Читать книгу Der Weg der verlorenen Träume - Rebecca Michéle - Страница 10
FÜNF
ОглавлениеVerdutzt drehte Hedwig den elfenbeinfarbenen Umschlag zwischen den Fingern. In einer zierlichen, klaren Schrift war der Brief an sie adressiert. Wer schrieb ihr auf solch feinem Papier? Mit dem Fingernagel ritzte Hedwig den Umschlag auf und zog eine Karte heraus.
Zu dem jährlichen Winterball auf Schloss Duwensee am 13. November laden wir Sie herzlichst ein.
Marianne von Kosin, Gräfin zu Duwensee
Es konnte sich nur um einen Irrtum handeln, denn Hedwig kannte weder die Gräfin noch sonst jemanden, der mit der Familie in Verbindung stand. Das herrschaftliche Anwesen lag etwa zwölf Kilometer südwestlich von Sensburg, und Hedwig war überhaupt noch nie in dieser Gegend gewesen. Sie drehte die Karte um und schmunzelte, als sie auf der Rückseite die hingekritzelten Worte las:
Ich hole Dich um fünf Uhr ab, zieh was Hübsches an. A.
Sie fragte sich, wie es Albert gelungen war, eine Einladung zum Ball auf Schloss Duwensee zu bekommen, dazu noch, dass man auch sie, Hedwig, einlud. Es war aber gleichgültig, denn sie würde auf keinen Fall hingehen. Nicht nur, dass sie mit dieser Gesellschaft nichts zu tun hatte – sie hatte nicht die passende Garderobe für einen solchen Anlass, und die Zeit, sich etwas Entsprechendes zu nähen, war zu knapp.
Sie ging in ihr Zimmer, nahm Papier und den Füllfederhalter und schrieb an Albert, der sich noch in Allenstein aufhielt, bedankte sich für die Einladung und meinte, es wäre ihr leider unmöglich, diese anzunehmen. Den Brief brachte Hedwig noch am selben Tag zur Poststation.
Seine Antwort kam postwendend und, wie so oft, ließ er Hedwigs Absage nicht gelten und schrieb, er stehe an dem besagten Tag vor ihrer Tür – sollte sie bereit sein oder nicht.
Luise war die Einzige, mit der Hedwig über Albert sprechen konnte. Auch wenn die Schwester sechs Jahre jünger war, wirkte sie erfahren und reif, und Luise sagte auch prompt: »Was will der Dombrowski von dir und, vor allen Dingen, was willst du von ihm, Hedi?«
»Wir sind nur Freunde«, antwortete Hedwig ausweichend. »Ohne Alberts Hilfe hätte ich nie die Meisterschule besuchen können.«
Luise sah ihre Schwester aufmerksam an und meinte: »Wenn du zu dem Ball gehen willst, dann mach es. Bei dieser Gelegenheit könntest du Kontakte knüpfen, die dir neue Kunden bescheren. Das Schloss liegt von Sensburg nicht allzu weit entfernt.«
Hedwig lachte schallend. »Eine Gräfin von Duwensee oder jemand aus deren Bekanntenkreis wird wohl kaum bei einer einfachen Provinzschneiderin ihre Garderobe anfertigen lassen.«
»Einer Schneidermeisterin«, erinnerte Luise ihre Schwester mit mahnend erhobenem Zeigefinger. »Du fertigst wunderbare Kreationen an, Hedi. Um die Bluse, die du mir aus dem alten Stoff, den Frau Wichmann mir freundlicherweise überlassen hat, genäht hast, beneidet mich jeder.«
Die Schwester übertrieb nicht. Kaum, dass Luise das Kleidungsstück getragen hatte, war Frau Wichmann zu Hedwig gekommen und hatte um eine ähnliche Bluse gebeten. Als Beamter im Schuldienst war Herr Wichmann finanziell gut gestellt, sodass Hedwig für diese Arbeit einen anständigen Lohn erhielt. Zwei Tage später kam die Cousine von Frau Wichmann zu Hedwig, dann deren Nachbarin. In den vier Wochen seit Hedwigs Heimkehr hatte sie bereits drei neue Kundinnen gewonnen. Hermann Mahnstein konnte sich nicht länger dagegen verwehren, dass seine Tochter eine anerkannte Schneiderin war, was auch zusätzliches Geld in die Haushaltskasse spülte.
Hedwigs Tagwerk begann bei Sonnenaufgang. Sie versorgte die Hühner und sammelte die Eier ein, bereitete das Frühstück zu, weckte ihre Geschwister, kontrollierte, ob Anna und Fritz ordentlich gewaschen und angezogen waren, schickte sie zur Schule, erledigte dann die Hausarbeit und kümmerte sich um Siggi, der ihr auf seinen kurzen, strammen Beinen überall hin nachlief und ständig beschäftigt werden wollte. Anna, inzwischen fünfzehn Jahre alt, hatte sich im letzten Jahr gut entwickelt. Aus dem zarten, oft kränkelnden Mädchen war eine hübsche und gesunde junge Frau geworden. Anna war nicht nur die Attraktivste der Mahnsteinschwestern, sondern auch die Klügste.
Bedingt durch ihre frühere Schwäche hatte Anna ihre Nase ständig in Bücher gesteckt, sie lernte gern und leicht, sodass die Schule eine Empfehlung für die höhere Mädchenschule ausgesprochen hatte. Erfreulicherweise hatte Hermann Mahnstein keine Einwände erhoben, Hedwig wusste aber schon lange, dass Anna Vaters Liebling war. Sie war frei von Neid und liebte Anna ebenso wie alle ihre Geschwister. Nun ja, wenn Hedwig ehrlich zu sich war, dann empfand sie es als angenehm, dass Paula und ihre spitze Zunge in Königsberg gut aufgehoben waren, und Luise stand ihr am nächsten. Ihr Bruder Karl hatte die Universität abgeschlossen und eine Anstellung in der Fliegerschule am gegenüberliegenden Ufer des Schoß-Sees bekommen, bei der er als technischer Zeichner arbeitete. Auch Fritz machte sich Gedanken um seine Zukunft, er wollte einen Handwerksberuf erlernen, schwankte derzeit aber noch zwischen Schreiner und Maler und Lackierer.
So war für alle gesorgt, nur ihre Mutter machte Hedwig zunehmend Kummer. Es gab Tage, an denen Auguste beinahe schmerzfrei war, dann kümmerte sie sich um den Haushalt, machte die Wäsche, kochte und buk. Immer öfter jedoch traten die Schübe auf, die Augustes Gelenke versteiften, an manchen Tagen konnte sie kaum einen Fuß vor den anderen setzen. An ihren freien Tagen half Luise, worüber Hedwig sehr dankbar war, auch wenn sie die Schwester schalt, sie möge ihre Freizeit doch genießen und nicht auf allen vieren über den Boden kriechen, um die Bohlen zu schrubben.
»Ich liebe die Hausarbeit und mache das sehr gern«, antwortete Luise eine Einstellung, die Hedwig nicht teilen konnte. Auch sie war eine gute Hausfrau, würde aber auch ohne Putzen und Wäschewaschen durchaus gut leben können.
Skeptisch betrachtete Hedwig ihr Spiegelbild. Das Kleid aus dunkelblauer Spitze schmiegte sich eng um ihre Taille, bauschte sich dann über den Satinunterrock und endete knapp über den Knöcheln. Die Ärmel waren aus durchbrochenem Stoff geschneidert und ließen ihre helle Haut durchschimmern. Über das Dekolleté legte sie nun noch ein graues Tuch. Hedwig hatte ihre braunen Haare aufgesteckt, ein paar Strähnen aber erlaubt, sich in ihrem Nacken zu kringeln. Sie nahm die Brille ab und musste die Augen zusammenkneifen, um ihr Spiegelbild sehen zu können. Hedwig seufzte und setzte die Brille wieder auf. Sie würde nicht zugunsten der Schönheit halb blind durch die Gegend laufen und von dem Abend kaum etwas mitbekommen. Sie zupfte noch einmal das Schultertuch zurecht, dann trat sie zufrieden zurück. Das Sonntagskleid ihrer Mutter war Auguste seit ihrer letzten Schwangerschaft zu eng geworden, so hatte Hedwig es auf ihre Größe abgeändert. Der fließende Stoff umschmeichelte zwar ihre schlanke Figur, aber es war kein passendes Kleid für eine Abendgesellschaft in einem herrschaftlichen Schloss.
Entschlossen straffte Hedwig die Schultern. Albert wusste über ihre Familie und ihre finanzielle Situation Bescheid, und wenn die anderen sie aufgrund ihrer Garderobe missbilligend behandeln sollten, würde sie sie nicht beachten. Mit diesen Leuten hatte Hedwig nichts zu tun, und nach dem Abend würde sie wohl kaum jemanden wiedersehen.
