war eine Gefangene des Berges, und die Schauergeschichten aus ihrer Kindheit prasselten wie Steine auf sie nieder und verhöhnten ihre Dummheit.
Sie befand sich noch in dem ersten Gang, der direkt vom Höhlenraum abzweigte. Zumindest dorthin sollte sie zurückfinden, und mehr stolpernd als gehend fand sie dort im Dunkeln zurück. Ihre Augen hatten sich an die Dunkelheit gewöhnt, doch zu erkennen gab es nichts. Sie befand sich in der schwärzesten Finsternis. Hanna fühlte sich hilflos und dumm, weil sie das tat, was Tim von ihr verlangte.
Sie fühlte sich als Feigling, in jeder Hinsicht. Feige, weil sie nicht den Mut hatte, die Kreuzprüfung abzulehnen, und feige, weil sie Angst vor der Dunkelheit hatte. Die anderen hätten mit Sicherheit den Rückweg im Dunkeln gewagt und am Ende reichlich Respekt von den Unterdörflern geerntet. Sie war nicht so. Hanna ergab sich ihrem Schicksal und dachte darüber nach, wie lange sie ohne Essen und Trinken hier ausharren könnte oder ob sie vorher erfrieren würde.
Während Hanna bereits mit dem Tode haderte, drangen irgendwann vertraute Geräusche und Stimmen zu ihr durch. Das Rufen nach ihrem Namen und ein Lichtstrahl ließen sie von Neuem weinen. Sie war gerettet. Christian und Silke standen erleichtert vor ihr.
Als fast zwei Stunden vergangen waren, sorgten sie sich um sie und hatten sich auf die Suche nach ihr begeben. Erleichtert fiel Hanna ihren Freunden in die Arme und konnte gar nicht mehr aufhören zu weinen. Christian entschuldigte sich bei ihr wegen der leeren Batterien. In Zukunft würden sie immer Ersatzbatterien mitnehmen.
Nachdem Hanna sich beruhigt hatte, verließen sie zu dritt die Höhle, und Hanna drückte Tim wortlos das Kreuz in die Hand. Er wollte ihre Prüfung als nicht bestanden verzeichnen, doch das vehemente Veto von Christian und Silke ließ ihn schließlich einlenken. In die Situation hätte jeder von ihnen geraten können, und das Kreuz beweise ja wohl die Erfüllung der Aufgabe.
Seit dieser missglückten Mutprobe hatte Hanna die Höhle nie mehr betreten und zog sich mit der Zeit mehr und mehr aus der Clique zurück, bis sie schließlich zu keinem der Treffen der Freunde mehr ging. Anfangs akzeptierten alle ihren Rückzug, denn sie konnten sich gut vorstellen, wie gruselig es alleine in der Höhle gewesen sein musste. Aber dass sie irgendwann für die Freundschaft gar nichts mehr übrig hatte, stieß bei allen nur auf Missverständnis. Nach mehreren Versuchen, Hanna zurück in die Clique zu holen, gaben sie irgendwann auf. Sie gehörte nicht mehr zur Oberdorfclique.
Ein Schatten huschte an den Bäumen entlang und bewegte sich auf sie zu. Noch bevor Hanna eine Entscheidung traf, wurde sie angesprochen.
„Hanna?“, fragte der Schatten.
„Ja“, antwortete sie zögerlich.
Die Stimme kannte sie. Sie kannte sie sogar sehr gut. Viele Jahre war sie ihr ein vertrauter Begleiter gewesen. Christian. Es war seine Stimme, die nach ihr fragte.
„Wenn ich hier spazieren gehe, muss ich jedes Mal an unsere Cliquenzeit denken. Gerade habe ich noch an dich gedacht und plötzlich stehst du wie von Geisterhand vor mir. Das ist eine gelungene Überraschung. Wie geht es dir? Seit wann bist du zurück?“, fragte ihr Jugendfreund überrascht.
„Gut. Seit heute“, gab sie knappe Antworten.
Sie war genauso überrascht und überrumpelt von dieser unerwarteten Begegnung. Sie hatte Christian nicht nur die letzten drei Jahre nicht mehr gesehen, sondern schon lange Zeit vorher. Ihr Kontakt war nach ihrem Ausstieg aus der Clique abgebrochen.