Hermann Mahnstein hatte mit fassungslosem Entsetzen auf die Mitteilung, Hedwig würde mit Albert von Dombrowski einen Ball auf Schloss Duwensee besuchen, reagiert. Wobei die Tatsache, wer ihr Begleiter war, ihn mehr überraschte als die Einladung seiner Tochter durch eine Gräfin.
»Ich wusste nicht, dass du und der Dombrowskisprössling miteinander in Kontakt stehen«, hatte Hermann grollend gesagt.
»Wir trafen uns zufällig in Allenstein wieder«, antwortete Hedwig und mied den direkten Blickkontakt zu ihrem Vater.
»Hat er dir einen Antrag gemacht?«, fragte Hermann Mahnstein. »Wenn ja, wann hält der Bursche es für angebracht, mich, deinen Vater, um deine Hand zu bitten?«
Erschrocken wich Hedwig zurück und rief: »Albert und ich sind nur Freunde! Ich habe ohnehin nicht vor, in den nächsten Jahren zu heiraten.«
»Ach, du willst wohl ein Blaustrumpf werden, Hedwig?« Missbilligend glitt Hermanns Blick über seine Tochter. »Na ja, eine Schönheit bist du nicht gerade, aber jeder Topf findet irgendwann seinen Deckel. Selbstständige Frauen sind bei den Männern nicht gefragt, aber bevor ich diesen Musikus, der von der Hand in den Mund lebt, als Schwiegersohn in meinem Haus begrüße, ist es mir tatsächlich angenehmer, wenn du unverheiratet bleibst. Außerdem brauchen wir dich hier im Haus.«
Hedwig ließ sich nicht anmerken, wie sehr seine Worte sie verletzten und antwortete entschieden: »Zwischen Albert und mir ist das Wort Heirat niemals gefallen, uns verbindet lediglich eine Kameradschaft. Ich weiß, du missbilligst, dass ich mit einem Mann ausgehe, mit dem ich nicht verlobt bin. Bitte, Vater, lass mich aussprechen!« Hedwig erhob ihre Stimme, als Hermann sie unterbrechen wollte. »Die Zeiten haben sich geändert, und du solltest so viel Vertrauen in deine Tochter haben, dass sie der Familie keine Schande machen wird.«
»Was soll nur aus dieser Welt werden, wenn die Kinder den Respekt vor den eigenen Eltern verlieren und ihnen Widerworte geben?« Fassungslos schüttelte Hedwigs Vater den Kopf. »Daran ist nur diese vermaledeite Schule in Allenstein schuld, die dich durch und durch verdorben und zu einer aufwieglerischen Frau gemacht hat. Wer weiß, mit wem du dich da herumgetrieben und was du sonst noch angestellt hast. Ich hätte dir diese Ausbildung niemals erlauben sollen.«
»Ich bin mündig und für mein Leben selbst verantwortlich«, entgegnete Hedwig entschlossen, obwohl seine Worte wie schmerzhafte Nadelstiche in ihrem Herzen waren. »Tag für Tag bin ich für euch da, kümmere mich um Mutter und um Siggi, halte das Haus und die Wäsche sauber, versorge die Hühner und den Garten, daneben nähe ich oft bis in die frühen Morgenstunden und unterstütze damit die Familie auch finanziell. Ich bin fest entschlossen, den heutigen Abend zu genießen, denn es ist das erste Mal, dass ich zu einem Ball gehe, und du wirst mir diese Freude nicht vermiesen, Vater.«
»Wie kannst du es wagen, in einem solchen Ton mit deinem Vater zu sprechen?« Mahnstein hob die Hand. Unwillkürlich wich Hedwig einen Schritt zurück, sie erwartete, von ihm geohrfeigt zu werden. Mahnstein ließ die Hand aber wieder sinken, schnaubte verächtlich und presste zwischen den Zähnen hervor: »Dann geh doch und treib dich mit diesen Leuten herum, die immer noch auf ihren hohen Rössern sitzen und meinen, die Welt für sich gepachtet zu haben, nur weil sie einen Stammbaum haben und vermögend sind.«
»Vater ...« Hedwig berührte seinen Ärmel, sie wollte sich nicht in Unstimmigkeit von ihm trennen, er schüttelte sie jedoch wie ein lästiges Insekt ab und verließ den Raum, ohne ihr noch einen Blick zu schenken. Hedwig atmete tief ein und aus, um ihren schnellen Herzschlag zu beruhigen. Die Worte und das Verhalten ihres Vaters hatten sie verletzt, auch war sie enttäuscht, dass er so wenig Vertrauen in sie hatte. In seiner Jugend war es unmöglich, dass ein Mädchen ohne weitere Begleitung einen jungen Mann zu einem Ball begleitete. Wie hatte Hedwig aber vorhin gesagt: Die Zeiten hatten sich gewandelt, Konventionen sich verschoben, und sie, Hedwig, war weit davon entfernt, sich Hals über Kopf in eine Beziehung zu stürzen, die ohnehin keine Zukunft hatte. Ihre Worte, sie wolle niemals heiraten, entsprachen der Wahrheit. Hedwig sah ihre Zukunft als Schneiderin, ohne die Pflichten einer Ehefrau und Mutter.
Es war nun wenige Minuten vor fünf. Hedwig schlüpfte in ihren staubgrauen Mantel und hoffte, Albert würde pünktlich sein. Bisher hatte sie sich keine Gedanken darüber gemacht, wie sie nach Duwensee gelangen sollten, Albert hatte nur geschrieben, er würde sie abholen. Als jetzt ein dunkelgrünes Automobil vor dem Haus hielt und Albert aus dem Wagen stieg, eilte sie ihm entgegen und rief: »Ich wusste nicht, dass du einen Wagen hast!«
»Den habe ich mir ausgeliehen.« Albert grinste und öffnete die Beifahrertür. »Zu einem solchen Ball können wir doch nicht im Pferdegespann vorfahren.«
»Ausgeliehen? Ist das nicht teuer?«,
»Ach, Hedi, musst du immer nur ans Geld denken?«, antwortete Albert mit einem leicht ungeduldigen Unterton. »Wenn es dich aber beruhigt: Den Wagen hat mir ein Freund für heute Abend kostenlos überlassen. Deine Frisur sieht übrigens sehr hübsch aus, du solltest dein Haar öfter in dieser Art tragen.«
Sein letzter Satz schmeichelte Hedwig, und sie ließ sich von Albert beim Einsteigen helfen. Nach der Auseinandersetzung mit ihrem Vater wollte sie nicht noch mit Albert diskutieren. Es konnte ihr gleichgültig sein, wofür Albert sein Geld ausgab, er war ihr gegenüber keine Rechenschaft schuldig.
Sicher und konzentriert lenkte Albert den Wagen über die schmalen Landstraßen. In den letzten zwei Wochen hatte es zwar mehrmals geschneit, die Straßen waren aber noch frei und gut befahrbar. Bald jedoch würde die Zeit kommen, in der Väterchen Frost das Land fest im Griff hatte und die Menschen ihre Dörfer kaum noch verlassen konnten. Bevor diese Zeit begann und das gesellige Leben bis zum nächsten Frühling fast vollständig zum Erliegen kam, gab die Gräfin von Duwensee jedes Jahr einen Ball, erklärte ihr Albert während der Fahrt in südwestliche Richtung. In jeder Kurve klammerte Hedwig sich Halt suchend an den Sitz. Zum ersten Mal fuhr sie in einem Automobil, und noch wusste sie nicht, ob es ihr gefiel oder Angst einjagte. Albert bemerkte es und lächelte beruhigend.
»Keine Sorge, Hedi, ich beherrsche das Autofahren, und es macht großen Spaß. Ist es nicht ein tolles Gefühl, so schnell durch die Landschaft zu brausen?«
»Nun ja, ich weiß nicht ...«
Albert legte seine rechte Hand auf Hedwigs Oberschenkel. Durch den Mantel und das Kleid hindurch meinte sie, die Wärme seiner Haut zu spüren – ein Gefühl, das sie verwirrte.
»Leg bitte beide Hände dorthin, wo sie hingehören.«.
Er grinste und meinte: »Das würde ich gern, aber ich muss ja lenken.«
»Ach du!«, stieß Hedwig hervor, froh, dass er in der Dunkelheit nicht sehen konnte, wie sie errötete. Mit sanfter Gewalt schob sie seine Hand von ihrem Bein und stellte die Frage, die sie seit Tagen beschäftigte: »Ist deine Familie mit denen von Duwensee bekannt, oder wie kommt es zu dieser Einladung? Noch dazu, dass auch ich eingeladen wurde, mich kennt doch keiner von denen.«
Albert, drehte für einen Moment den Kopf zu ihr und zwinkerte Hedwig zu. »Alexander von Kosin und ich lernten uns an der Musikhochschule in Königsberg kennen. Auch er strebte eine Karriere als Pianist an, musste diesen Plan aber aufgeben, als vor drei Jahren sein Vater starb. Alex als einziger Sohn ist nun der Graf von Duwensee und kümmert sich um die Güter. Er macht aber, so oft es ihm möglich ist, weiterhin Musik. Über die letzten Jahre hinweg hielten wir losen Kontakt, und ich dachte, es wäre eine nette Idee, bei dem jährlichen Herbstball teilzunehmen. Ein Anruf bei Alex genügte, und er freut sich, dich kennenzulernen.«
Die Frage, was Albert seinem Freund über sie gesagt und wie er ihre Beziehung dargestellt hat, lag Hedwig auf der Zunge, da kam aber auch schon das hell erleuchtete, dreigeschossige Schloss mit dem Säulenportal aus weißem Marmor in Sicht. Automobile jeder Größe und Ausstattung fuhren vor, Diener öffneten die Türen und halfen den Damen beim Aussteigen. Als sich Albert in die Schlange einreihte und Hedwig die erlesene Eleganz der Kleider sah, krampfte sich ihr Magen zusammen.
»›Ich glaube, ich kann das nicht.«
»Was kannst du nicht?«
»Dort hineingehen. Ich passe nicht zu diesen Leuten, mein Kleid ist viel zu schlicht, und ...«
»Du siehst wundervoll aus!«, erwiderte Albert entschieden, »Weder Alex noch die Gräfin von Duwensee sind Snobs. Bei ihnen zählt der Charakter, nicht der Stoff, in den man sich kleidet. Also sei kein Frosch, Hedi! Du bist doch sonst selbstbewusst und weißt, wer du bist und was du kannst.«
Alberts Worte beruhigten Hedwig zwar ein wenig, ihre Beine fühlten sich dennoch wie Pudding an, während sie an seinem Arm in die geflieste Halle trat. Ein Diener bat um ihre Mäntel, und als sie im Kleid dastand, bemerkte Hedwig, wie der Bedienstete für einen Moment die Stirn runzelte, sich dann aber den nächsten Gästen zuwandte. Dutzende von Männern und Frauen jeglichen Alters, die sich alle untereinander zu kennen schienen, standen bereits plaudernd zusammen oder gingen über die breite, geschwungene Treppe in den ersten Stock hinauf, wo sich der Ballsaal befand. Ältere Damen trugen bodenlange Roben, jüngere die modernen, ärmellosen Abendkleider, deren Röcke knapp unter dem Knie endeten. Viele hatten sich mit mehrreihigen Perlenketten, einige auch mit Federn besetzte Haarreifen geschmückt. In Magazinen hatte Hedwig Fotografien dieser Mode gesehen, die in den großen Städten von immer mehr Frauen getragen wurde, in Sensburg aber noch nie jemand derart gekleidet bemerkt. Hedwig begrüßte es zwar, dass die Korsetts vollständig aus der Mode verschwunden waren und die Röcke kürzer getragen wurden. Einige der Aufmachungen, die heute Abend hier vertreten waren, erschienen Hedwig aber doch zu freizügig, fast schon frivol, zumal die Frauen ihre Gesichter zusätzlich mit Rouge und Lippenstift geschminkt hatten. Ihre Selbstsicherheit bekam Risse, sie fühlte sich wie eine Landpomeranze.
»Nur Mut, Hedi«, raunte Albert an ihrem Ohr dann lauter: »Da drüben ist Alex! Wir müssen ihn begrüßen.«
Sein Arm lag fest um ihre Hüfte und Hedwig musste Albert quer durch die Halle folgen, obwohl sie am liebsten auf dem Absatz kehrtgemacht hätte und fortgelaufen wäre.
Alexander Kosin, Graf von Duwensee, war ein großer, schlanker Mann mit weißblondem Haar und hellblauen Augen. Albert begrüßte er mit einem freundschaftlichen Schlag auf die Schulter, vor Hedwig deutete er eine Verbeugung an und sagte:
»Sie sehen mich erfreut, Sie kennenzulernen, Fräulein Mahnstein.«
»Ich danke Ihnen für die Einladung«, erwiderte Hedwig und senkte leicht den Kopf, »muss aber gestehen, dass ich sehr überrascht war, da unsere Familien in keinem Kontakt zueinander stehen.«
»Wenn mein Freund Albert mir seine entzückende Begleitung vorstellen möchte, konnte ich natürlich nicht widerstehen. Und er hat nicht zu viel versprochen.«
Hedwig schnappte nach Luft, denn Alexander Kosin hatte ihr in einer Art zugezwinkert, die eindeutig zweideutig war. Albert hatte es entweder nicht bemerkt, oder es störte ihn nicht.
»Meine liebe Hedi ist eine hervorragende Schneidermeisterin. Deine Mutter wäre von ihren Kreationen begeistert, Alex. Das Kleid, das Hedi trägt, hat sie selbst geschneidert.«
»Lass doch, Albert«, murmelte Hedwig und das Blut schoss ihr in die Wangen.
Alexander betrachtete nun ihren Körper in einer Art, als würde er sie mit seinen Blicken ausziehen.
»Entzückend, ganz entzückend«, sagte er wohlwollend, drehte sich dann um und rief: »Mama, kommst du bitte? Ich möchte dir jemanden vorstellen.«
Er war seiner Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten. Auch die Gräfin war groß und schlank und hatte das gleiche weißblonde Haar und strahlend blaue Augen. Alexander stellte ihr zuerst Hedwig, dann Albert vor. Die Gräfin reichte Hedwig die Hand und sagte: »Bitte fühlen Sie sich ganz wie zu Hause, Fräulein Mahnstein, bei uns geht es recht zwanglos zu. Vielleicht können wir später über Ihre Arbeit sprechen. Gute Schneiderinnen sind rar, deswegen interessiert mich Ihre Tätigkeit. Im Moment muss ich aber noch die eintreffenden Gäste begrüßen.«
Hedwig vermutete, die Worte der Gräfin waren nur Floskeln, wie sie in diesen Kreisen üblich waren, und sie war dankbar, als sich ihre Aufmerksamkeit anderen Gästen zuwandte.
An Alberts Arm schritt Hedwig die Freitreppe hinauf. Der obere Korridor hatte stuckverzierte und mit Porträts geschmückte Wände, auf dem Boden weiche Teppiche und war hell erleuchtet. Eine zweiflügelige Tür führte in den Ballsaal, eine zweite Tür in einen etwas kleineren Raum, an dessen Längsseiten ein kalt-warmes Büffet aufgebaut war. Zielsicher ging Albert zu diesem, nahm zwei Teller vom Stapel und begann, sie zu füllen.
»Dürfen wir das denn?«, flüsterte Hedwig.
Albert lachte. »Du hast die Gräfin gehört: Wir sollen uns wie zu Hause fühlen. Sie ist doch sehr nett, Hedi, und wie findest du Alexander?«
»Etwas ... aufdringlich«, antwortete Hedwig ehrlich. »Verzeih, dass ich das über deinen Freund sage, mir gefällt er aber nicht.«
Albert steckte sich ein mit Fisch belegtes Kanapee in den Mund, kaute und zuckte nur mit den Schultern. Ein Diener mit einem Tablett trat zu ihnen und bot ihnen Wein und Sekt an. Ohne Hedwig zu fragen, nahm Albert zwei Gläser mit Weißwein entgegen und drückte ihr eines in die Hand.
»Ich möchte keinen Alkohol trinken«, sagte Hedwig.
»Nicht? Na gut, dann trinke ich eben beide.« Albert lachte und leerte erst das eine, dann das andere Glas jeweils bis zur Neige.
Der Wunsch, das Fest so schnell wie möglich wieder zu verlassen, wurde in Hedwig immer stärker. Es war ein Fehler gewesen, die Einladung anzunehmen. Aus den Augenwinkeln bemerkte sie, wie einige Damen sie verstohlen musterten und schnell zur Seite schauten, wenn Hedwig deren Blicke auffing.
Im Ballsaal erklang nun eine beschwingte Walzermusik.
»Wir wollen tanzen!«
Albert packte ihren Arm und zog sie auf die Tanzfläche. Er war ein guter Tänzer, sicher führte er sie über das Parkett. Hedwig, die die Grundschritte des Walzers beherrschte, fühlte sich zum ersten Mal an diesem Abend etwas entspannter. Es machte Spaß, mit Albert zu tanzen.