Unzählige Kindheits- und Jugenderinnerungen jagten wild durch ihren Kopf, kein Bild passte zu einem anderen. Sie kniff kurz die Augen zu, um sie zu verscheuchen und sah Christian verlegen an. Er stand ihr gegenüber, und sie brauchte kein Licht, um ihn zu erkennen. Die schwachen Lichtschimmer der letzten Straßenlaterne und Häuser reichten ihr aus, um zu sehen, dass er sich kaum verändert hatte. Er sah etwas älter aus, und er trug noch die gleiche Kleidung wie früher: Jeans, Turnschuhe, Kapuzenpullover und eine Jeansjacke. Egal, wie warm oder kalt es war, er trug immer eine Jeansjacke.
Da Hanna nicht wusste, was sie ihn fragen sollte, wartete sie seine Fragen ab. Sich einfach umdrehen und gehen, wäre wohl das Peinlichste, was sie gerade tun könnte. Mehr als wenige verlegene Worte brachte sie so schnell nicht zu Stande.
„Du bist die Einzige, die es von hier weggeschafft hat“, sagte Christian, weil ihm gerade nichts Besseres einfiel. „Hast du Lust auf einen Kaffee oder Tee oder irgendetwas anderes zu trinken?“, fragte er dann etwas umständlich und lud sie zu sich ein. „Ich wohne im alten Grafhaus. Nach Antons Tod wollte keines seiner Kinder hier einziehen und sie haben das Haus zum Verkauf angeboten. Florian und Susanne hatten bereits gebaut und Matthias wollte neu bauen. Meine Eltern haben es gekauft und mir zur bestandenen Ausbildung geschenkt, damit ich genug Platz zum Arbeiten habe. Später sollen natürlich viele kleine Enkelkinder darin rumtoben können.“
Warum er den letzten Satz gesagt hatte, wusste er selbst nicht. Die vielen Enkelkinder waren das Wunschdenken seiner Eltern und nicht seins. Für Kinder gab es noch lange keinen Platz in seinem Leben. Außerdem müsste er dafür erst einmal die passende Frau finden, um das Haus mit weiterem Leben zu füllen.
Er war mit vielen hier im Dorf befreundet, unter denen sich Freundinnen in seinem Alter befanden. Nach der gescheiterten Beziehung mit Silke im Sommer hatte er sich geschworen, keine Beziehung mehr mit einer Frau aus Rothwald einzugehen, zumal das ganze Dorf Anteil an ihrem Beziehungsleben nahm.
Früher war ihm das nicht bewusst gewesen, aber sobald man erwachsen wurde und sich das Dorfleben für einen änderte, schien man für alle ein offenes Buch zu sein. Und wenn die Freundin ihr gemeinsames Leben in jedem Detail an die Mutter weitergab, und die nichts Besseres zu tun hatte, als dies dem Dorftratsch beizufügen, war keinerlei Privatsphäre mehr gegeben.
Seine Beziehung mit Silke hatte von Anfang an auf wackeligen Füßen gestanden. Wenn er auf dem Schützenfest nicht unkontrolliert getrunken hätte, wäre er in dieser Nacht ohne Silkes Hilfe nach Hause gekommen. Die Folge dessen war eine Beziehung, die er nicht wollte. Das Aufwachen am nächsten Morgen brachte einen kleinen Schock mit sich. Seine Helferin lag nackt neben ihm in seinem Bett.
Alle Nachbarn wussten natürlich sofort von ihrer Übernachtung und machten sie gleich zu einem Paar. So war es schon immer Tradition in Rothwald gewesen. Man blieb doch am liebsten unter sich. Man unterstützte sich sehr gerne, und Nachbarschaftshilfe war sehr groß geschrieben.
Es dauerte keine Woche, da brachte Silke schon ihre ersten Habseligkeiten mit, die sich von Tag zu Tag vermehrten. Sie begann sich häuslich einzurichten und ihre Mutter ließ es sich nicht nehmen, ihr bei der Neugestaltung des Hauses behilflich zu sein. Seine Mutter war überglücklich, dass er sich für so ein nettes Mädchen wie Silke entschieden hatte. Für sie war sie die perfekte Schwiegertochter, die ihr bald ihren sehnlichsten Wunsch erfüllen sollte.