Als Musiker hatte er ein perfektes Taktgefühl, und sie ließ sich gern führen. Nach dem Walzer folgte ein schneller Foxtrott. Hedwig rang nach Luft und war froh, als Albert vorschlug, eine Pause einzulegen. Sie hatte Durst, musste aber im Nebenraum erst suchen, bis sie eine Karaffe mit Wasser entdeckte. Albert hingegen trank schon wieder Wein, und sein Blick wurde bereits glasig.
»Du musst wieder nach Hause fahren«, mahnte Hedwig leise.
»Kein Problem. Hedi, ich vertrage schon was.«
Er lachte, begrüßte zwei Männer, die er von früher kannte, entfernte sich mit ihnen, und Hedi blieb verloren an der Seite stehen.
Da stand Alexander Kosin vor ihr und sagte: »Darf ich um den nächsten Tanz bitten, Hedwig?«
Es störte Hedwig, dass er sie einfach mit dem Vornamen ansprach, und tanzen wollte sie mit diesem Mann nicht. Da sie aber kein Aufsehen erregen wollte, bemühte sie sich um ein unverbindliches Lächeln und folgte Alexander auf die Fläche. Auch er tanzte und führte gut, allerdings lag seine rechte Hand nicht auf ihrem Schulterblatt, sondern umschlang ihre Taille, und er zog sie dichter an sich heran, als es schicklich war. Hedwig roch seinen alkoholgeschwängerten Atem. Als er sie nach drei Tänzen nicht gehen lassen wollte, sah sich Hedwig suchend nach Albert um, konnte ihn aber nirgendwo entdecken.
»Ich brauche eine Pause«, sagte Hedwig und befreite sich aus Alexanders Armen. »Es ist sehr warm hier.«
»Wenn Sie möchten, gehen wir auf die Terrasse, um frische Luft zu schöpfen«, sagte Alexander prompt.
»Danke, nein«, antwortete Hedwig entschieden. Auf keinen Fall würde sie mit diesem Mann allein in die Nacht hinausgehen. »Ich muss nach Albert sehen, denn es wird Zeit, dass wir uns verabschieden.«
»Jetzt schon? Der Abend hat doch gerade erst begonnen.«
»Wir haben eine weite Fahrt bis nach Sensburg«, antwortete Hedwig.
»Einen letzten Tanz müssen Sie mir aber noch schenken!«
Erneut riss Alexander Hedwig in die Arme. Sie fühlte sich wie in Stahlklammern gefangen und bereute, jemals einen Fuß über die Schwelle dieses Hauses gesetzt zu haben. Die Musik wurde nun langsamer, Alex beugte seinen Kopf und entsetzt spürte Hedwig, wie seine Lippen über ihren Hals strichen.
»Alex, ich glaube, das Fräulein möchte im Moment nicht länger tanzen.« Wie aus dem Nichts war die Gräfin von Duwensee aufgetaucht und wies ihren Sohn wie einen Schuljungen zurecht. »Ich bitte dich, Fräulein Mahnstein loszulassen und dich um die anderen Gäste zu kümmern. Ich möchte ohnehin mit Fräulein Mahnstein über Schnittmuster plaudern.«
Erleichtert atmete Hedwig auf, als Alexander sie endlich freigab. Die Frau Gräfin war nüchtern, und dankbar folgte Hedwig der eleganten Dame in einen kleinen Raum am Ende des Korridors, in dem sie miteinander allein waren. Die Gräfin schloss die Tür hinter sich und sagte:
»Ich muss mich für meinen Sohn entschuldigen, Fräulein Mahnstein. Alexander meint, keine Frau könne ihm widerstehen, es ist ihm bisher aber nicht gelungen, eine als neue Herrin auf Duwensee nach Hause zu führen. Seit sein Vater tot ist, entgleitet er immer mehr meinem Einfluss.«
Hedwig, der diese offenen Worte peinlich waren, nickte nur und fragte: »Möchten Sie wirklich mit mir über meine Arbeit sprechen, Frau Gräfin?«
»Sicherlich, Fräulein Mahnstein. Wie ich erwähnte, habe ich derzeit keine gute Schneiderin, benötige aber für das kommende Weihnachtsfest eine neue Garderobe. Meinen Sie, Sie können einen solchen Auftrag übernehmen?«
»Bis Weihnachten?«, wiederholte Hedwig erstaunt. »Das ist nicht mehr viel Zeit. Zwischen Sensburg und hier gibt es keine Zugverbindung, Sie müssten täglich mit dem Wagen in die Stadt kommen ...«
»Ich dachte daran, dass Sie hier im Haus arbeiten«, fiel die Gräfin Hedwig ins Wort. »Sie können in einem der Gästezimmer wohnen, Kost und Logis erhalten Sie zuzüglich zu Ihrem Lohn.«
Hedwig schnappte nach Luft und stieß hervor: »Sie wissen doch nicht, ob ich Ihren Ansprüchen gerecht werden kann!«
»Wir werden es ausprobieren«, antwortete die Gräfin und reichte Hedwig die Hand. »Es ist also abgemacht? Ein Wagen wird Sie am kommenden Montag abholen, dann werden wir gleich die notwendigen Stoffe und alles, was Sie benötigen, bestellen, damit Sie so schnell wie möglich mit der Arbeit beginnen können.« Da die Gräfin merkte, wie Hedwig zögerte, fügte sie mit einem Augenzwinkern hinzu: »Mein Sohn wird in den nächsten Wochen nicht anwesend sein, falls Sie seinetwegen Bedenken haben. Seine Geschäfte führen ihn nach Berlin.«
In Hedwigs Kopf wirbelten die Gedanken durcheinander. Konnte sie ein solch großzügiges Angebot ausschlagen? In erster Linie ging es weniger um den Lohn, den dieser Auftrag ihr einbringen würde. Wenn die Gräfin mit ihrer Arbeit zufrieden sein würde, dann könnte das ihr, Hedwig, weitere Aufträge einbringen. Was würden aber ihre Eltern dazu meinen, wenn sie weitere drei Wochen von zu Hause fort sein würde?
»Ich muss darüber nachdenken«, antwortete Hedwig daher vage. »Ich gebe Ihnen am Montag telefonisch Bescheid.«
»Machen Sie das, Fräulein Mahnstein, aber bitte nicht später, denn wenn Sie ablehnen, muss ich mich nach jemand anderen umsehen.«
Es war der Gräfin anzusehen, wie überrascht sie war, dass Hedwig nicht unverzüglich auf ihr Angebot einging. Marianne von Kosin ging zur Tür und öffnete sie, das Zeichen, dass ihre Unterhaltung beendet war.
Hedwig kehrte in den Ballsaal zurück und suchte nach Albert. Die Freude an dem Fest war ihr vergangen, sie wollte ihn bitten, nach Hause zu fahren. Durch den reichlichen Alkoholgenuss war die Stimmung laut und ausgelassen geworden. Sie fand Albert am Klavier sitzend, den Hemdkragen geöffnet, die Haare zerzaust, und er spielte die flotte Melodie eines Charleston, zu dessen Klängen die Gäste tanzten, darunter auch Alexander von Kosin. Eine dunkelhaarige, hübsche junge Frau warf ihre Arme um Alexanders Hals und genierte sich nicht, ihn vor allen Augen mitten auf den Mund zu küssen. Um die beiden herum bildete sich ein Kreis, unter lautem Klatschen und Johlen wurde das Paar angefeuert. Mit ihrem Unterkörper beschrieb die Frau eindeutige Bewegungen, der gierige Glanz in Alexanders Augen ließ keinen Zweifel an seinen Gedanken. Hedwig hatte nun endgültig genug. Ein solches Verhalten hatte sie nie zuvor mit ansehen müssen, und sie fragte sich, wie eine Frau sich derart gehen lassen konnte. Sie war total betrunken und enthemmt, der Alkohol hatte sie nicht mehr Herr ihrer Sinne sein lassen. Aber nicht nur diese Entgleisung, sondern auch das Verhalten fast aller Gäste schockierte Hedwig. War in diesen Kreisen so etwas üblich? Wo waren Anstand, Würde und Moral geblieben? Auguste Mahnstein würde auf der Stelle der Schlag treffen, wenn sie erfahren würde, in welche Kreise Hedwig geraten war.