Seine Arbeit an dem Fotobildband zur Siebenhundertjahrfeier in Rothwald nahm ihn sehr in Anspruch. Er verbrachte dafür mehr Zeit in seinem Fotoatelier als zu Hause. Wenn er abends kam, wartete bereits ein gekochtes Abendessen auf ihn und ein Haus, das sich wieder ein Stück verändert hatte und Silke mittendrin.
Sie wartete dann schon sehnsüchtig auf ihn und ein Überspringen des Abendessens wäre ihr lieber gewesen. Ein direkter Gang ins Schlafzimmer, um zum nächtlichen Teil ihres Zusammenlebens zu kommen, hätte für sie an erster Stelle gestanden. Da sie aber in der Erprobungsphase der perfekten Ehe- und Hausfrau war, im Übergang zur werdenden Mutter, musste dieser Teil des Beziehungslebens eingehalten werden. Schließlich musste sie ihn noch nach seinem Tag im Atelier fragen. Sein Desinteresse an ihrem Tag schien ihr gar nicht aufzufallen.
Als Kind scheint einem die Welt noch offen zu stehen. Sobald die magische Phase der Kindheit endet und der Schritt in die Erwachsenenwelt vollzogen ist, scheint die Überquerung der Schwelle in die Freiheit nicht mehr möglich zu sein.
Hanna hatte es geschafft. Es war ihm schleierhaft, wie sie diesen Weg finden konnte. Nun war sie aber wieder da. Er dachte darüber nach, ob er sich irrte, und sie doch an diese unsichtbaren Fesseln gebunden war, die jeden nach Rothwald zurückkommen ließen, der hier aufwuchs.
Immer wieder verließ der eine oder andere das Dorf um zu studieren, wegen der Bundeswehr oder um eine Ausbildung zu machen. Am Ende kehrten sie aber alle nach Hause zurück. Sie bauten ihr Leben weiter in Rothwald auf, indem sie Familien gründeten und ihre Linie nicht aussterben ließen.
Durch das Rumstehen begann Hanna allmählich zu frieren. Ein heißer Kaffee kam ihr gerade gelegen, den wollte sie nicht ablehnen. Für Tee konnte sie sich gar nicht mehr begeistern.
„Ein Kaffee wäre jetzt gut zum Aufwärmen“, nahm sie Christians Angebot an.
Sie wussten gerade beide nicht, worüber sie reden sollten. Deshalb gingen sie schweigend das kurze Stück zu Christians Haus.
Zielstrebig führte er sie in seine Wohnküche, in der ein Ofen eine wohlige Wärme von sich gab.
„Nimm doch Platz und mach‘ es dir bequem. Ich schmeiße eben die Kaffeemaschine an“, sagte er und zeigte auf sein Sofa.
Hanna zog ihre Fließjacke aus, hängte sie über den nächsten Stuhl und stellte sich an den Ofen. Sie streckte ihm ihre Hände entgegen, um sie schneller aufzuwärmen. Die feurige Glut strahlte eine Wärme aus, die mit der einer Heizung nicht zu vergleichen war.
Ihr wurde schnell warm, und sie zog auch ihre Schuhe aus. Für einen kurzen Moment hatte sie vergessen, dass sie sich in einem fremden Haus befand. Sie nahm ein Kissen von einem der Stühle, die hinter dem Küchentisch standen, und legte es auf den Boden in Ofennähe. Sie ließ sich im Schneidersitz darauf nieder und beobachtete das Schauspiel des Feuers. Das Rauschen und Knacken in seinem Innern ließ Hanna alles um sich herum vergessen. Sie hatte sich noch nie so geborgen gefühlt. Sie fühlte sich plötzlich zu Hause.