Ohne von jemandem beachtet oder gar aufgehalten zu werden, holte Hedwig ihren Mantel aus dem kleinen Raum neben der Halle und eilte aus dem Haus. Draußen atmete sie tief durch. Die Luft schnitt zwar kalt in ihre Lungen und sie fror in ihrem dünnen Kleid, ins Haus wollte sie aber auf keinen Fall zurückkehren. Albert hatte den Wagen nicht abgeschlossen. Hedwig wickelte sich in eine im Fond liegende Wolldecke und kauerte sich auf dem Beifahrersitz zusammen. Für einen Moment überlegte sie, zu Fuß nach Sensburg zu laufen, es siegte aber ihr klarer Verstand. Der Weg war weit, und weder ihre leichten Lederschuhe noch ihr Mantel waren für einen so langen Marsch durch die eiskalte Nacht geeignet. Wenn nötig, würde sie die ganze Nacht im Wagen auf Albert warten, bis er sich bequemte, die zweifelhafte Gesellschaft zu verlassen. Hedwig ärgerte sich, die Einladung angenommen zu haben. In diesem Moment schwor sich Hedwig, niemals auch nur einen Tropfen Alkohol zu trinken, um niemals in eine ähnliche Situation zu geraten. Das Angebot der Gräfin von Duwensee würde sie gleich morgen mittels eines Briefes freundlich, aber bestimmt ablehnen. Auch wenn Marianne von Kosin sehr freundlich zu ihr gewesen war – mit diesen Menschen wollte Hedwig nie wieder etwas zu tun haben.
Trotz der unbequemen Haltung nickte Hedwig ein, und erwachte, als die Tür der Fahrerseite heftig zugeschlagen wurde.
»Du hast dich unmöglich benommen!« Albert verbarg seinen Ärger über ihr Verhalten nicht. »Einfach wegzulaufen und dich hier verkriechen.«
»Ich denke nicht, dass mich jemand vermisst hat«, antwortete Hedwig und zog die Decke enger um sich. Sie fror schrecklich, ihre Füße schienen Eisklumpen zu sein. »Besonders du nicht«, fügte sie leise hinzu.
»Verdammt, Hedi, dieser Abend war wichtig für mich.« Mit der Faust schlug Albert auf das Lenkrad ein. »Alexander hat mich mit Leuten bekanntgemacht, die Musiker für eine Kapelle für das Ostseebad Cranz suchen. Neben Kost und Logis wird das Engagement gut bezahlt, denn die Kapelle spielt in den ersten Häusern am Platz. Eine solche Chance kann ich mir nicht entgehen lassen, denn ewig will ich nicht als Klimperer in den Lichtspielhäusern versauern.«
»Dann hast du die Anstellung?«, krächzte Hedwig, denn ihr Hals fühlte sich an, als stecke ein Stück Stacheldraht darin.
Er nickte stolz. »Ja, ich glaube ja, auf jeden Fall stehen meine Chancen gut.«
»Es freut mich für dich.« Hedwig meinte es ehrlich. »Würdest du mich jetzt bitte nach Hause fahren?«
Albert startete den Motor. Während der Fahrt sprachen sie kein Wort miteinander. Albert fuhr viel langsamer als bei der Herfahrt, der Alkohol beeinträchtigte seine Fahrtüchtigkeit. Immer wieder geriet er auf die falsche Fahrbahn oder gefährlich nahe an den rechten Straßengraben. Glücklicherweise waren mitten in der Nacht keine anderen Fahrzeuge oder Fuhrwerke unterwegs. Hedwig klammerte sich am Sitz fest und betete stumm. Nie zuvor hatte sie den Anblick der ersten Häuser Sensburgs so sehr begrüßt. Die Kirchturmuhr schlug die vierte Stunde, als sie Hedwigs Zuhause erreichen. Albert starrte durch die Windschutzscheibe und machte keine Anstalten, ihr aus dem Wagen zu helfen. Ob und wann sie sich wiedersehen würden, erwähnte er mit keinem Wort.
»Dann gute Nacht, Albert«, sagte Hedwig leise, hob die Hand, als wolle sie ihn am Ärmel berühren, ließ den Arm aber wieder sinken und öffnete die Tür.
»Gute Nacht.« Immer noch sah er sie nicht an.
Hedwig war noch nicht an der Haustür, als der Motor aufheulte und Albert davonbrauste. Müde und erschöpft trat sie in die Diele, da tauchte ihr Vater wie aus dem Nichts vor ihr auf. Seine Ohrfeige kam so schnell, dass Hedwig keine Gelegenheit hatte, dem Schlag auszuweichen.
»Geh mir aus den Augen«, zischte Mahnstein. »Geh in dein Zimmer und bleib dort, bis ich entschieden habe, was mit dir geschehen soll.«
Blind vor Tränen des Schmerzes und der Wut stolperte Hedwig die Stiege hinauf, warf sich auf den Bauch und weinte in die Kissen.
Die Stunden in dem kalten Automobil hatten ihre Spuren hinterlassen. Am nächsten Morgen schleppte sich Hedwig fiebernd und mit laufender Nase durch das Haus, fütterte die Hühner und bereitete das Frühstück zu. Von des Vaters Ohrfeige war ihre linke Gesichtshälfte geschwollen. Als Hermann Mahnstein die Küche betrat, hatte er keinen Blick für Hedwigs Erkältung, sondern herrschte sie an:
»Habe ich dir nicht gesagt, du sollst auf deinem Zimmer bleiben? Dein Anblick widert mich an.«
»Mutter kann heute nicht aufstehen«, krächzte Hedwig heiser. »Irgendwer muss wohl das Frühstück machen.«
»Du wagst immer noch, mir zu widersprechen, Tochter?« Drohend baute er sich vor Hedwig auf. »Treibst dich wie eine Prostituierte die ganze Nacht mit Männern herum und schämst dich nicht, mir in die Augen zu sehen und auch noch frech zu werden?«
»Es ist nichts geschehen«, murmelte Hedwig im Versuch, sich zu verteidigen. »Albert und ich sind nur Freunde ...«, wiederholte sie, las aber in der Mimik ihres Vaters, dass er ihr kein Wort glaubte.
»Eine anständige Frau kommt nicht erst gegen Morgen nach Hause, wenn sie nicht die Nacht in den Armen ihres Liebhabers verbracht hat.«
»Du scheinst aus Erfahrung zu sprechen.« Bevor Hedwig nachgedacht hatte, waren ihr diese Worte entschlüpft. Die weitere Ohrfeige Mahnsteins nahm sie stoisch entgegen, kein Schmerzenslaut kam über ihre Lippen, obwohl sie meinte, ihr Schädel müsse jeden Moment in zwei Teile zerbrechen.
»Du durch und durch verdorbenes Stück!«, keuchte Mahnstein mit hochrotem Kopf. Erneut hob er die Hand und wurde nur durch das Eintreten von Karl an einem zweiten Schlag gehindert.
»Was ist hier los?« Verständnislos sah Karl von Hedwig zu seinem Vater.
»Das musst du deine verderbte Schwester fragen.«
Mit zwei Fingern hob Karl Hedwigs Kinn, betrachtete ihre geschwollene Wange und flüsterte: »Was ist gestern Abend bei dem Ball geschehen?«
»Nichts, für das ich mich schämen muss, im Gegenteil«, antwortete Hedwig fest. »Die Gräfin von Duwensee hat mir angeboten, eine komplette Garderobe für sie zu schneidern.«
»Du sollst für die Gräfin nähen?« Sofort änderte sich Mahnsteins Gesichtsausdruck. »Ist das wahr? Die feinen Herrschaften bezahlen bestimmt sehr gut.«
Er denkt sofort an den schnöden Mammon, den ein solcher Auftrag mir einbringen kann, dachte Hedwig bitter.
»Dazu muss ich aber auf Duwensee wohnen«, sagte sie und wollte gerade hinzufügen, dass sie entschlossen war, den Auftrag abzulehnen.
»Das käme mir sehr gelegen«, sagte Mahnstein. »Es wäre gut, wenn du das Haus hier verlässt, bevor dein schändliches Verhalten in der Stadt die Runde macht.«
»Wer kümmert sich dann um Mutter und um Siggi?«, fragte Hedwig mühsam. Ihr Hals schwoll immer mehr zu, durch die verstopfte Nase bekam sie kaum noch Luft.
»Wir haben es geschafft, als du in Allenstein warst«, antwortete Mahnstein kühl. »Es wird sich eine Lösung finden lassen. Wann wirst du nach Duwensee fahren?«
Er kann es nicht erwarten, mich loszuwerden, dachte Hedwig und merkte, wie ihre Augen feucht wurden. Hastig wischte sie sich mit dem Handrücken über die Lider und antwortete: »Am nächsten Montag, Vater.«
»Dann sieh zu, dass du gesund wirst, Tochter. Ich glaube nicht, dass die Gräfin eine schniefende und hustende Schneiderin haben möchte.«
In aller Seelenruhe schenkte sich Mahnstein von dem bereitstehenden Kaffee ein, griff nach einer Scheibe Brot und bestrich sie dick mit Butter. Karl zuckte mit den Schultern und griff ebenfalls nach der Kanne. Nach und nach erschienen die restlichen Geschwister, und Hedwig richtete ein Tablett, um das Frühstück ihrer Mutter ans Bett zu bringen.
Nur Luise, die am Nachmittag ihre Familie für eine Stunde besuchte, bemerkte, wie krank Hedwig war und auch deren geschwollene Wange. Wortlos nahm sie ihre Schwester in die Arme, und Hedwig vertraute sich Luise an, erzählte von dem Angebot der Gräfin und auch, warum sie dieses erst ausschlagen wollte.
»Die Leute dort sind anders als wir, Luise. Gestern Abend hatte ich den Eindruck, als hätten sie noch niemals etwas von Sitte und Anstand gehört.«
»Ich höre aus deinen Worten heraus, dass Albert von Dombrowski dich enttäuscht hat«, fuhr Luise fort. »Liebst du ihn?«
Hedwig zögerte, zuckte dann mit den Schultern und antwortete: »Nein, ich glaube nicht, dass es Liebe ist. Ich dachte, ich wäre in ihn verliebt, sein gestriges Verhalten hat mir aber gezeigt, dass Albert kein Mann ist, auf den man setzen sollte. Die Frau, die er eines Tages zum Altar führt, wird keinen Ehemann, sondern ein großes Kind bekommen.«
Erleichtert lachte Luise auf.
»Ich fürchtete schon, Albert hätte dir das Herz gebrochen, Schwesterchen. Du sagtest, die Frau Gräfin wäre nicht wie ihr Sohn«, wechselte Luise das Thema, »und wenn dieser ohnehin fort ist, wärst du dumm, einen solchen Auftrag abzulehnen.«
»Was ist mit Mutter und unserem kleinen Bruder?«
Sanft streichelte Luise Hedwigs Hand und sagte zuversichtlich: »Du weißt, Vater und ich sind selten einer Meinung, aber dieses Mal hat er recht. Während deiner Ausbildung in Allenstein hat die Familie auch alles ohne deine Hilfe bewältigt, jetzt wirst du ja nur kurze Zeit fort sein und an den Wochenenden nach Hause kommen können. Nun koche ich dir einen heißen Kamillentee mit Honig und steck dich ins Bett, damit du bis Montag wieder gesund bist.«
Nie zuvor hatte Hedwig ein Zimmer mit einem eigenen Bad bewohnt, ebenfalls noch nie in einem breiten Himmelbett geschlafen, in dem gut drei Personen Platz fänden. Eine Verbindungstür führte von ihrem Raum in das Schneiderzimmer. Mit einer breiten, nach Westen ausgerichteten Fensterfront war es lichtdurchflutet, und mit einem großen Tisch, einer modernen Nähmaschine und allem, von dem Hedwigs Schneiderherz träumte, eingerichtet.
»Meine Schneiderinnen fertigen immer im Haus«, erklärte Marianne Kosin, die Gräfin von Duwensee. »Wenn Sie noch etwas benötigen sollten, lassen Sie es mich bitte wissen oder wenden sich an die Haushälterin Frau Brenneke oder an Gerda.«
Gerda war eines der Hausmädchen, die auch für die Ordnung und Sauberkeit in Hedwigs Zimmer verantwortlich war. Das war Hedwig furchtbar peinlich, allein schon, als Gerda ihre Kleidung auspacken und in den Schrank hängen wollte.
»Das ist sehr freundlich, Frau Gräfin, ich bin es aber gewohnt, meine Sachen selbst in Ordnung zu halten«, antwortete Hedwig diplomatisch. »Ich bin kein Gast in Ihrem Haus, sondern Ihre Angestellte.«
Die Gräfin lächelte ihr freundlich zu und erwiderte: »Sie sollen es so angenehm wie möglich haben, Fräulein Mahnstein, denn ich erwarte von Ihnen eine gute und anständige Arbeit, auf die Sie sich ohne Ablenkung zu konzentrieren haben.«
Alexander Kosin hielt sich tatsächlich nicht auf Schloss Duwensee auf, was Hedwig sehr erleichterte. Die Mahlzeiten nahm Hedwig allein in ihrem Zimmer ein, und in der ersten Woche saßen sie und die Gräfin stundenlang zusammen, um aus Modemagazinen verschiedene Modelle herauszusuchen, die Stoffe und alles Notwendige zu bestellen. Marianne Kosin war eine angenehme Kundin. Beim Maßnehmen stand sie ruhig, ließ sich von Hedwig beraten und folgte deren Vorschlägen, wenn Hedwig meinte, an einem Schnittmuster Änderungen vorzunehmen.
In ihren freien Stunden spazierte Hedwig durch den weitläufigen Park mit dem alten Baumbestand und einem kleinen Teich. Der Winter war nun, Anfang Dezember, schnell über Masuren hereingebrochen. In Hedwigs erster Woche schneite es fast ohne Unterlass, dann sanken die Temperaturen auf minus zwanzig Grad, und die Sonne schien, sodass die Landschaft unter einer weißen Haube verschwand. Die Kamine im Schloss wurden gut geheizt, in Hedwigs Bad kam das warme Wasser direkt aus dem Hahn, und manchmal genoss sie ein abendliches Schaumbad. Hedwig dachte darüber nach, dass es durchaus Vorteile hatte, adliger Herkunft und darüber hinaus noch vermögend zu sein. Wenn Geld allein auch nicht glücklich machte – es erleichterte so manches. Ihrer Schwester Luise schrieb sie regelmäßig, auch einmal ihrer Mutter. Wie während ihres Aufenthaltes in Allenstein erhielt sie wieder keine Antwort.
Als eines Nachmittags Gerda meldete, ein Herr wünsche sie zu sprechen und Albert hinter ihr in das Schneiderzimmer trat, sprang Hedwig überrascht auf.
»Du?«
Er grinste und wirkte verlegen.
»Ich bin gekommen, um dir zu sagen, dass ich morgen nach Cranz reisen und den restlichen Winter dort verbringen werde.«
»Dann hast du das Engagement in der Kapelle tatsächlich erhalten«, sagte Hedwig. »Ich freue mich für dich.«
»Ich wurde sogar zum Kapellmeister ernannt, und wir nehmen eigene Kompositionen in unser Repertoire auf, und ...« Er zögerte, rieb sich über den Nasenrücken und stieß dann hervor: »Es tut mir leid, was bei dem Ball passiert ist. Du hattest recht, du passt nicht zu diesen Menschen, denn du bist viel zu gut für die. Es freut mich aber, dass du hier bist, und Alex meint, seine Mutter habe ihm geschrieben, sie wäre von deiner Arbeit begeistert.«
»Danke«, antwortete Hedwig schlicht. »Dieser Auftrag ist wirklich ein Glückfall für mich.«
»Tja, dann ....« Albert trat vor, streckte seine Hand aus, die Hedwig jedoch ignorierte. »Ich weiß nicht, wann wir uns wiedersehen werden. Darf ich dich zum Abschied küssen?«
»Ich wüsste nicht, warum.«
»Ach komm, Hedi, sei nicht so streng mit mir.« In seinen Augen schimmerte ein dunkler Glanz. als er sie schmeichelnd ansah. »Wir sind doch noch Freunde, oder? Und einen alten Freund lässt man nicht ohne Abschiedskuss in die Fremde ziehen.«
»Das Ostseebad Cranz befindet sich nicht gerade in der Fremde«, bemerkte Hedwig und musste nun doch lächeln. »Du gehst ja nicht nach Amerika oder Afrika, sondern bleibst in Ostpreußen. Außerdem wirst du zurückkommen, schon, um deine Eltern zu besuchen.«
»Es sind nicht meine Eltern, die mich nach Sensburg ziehen«, murmelte er. Hedwig ließ es zu, dass er eine Haarsträhne, die sich aus ihrem Dutt gelöst hatte, um den Finger wickelte. Er stand dicht vor ihr, sie roch den herben Duft seines Rasierwassers, sein warmer Atem streifte ihre Wange. Sie wies ihn nicht zurück, als sich seine Lippen auf ihren Mund legten. Wie immer, wenn Albert sie küsste, hatte sie das Gefühl, sich aus ihrem Körper zu lösen und über sich zu schweben. Schwach erinnerte sie sich an ihre Behauptung gegenüber Luise, als sie betont hatte, in Albert nicht verliebt zu sein. Warum verwarf sie diese Meinung jedes Mal, wenn sie in seinen Armen lag?