Hannas selbstverständliches Handeln faszinierte Christian. Sie war ganz anders als Silke. Während er in der Ecke am Fenster stand und auf den Kaffee wartete, beobachtete er sie. Er konnte seinen Blick gar nicht von ihr abwenden. Sie hatte sich so sehr verändert. Aus dem schüchternen, kleinen Mädchen war eine schöne junge Frau geworden, die sich scheinbar genauso gerne am Feuer niederließ wie er. Er konnte stundenlang davor sitzen und an nichts denken.
Die bunten Bänder in ihren blonden Haaren passten gut zu der neuen Hanna so wie auch der quietschgrüne Pullover. Die bunten Farben verliehen ihr so viel Lebendigkeit. Sie hatte immer noch lange Haare. Über diese Feststellung musste er lächeln.
Christian hatte ihre Haare schon immer schön gefunden. Leider hatte er sie in all den Jahren nur einmal in ihrer vollen Pracht gesehen. Sie trug ihre Haare nie offen oder zu einem Zopf, so wie die anderen Mädchen. Hanna hatte ihre immer zu einem Dutt eingedreht. Nachdem er einmal das Glück hatte, sie mit langen Haaren zu sehen, traute er sich nicht ihr zu sagen, wie schön sie mit offenen Haaren aussah. Er war sich nicht sicher, ob sie es missverstanden hätte.
Als der Kaffee durchgelaufen war, füllte er ihn in zwei große Kaffeebecher um, löschte das Küchenlicht und ging mit den heißen Tassen zum Ofen. Er reichte eine an Hanna weiter, und nahm sich ebenfalls ein Kissen vom Stuhl. Er ließ es ihr gegenüber fallen und setzte sich mit seinem Kaffee zu ihr.
Die Hitze, die das Feuer verströmte, überfiel ihn, und er begann leicht zu schwitzen. Erst jetzt bemerkte er, dass er seine Jacke noch trug und stand wieder auf. Er zog sie aus, warf sie über eine Stuhllehne und legte zwei Holzscheite nach. Die Flammen loderten auf, um sie in ihre Arme zu schließen. Die Scheite fingen sofort Feuer, und Funken flogen wild umher, begleitet von einem lauten Knacken.
Hannas Augen leuchteten bei dem neuen Feuerspektakel vor Freude auf. Christian fragte sich, ob es so wenig brauchte, um sie glücklich zu machen. Er konnte nicht anders, er musste sie immer wieder ansehen und sich mit der neuen Hanna vertraut machen oder aber die alte neu entdecken.
Er setzte sich wieder zu ihr und nahm seine Tasse in beide Hände. Hanna schaute den Flammen noch immer bei ihrem Spiel zu, und Christian hätte am liebsten die Zeit angehalten, um ihr ewig den Moment des Glücks zu schenken.
Im Glas der Ofentür sah Hanna, dass Christian sie beobachtete, aber es störte sie nicht, denn sie beobachtete ihn auch. Seine blauen Augen strahlten noch immer wie ein tiefer Ozean, in dem man ertrinken konnte. Seine Frisur war noch die gleiche. Seine braunen Haare bildeten einen schönen Kontrast zu seiner Augenfarbe. Sein freundliches Lächeln rundete für sie sein gutes Aussehen ab. Für ihr Empfinden sah er sogar noch besser aus, als sie ihn als Teenager in Erinnerung hatte.
Hanna trank einen Schluck ihres Kaffees und drehte sich dann langsam zu Christian um.
„Der ist gut, das hätte ich nicht gedacht. Du kannst guten Kaffee kochen“, begann sie ein Gespräch.
„Danke. Aber wenn man süchtig nach diesem Zeug ist, kriegt man das wohl irgendwann hin. Wie lange wirst du zu Besuch bleiben?“, wollte Christian wissen.
Bevor Hanna seine Frage beantwortete, überlegte sie kurz und gab ihm dann eine Erklärung für ihren Aufenthalt.
„Ich habe gerade zwei Wochen Urlaub, aber ich werde wahrscheinlich nicht so lange bleiben. Es ist nur ein Besuch. Ich muss ja bald wieder arbeiten“, fügte sie noch schnell hinzu. Damit stellte sie sofort nachdrücklich klar, dass ihr Aufenthalt in Rothwald nur von kurzer Dauer war.
„In Rothwald hat sich kaum etwas verändert“, meinte Christian.
„Ja, das hat Harald mir schon erzählt“, stimmte sie ihm zu.
Christian wollte dieses belanglose Gespräch nicht weiterführen. Solche Gespräche konnte er hier jeden Tag zu Genüge haben. Er wollte endlich alles über Hannas Leben außerhalb von Rothwald wissen.
„Wenn du nicht gerade zu Besuch bei deiner Familie bist, wie lebt es sich denn in München?“, fragte Christian.
Hanna stutzte über seine Frage und klärte ihn über ihre neue Heimatstadt auf. In wenigen Sätzen erzählte sie ihm von ihrem unspektakulären Leben in Hamburg, was er scheinbar als spannend und aufregend empfand.
„Wenn es dich mal nach Hamburg zieht, kannst du mich gerne besuchen kommen“, lud sie ihn spontan zu sich ein. „Ich könnte mich dann mit einem Kaffee revanchieren“, sagte sie lächelnd.
„Das Angebot kann ich nicht ausschlagen. Ich habe eine neue Idee für einen Fotobildband, und dafür wollte ich nach und nach die Großstädte bereisen. Dann ist mein erstes Ziel schon klar- Hamburg. Ich wollte nächsten Monat mit der Arbeit beginnen und über die Wochenenden verreisen, damit ich mein Atelier nicht so lange schließen muss. Würde es dir nächsten Monat passen?“, fragte er Hanna direkt.
Hanna hatte nicht wirklich damit gerechnet, dass er nach Hamburg fahren würde oder zumindest nicht sobald. Ihr blieb nichts anderes übrig, als ihre Einladung aufrecht zu erhalten.
„Okay, ich werde mir dann das Wochenende freinehmen und dir Hamburg zeigen.“ Was rede ich denn da? Ich würde mich nur für den Kaffee revanchieren und nicht das ganze Wochenende mit ihm verbringen wollen. Sie hatte es ausgesprochen und konnte es nicht mehr zurücknehmen.
Hanna konnte ihrem Geburtstagsgeschenk, dem Fotobildband von Rothwald erst keine Begeisterung entgegenbringen, doch jetzt wo sie Christian gegenübersaß, wollte sie doch wissen, was ihn dazu bewogen hatte.
„Ich habe von meiner Familie den Bildband geschenkt bekommen. Ich hatte leider noch nicht die Gelegenheit, ihn mir anzusehen. Wie bist du auf die Idee gekommen, Rothwalds Leben in ein Buch zu pressen?“, war sie an seiner Arbeit interessiert.
„Es war eher eine spontane Idee. Ich hatte etwas bei meinen Eltern gesucht, und da ist mir ein Fotoalbum mit alten Fotos aus unserer Familie in die Hände gefallen. Ich dachte, es wäre eine schöne Idee, alte Erinnerungen festzuhalten und eine Art Chronik zu erstellen. Ich habe mein Anliegen im Dorf vorgestellt, und viele hielten es für einen guten Vorschlag. Sie haben dann selbst Fotos rausgesucht und mich mit den dazugehörigen Geschichten versorgt. Am Ende waren sie alle stolz, ihren Beitrag zum Buch geleistet zu haben. Es hat Spaß gemacht und mich auf eine neue Idee gebracht, wie zum Beispiel den Städtebildband, den ich demnächst machen möchte. Von Rothwald sind die letzten hundert Jahre zusammengefasst und ich könnte mir vorstellen, nach und nach weitere Bände zu erstellen, bis irgendwann die gesamte Geschichte erfasst ist“, erzählte er eifrig von seinen Ideen.
Hanna hörte ihm gerne zu, und deshalb fragte sie weiter nach seiner Arbeit.
„Und wenn du nicht gerade an Bildbänden arbeitest, was fotografierst du dann?“
„Das Übliche halt. Alle möglichen Leute, die Portraits von sich wollen oder schnell mal Passfotos brauchen. Ich gehe in Schulen und Kindergärten oder ich fotografiere auf Hochzeiten, Schützenfesten und so weiter.“
Das stellte Hanna sich nicht gerade spannend vor.