Seine Küsse wurden fordernder, und er nestelte an den Knöpfen ihrer Bluse.
»Albert, nein ... nicht«, stammelte Hedwig.
»Die Gräfin ist mit dem Pferdeschlitten ausgefahren«, hauchte er an ihrem Ohr, »das Mädchen ist einkaufen, und die Haushälterin werkelt unten in der Küche. Es wird uns niemand stören. Komm schon, Hedi, irgendwann muss es einfach sein, und wer weiß, wann wir uns wiedersehen werden. Lass mich mit einer schönen Erinnerung fortgehen.«
In Hedwig stritten die unterschiedlichsten Gefühle, als Albert sie einfach auf die Arme nahm, als wöge sie nicht mehr als eine Feder, und in ihr Schlafzimmer trug. Ihr Vater hatte es ihr vorgeworfen und sogar geschlagen, weil er meinte, sie habe sich mit Albert eingelassen, ohne ihr die Chance einer Verteidigung zu geben, und hatte sie als Hure beschimpft. Nun gut, dann sollte Hermann Mahnstein seine Meinung bestätigt haben!
Teils aus Leidenschaft, teils aus Trotz gegenüber ihrem Vater wurde Hedwig an diesem Vormittag die Geliebte von Albert von Dombrowski.
Das Frühjahr war immer Hedwigs liebste Jahreszeit gewesen. Wenn die Tage länger wurden, wenn die Starre des harten Winters langsam wich, das Eis auf den Seen und Flüssen taute, wenn sich Scharen von Krähen auf den Feldern sammelten, deren schwarze Erde unter dem schmutzig-grauen Schnee hervorschimmerte, und wenn die ersten Störche am Himmelszelt auf der Suche nach geeigneten Nistplätzen ihre Kreise zogen – dann war es Hedwig, als würde auch sie zu neuem Leben erwachen. Sie benötigte keinen Wecker. Bei Morgengrauen sprang sie ausgeruht aus den Federn, die Arbeit ging ihr leicht von der Hand, und mit jedem Atemzug sog sie die liebliche, reine Frühlingsluft ein.
An diesem Morgen stützte Hedwig sich mit den Händen auf den Schüttstein und starrte ihr Spiegelbild an. Die Frau, die sie darin erblickte, schien ihr fremd zu sein. Stumpfes Haar umrahmte ein fahles Gesicht mit einem spitzen Kinn, die Augen gräulich umschattet. Sie zitterte, dann würgte sie und der Mageninhalt stieg in ihre Kehle, dabei hatte sie heute Morgen außer einem Glas Wasser nichts zu sich genommen. Sie spuckte bittere Galle in das Abflussbecken, die Übelkeit wollte aber nicht weichen. Ihre Beine zitterten, sie fröstelte und fühlte sich, als hätte sie ganze Nacht über in einem Steinbruch gearbeitet.
Langsam löste sie ihre Hände von dem Schüttstein und legte sie auf ihre Brüste. Diese leichte Berührung verursachte ihr Schmerzen. Dann wanderten ihre Hände weiter nach unten und Hedwig war nahe daran, in Tränen auszubrechen. Bisher hatte sie ihre Beschwerden vor der Familie verbergen können, denn im Laufe des Tages verging die Übelkeit und in ihre Wangen kehrte die Farbe zurück. Die Eltern und Geschwister waren ohnehin viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um zu bemerken, was mit Hedwig los war. Der lange Winter hatte Auguste Mahnsteins Zustand verschlechtert, ihr Bruder Siggi hatte wochenlang gehustet und Anna angesteckt, und Karl und Fritz gingen ohnehin ihre eigenen Wege. Wieder war es Luise gewesen, die bei ihren gelegentlichen Besuchen bemerkt hatte, dass Hedwig sich verändert hatte. Den Fragen der Schwester war Hedwig aber ausgewichen. Sie fühlte sich nicht in der Lage, sich jemandem anzuvertrauen.
»Keine Angst, Hedi, ich passe auf«, hatte Albert im Rausch der Leidenschaft geflüstert, und sie hatte ihm vertraut. Hatte gedacht, dass es nicht gleich beim ersten Mal geschehen würde.
Zu Weihnachten hatte Albert eine Ansichtskarte geschrieben: Eine lange Strandpromenade, elegant gekleidete Herrschaften, die Damen zierliche, helle Sonnenschirme tragend, ein strahlend blauer Himmel und ein ebensolches Meer. Er hatte ihr ein frohes Fest und einen gesunden Jahreswechsel gewünscht, geschrieben, dass es ihm gut gehe und ihm die Arbeit viel Freude bereite, aber keine Adresse angegeben. Hedwig hatte die Karte nicht schnell genug verstecken können, so fiel sie ihrem Vater in die Hände, der sie in vier Teile zerriss und ins Herdfeuer warf. Seitdem hatte Hedwig keine weitere Nachricht von Albert erhalten. Vielleicht hatte er tatsächlich geschrieben, vielleicht ihr sogar seine Adresse mitgeteilt, und die Post hatte ihr Vater abgefangen.
Hedwig schreckte auf, als die Tür aufgerissen wurde. Strümpfig stolperte Siggi in die Küche, in den Händen zwei schlammverkrustete, knöchelhohe Stiefel.
»Meine Schuhe sind dreckig«, rief der Junge. »Mit denen kann ich nicht zur Schule. Warum hast du sie gestern nicht geputzt?«
Weil ich nicht eure Putzfrau bin, lag es Hedwig auf der Zunge, laut sagte sie aber nur: »Nach ein paar Schritten sind die Stiefel ohnehin wieder schmutzig.«
Durch das Tauwetter verwandelten sich die ungepflasterten Straßen in Schlammwege, und die Kinder brauchten fast doppelt so lange für ihre Schulwege, auch weil sie sich einen Spaß daraus machten, absichtlich in dem Schlamm zu springen und darin herumzurutschen. Dementsprechend schmutzig kam auch Siegfried jeden Tag von der Schule nach Hause.
»Du ziehst die Stiefel doch eh vor dem Klassenzimmer aus«, sprach Hedwig weiter.
»Der Lehrer schimpft aber, wenn die Schuhe dreckig sind.« Siggis Mundwinkel zuckten, Hedwig befürchtete, er würde jeden Moment zu weinen beginnen. Sie nahm einen gebrauchten Lappen, machte ihn nass und säuberte die Stiefel notdürftig. Dann forderte sie ihren Bruder auf, sich zu setzen, streifte ihm die Schuhe über und zog die Schnürsenkel fest.
»Jetzt ab mit dir, du bist spät dran, und wenn der Lehrer dich ausschimpft, dann sagst du ihm, dass er sich an mich wenden soll.«
Der Junge schulterte seinen Ranzen und verließ einigermaßen beruhigt das Haus. Hedwig war jedoch kein Moment der Ruhe vergönnt. Jetzt kam Anna die Treppe heruntergerannt, für die Schule fertig angekleidet, und rief: »Du musst zu Mutti, Hedi. Ihr ist heute Nacht ein kleines Malheur passiert ...«, Anna grinste wissend, »ich fürchte, du musst das Laken wechseln.«
Hinter dem Rücken verborgen ballte Hedwig die Hände zu Fäusten. Sie hatte das alles hier so satt, würde am liebsten weit fortlaufen und niemals wieder zurückkommen. Marianne von Kosin, die Gräfin von Duwensee, hatte ihre Arbeit zwar gelobt und stolz ihre neuen Kleider, Röcke und Blusen in ihrem Bekanntenkreis herumgezeigt, und Hedwig hatte auch einige Anfragen erhalten, die meisten hatte sie aber nicht annehmen können. Der Lohn der Gräfin war zwar angemessen gewesen, und Hedwig hatte in den vier Wochen kein Geld für Nahrung benötigt, ihr Vater aber hatte verlangt, die gesamte Summe ausgehändigt zu bekommen. Den Großteil hatte er ins Wirtshaus getragen, hatte großspurig Freunde eingeladen und beim Kartenspiel verloren. So war Hedwig nichts geblieben, von dem sie sich eine eigene Nähmaschine und sonstiges Zubehör hätte kaufen können. Eine Einladung in ein herrschaftliches Haus, wo sie hätte vor Ort nähen können, erfolgte leider kein zweites Mal. So blieben Hedwig wieder nur kleine Änderungen und der Traum einer eigenen Schneiderwerkstatt.