„Ich hätte nicht gedacht, dass dir so etwas einmal Spaß machen würde. Ich dachte, du würdest im Sägewerk arbeiten und mit Simon irgendwann einmal den Laden übernehmen.“
„Simon und ich verstehen uns nicht mehr so gut. Und Papa kann nur Chef sein. Auf Dauer wären wir alle aneinander geraten. Simon macht seinen Job gut und wird ein würdiger Nachfolger sein. Seit der Sache mit Silke geht er mir nur noch aus dem Weg. Ich wusste nicht, dass er in sie verliebt ist.“
Hanna wusste nicht, wovon er sprach. Harald hatte nichts von Silke und den Brüdern erzählt.
„Was war denn mit Silke?“
„Ach so, das weißt du ja gar nicht“, und er erzählte ihr von seiner kurzen Beziehung mit Silke und dem dramatischen Ende, in das das halbe Dorf involviert war.
Die Trennung war nicht nur für Silke eine Demütigung, sondern auch für ihre Eltern, die schon in den Hochzeitsvorbereitungen steckten, ohne ihn davon in Kenntnis gesetzt zu haben. Und das Schlimmste an der ganzen Sache war, dass seine Eltern eifrig mitplanten.
Die Krönung des Ganzen nach Silkes Auszug war Simons Wutausbruch. Ein paar Tage später stand er sturzbetrunken vor Christians Tür und hatte eine Prügelei angefangen, weil er Silke nur ausgenutzt hätte. Dabei stellte sich dann raus, wie lange er schon in Silke verliebt war und ließ seine ganze Wut an seinem jüngeren Bruder aus.
Er hatte Silke nie geliebt, er war noch nicht mal in sie verliebt gewesen. Er war auf dem letzten Schützenfest leider zu betrunken gewesen und sie hatte die Gunst der Stunde genutzt. Und leider war er zu feige, das Ganze sofort wieder zu beenden, bevor es richtig anfangen konnte. Als er den Mut endlich aufbrachte, war es zu spät und ein dramatisches Ende ließ sich nicht mehr verhindern.
Trennungen gab es in Rothwald nicht- bis dass der Tod sie schied. Er lebte einfach schon zu lange hier, um gegen die Normen des Dorfes verstoßen zu können, und doch hatte er es getan. Wie er den Mut dazu fand, war ihm selbst nicht ganz klar, es zählte nur, dass er es geschafft hatte. Der Preis war: eine Woche lang Gesprächsthema Nummer eins auf der Dorftratschliste zu sein, und die weiblichen Hälfte von Rothwald strafte ihn mit bösen Blicken.
So schnell wie das Trennungsthema begann, war es auch schon wieder beendet. Er hatte Gott sei Dank genug Arbeit mit seinem Fotobildband und dem Atelier, sodass er die meiste Zeit vom Getratsche verschont blieb. Nach der Präsentation des Bildbandes war alles vergessen und sein Ruf wieder hergestellt.
Hanna spürte einen Stich der Eifersucht und Erleichterung zugleich. Sie hatte immer geahnt, dass Silke hinter Christian her war. Ihrer Ansicht nach passten die beiden nicht zusammen, sie waren viel zu unterschiedlich. Das Hausfrauenimage passte gut zu Silke. Sie konnte sich Christian als liebevollen Ehemann und Vater vorstellen, aber nicht unter einem Dach mit Silke. Es freute sie, dass er seinen Fehler eingesehen und womöglich Schlimmeres für sich selbst verhindert hatte, indem er diese Beziehung beendete. Silke und Christian als Paar wollte sie sich nicht weiter vorstellen und wechselte das Thema.
Sie fragte nach den anderen aus der Clique, zu der sie schon lange nicht mehr gehörte.
„Was machen denn Carla, David, Tobias und Miriam? Sind sie auch noch fest verwurzelt oder erobern sie die große weite Welt außerhalb von Rothwald?“
„Carla lebt seit zwei Jahren bei ihrer Oma in Ansbach, weil diese nach dem Tode des Opas alleine nicht mehr zurechtkommt. Miriam arbeitet hier im Kindergarten und ist mit David verlobt. Der studiert zurzeit noch in Köln Maschinenbau. Er ist in etwa zwei Jahren fertig und dann wollen sie heiraten. Sie bauen bei Miriams Eltern an. Nach dem Studium wird er im Betrieb von Miriams Vater arbeiten. Tobias ist Bäcker geworden und arbeitet bei Felix in der Backstube. Nach der Schule sind die beiden Cliquen auseinander gegangen. Es hat sich dann schnell eine neue Ober- und Unterdorfclique gebildet. Noch so eine Tradition, die wohl ewig hier Bestand haben wird und nur den coolen Teens jeder Generation vorbehalten ist, sie fortzusetzen. Das ganz normale Dorfleben geht also seinen Gang, du hast nichts Spektakuläres verpasst“, fasste er seinen Kurzbericht zusammen.
Hanna wusste nicht, worüber sie noch mit Christian nach all der langen Zeit reden sollte. Sie wechselte zum einzigen Thema, das ihr einfiel.
„Siehst du dir mit mir den Bildband an? Mit Audiokommentar des Künstlers bekommt Bilderbuch angucken ein ganz anderes Flair.“
„Ja gerne. Ich hole ihn eben.“
Hastig stellte Christian seine Tasse zur Seite und hätte sie dabei fast umgestoßen. Er verließ die Wohnküche, öffnete die Tür zu einem anderen Raum und erschien kurz darauf mit dem Buch.
Christian nutzte die Gelegenheit und schob sein Kissen neben sie, so konnte er ihr ein bisschen näherkommen. Hanna nahm ihm das Buch aus der Hand und legte es sich auf die Beine. Ihren Kaffee hatte sie getrunken und fragte nach einem weiteren. Mit einem zweiten Kaffee begannen die beiden eine hundertjährige Zeitreise durch Rothwald.
Der Autor konnte zu allen Bildern eine Geschichte erzählen, und so bekam ihr Geburtstagsgeschenk einen anderen Stellenwert. An diesen Geburtstagsabend würde sie sich gerne zurückerinnern. Der Tag war ihr nicht wichtig gewesen, und deshalb erwähnte sie ihn nicht.
Nachdem Hanna das Buch durchgeblättert hatte, dachte sie an ihre Großeltern.
„Hast du auch mit meinen Großeltern über Fotos gesprochen?“
„Ich habe deinen Opa mal zufällig getroffen und ihn nach Beiträgen gefragt. Er meinte, sie hätten keine alten Fotos mehr, weil vor langer Zeit bei einem Brand alles vernichtet wurde. Und die Familie deiner Oma wäre auch nicht aus Rothwald“, erklärte er ihr.
Bei seinem letzten Satz stutzte Hanna, denn sie war davon ausgegangen, dass ihre Großmutter genauso wie ihr Großvater in Rothwald aufgewachsen war.
Hanna warf einen Blick auf ihre Uhr, für sie war es Zeit zu gehen.
„Es ist schon spät, ich sollte langsam nach Hause gehen.“
Sie drückte Christian den Bildband in die Hand und stand auf. Ihr war Ordnung wichtig, und deshalb legte sie ihr Kissen zurück auf den Stuhl und stellte ihre Tasse auf den Tisch. Sie nahm ihre Jacke vom Stuhl, zog sie an und bedankte sich für den schönen Abend.
„Wenn du magst, können wir uns in den nächsten Tagen nochmal treffen. Ich kann nicht nur guten Kaffee kochen, sondern auch ganz passabel kochen“, lud Christian Hanna ein weiteres Mal zu sich ein.
„Mal sehen, wir können ja telefonieren“, sagte sie zurückhaltend.
„Oder du kommst einfach morgen Abend wieder her. Um sieben Uhr bin ich zu Hause“, schlug Christian vor.
„Gute Nacht, Christian“, verabschiedete sich Hanna.
„Es ist schön, dich wieder hier zu haben“, sagte er zum Abschied und nahm sie dabei in den Arm.
Hanna erwiderte nichts darauf und machte sich auf den Heimweg. Es war gleich drei Uhr und lange her, dass sie um diese Zeit diese Straße entlangging.