Nachdem Hedwig das Bett ihrer Mutter frisch bezogen und die beschmutzte Wäsche in Seifenlauge eingeweicht hatte, zog sie sich ihre festen Stiefel und den warmen Mantel an, um ihren Kopf band sie ein graues Tuch. Auch wenn sich heute die Sonne am Himmel blicken ließ, war der Wind kalt, und sie wollte sich nicht zusätzlich auch noch eine Erkältung einfangen.
Während sie kräftig ausschritt, erinnerte sich Hedwig daran, wie sie vor acht Jahren schon einmal diesen Weg gegangen war. Hätte sie damals doch nur die Bitte von Erna Ballnus abgeschlagen, eine Lieferung nach Kahlenwald zu bringen. Der Ärger mit ihrer einstigen Lehrherrin wäre ein geringeres Übel gewesen als das, was durch die Begegnung mit Albert von Dombrowski gefolgt war. Sicher, mit Alberts Hilfe hatte sie die Meisterschule besuchen können, heute jedoch haderte Hedwig selbst damit. Was hatte sie denn von den zwei gerahmten Urkunden? Sie hingen an der Wand ihres Zimmers und staubten vor sich hin. Seit Tagen überlegte Hedwig, ob sie Alberts Eltern aufsuchen sollte, es blieb ihr wohl keine andere Wahl. Die würden den genauen Aufenthaltsort ihres Sohnes kennen, und – wie es Hedwig auch drehte und wendete – es blieb ihr nichts anderes übrig, als Albert zu schreiben und ihn um eine Aussprache zu bitten.
Der Wind pfiff durch die noch kahlen Zweige der Eichen, die die lange Allee zum Gut säumten. Als das Gebäude in Sicht kam, stellte Hedwig fest, dass die letzten Jahre an Gut Kahlenwald nicht spurlos vorübergegangen waren. Der Verputz des Hauses bröckelte an vielen Stellen, und die Fenster des Dachgeschosses waren mit Brettern vernagelt. Hedwig zog an dem Klingelzug, und die Tür wurde ihr gleich darauf geöffnet.
»Sie wünschen?«
In den dunkelblonden Haaren von Alberts Mutter zeigten sich die ersten grauen Strähnen, um die Augen und von der Nase bis zum Kinn zogen sich tiefe Falten. Über einem schlichten Kleid aus brauner Wolle trug sie eine fleckige Schürze.
»Guten Tag, gnädige Frau«, grüßte Hedwig freundlich. »Mein Name ist Hedwig Mahnstein, und ich bitte Sie um ein Gespräch.«
»Mahnstein?« Johanna von Dombrowski musterte sie nachdenklich. »Der Name sagt mir nichts, aber Sie kommen mir bekannt vor.«
»Ich habe früher bei Erna Ballnus gearbeitet«, bestätigte Hedwig.
»Ach ja, ich erinnere mich.« Endlich öffnete die Baronin die Tür ganz und ließ Hedwig eintreten. »Die Schneiderin ist doch schon lange fortgezogen. Was wünschen Sie von mir?«
In der Halle mit den schwarz-weißen Bodenfliesen war es ebenso kalt wie draußen. Glücklicherweise führte Johanna von Dombrowski Hedwig in die nebenanliegende Küche, in der ein wärmendes Feuer im Herd brannte.
»Geht es um eine Fleischlieferung?«, fragte die Baronin. »Ich wüsste nicht, dass Sie eine Kundin sind, und ...«
»Ich komme wegen Albert«, platzte Hedwig heraus.
»Albert?« Johanna von Dombrowski sah Hedwig überrascht an. »Woher kennen Sie meinen Sohn?«
»Das ist eine lange Geschichte.« Auf einmal schwankte der Boden unter ihren Füßen und bunte Kreise tanzten vor ihren Augen. Haltsuchend klammerte sie sich an die Tischkante.
»Meine Güte, Sie sind ja kreideweiß!«, rief Alberts Mutter, drückte Hedwig auf einen Stuhl und schenkte ihr ein Glas Wasser ein. Aus zusammengekniffenen Augen beobachtete Johanna, wie Hedwig hastig trank und die Farbe wieder in ihre Wangen zurückkehrte. Dann setzte sie sich Hedwig gegenüber und sagte: »Sagen Sie nicht, dass es das ist, was ich vermute, Fräulein Mahnstein.«
Die herbe Frau hatte einen scharfen Blick. Hedwig senkte den Kopf und nickte kaum merklich.
»Ich möchte Sie bitten, mir die Adresse Ihres Sohnes zu nennen, damit ich ihm schreiben kann.«
»Wie alt sind Sie?«, fragte Johanna anstatt einer Antwort.
»Vor vier Wochen bin ich dreiundzwanzig geworden.«
»Sie sehen jünger aus«, stellte Johanna fest und forderte Hedwig auf: »Erzählen Sie, wie es so weit kommen konnte.«
Hedwig, die mit einer solchen Reaktion nicht gerechnet hatte, berichtete von ihrer ersten Begegnung mit Albert, über das Wiedersehen in Sensburg bis hin zu ihrer gemeinsamen Zeit in Allenstein, und schließlich sprach sie über ihre letzte Begegnung auf Schloss Duwensee. Johanna von Dombrowski hörte ihr stumm zu, nichts in ihrer Mimik verriet, was sie von der Sache hielt. Als Hedwig geendet hatte, stand die Baronin auf, setzte den Wasserkessel auf das Feuer, gab Kaffeepulver in eine Kanne und sagte nur: »Ich glaube, wir brauchen jetzt einen starken Kaffee, und ich werde meinen Mann holen. Sie warten hier, Fräulein Mahnstein.«
Paul von Dombrowski war ein mittelgroßer Mann mit breiten Schultern, einer untersetzten Statur, kräftigen Händen und dicken Fingern. Sein schwarzes, dichtes Haar war an den Schläfen ergraut, der Blick aus seinen Augen ähnelte dem Alberts. Es war das erste Mal, dass Hedwig dem Baron begegnete.
Von seiner Frau über das Wesentlichste informiert, musterte er Hedwig mit gerunzelten, buschigen Augenbrauen und sagte: »Selbstverständlich wird mein Sohn zu seinem Fehler stehen, Fräulein, das heißt, wenn es eindeutig bewiesen ist, dass Albert für diesen Fehler verantwortlich zu machen ist.«
Hedwig benötigte einen Moment, um zu verstehen, was von Dombrowski andeutete, dann rief sie: »Wie können Sie es wagen! In meinem Leben gab es nur einen einzigen Mann, Ihren Sohn Albert!«
»Nun beruhigen Sie sich mal, Fräulein«, sagte Johanna beruhigend. »Wenn Albert es bestätigt, ist alles in Ordnung. Ich werde ihm noch heute telegrafieren und ihn nach Hause beordern, damit wir so schnell wie möglich die Hochzeit vorbereiten können.«
»Ich möchte Ihren Sohn nicht heiraten«, platzte Hedwig heraus.
»Wie bitte?«, fragte Paul von Dombrowski überrascht. »Warum sind Sie dann gekommen? Wollen Sie Geld?« Er lachte bitter und machte eine raumgreifende Handbewegung. »Wenn Sie glauben, bei uns wäre etwas zu holen, nur weil ich einen Adelstitel trage und ein Gut besitze, dann sind Sie auf dem Holzweg. Wir haben selbst nichts.«
»Das ist mir bekannt«, sagte Hedwig leise. »Ich möchte nur mit Albert sprechen, er muss wissen, dass ich sein Kind erwarte, an eine Heirat denke ich jedoch nicht.«
Dies hatte sich Hedwig während ihres Fußmarsches nach Kahlenwald gut überlegt. An ihrer Meinung, Albert wäre als Ehemann eine schlechte Wahl, hatte sich nichts geändert. Auch wenn es bedeutete, als ledige Mutter an den Rand der Gesellschaft geschoben zu werden – die Reaktion ihres Vaters mochte Hedwig sich gar nicht ausmalen –, sie würde es irgendwie hinbekommen und sich nicht in eine Ehe stürzen, die sie unglücklich machen würde.
»Ich werde es nicht zulassen, dass unser guter Name durch den Schmutz gezogen wird«, sagte der Baron. »Er ist das Letzte, das uns geblieben ist, und niemand soll sagen, ein von Dombrowski ließe eine Frau, die sein Kind unter dem Herzen trägt, sitzen. Wir mögen zwar arm sein, haben aber unseren Stolz.«
»Auch wenn wir uns für unseren einzigen Sohn eine bessere Partie gewünscht hätten«, fuhr Johanna fort, »werden wir uns den Tatsachen fügen und versuchen, das Beste aus der Situation zu machen.« Sie stand auf und ging zur Tür, das Zeichen, dass sie die Unterhaltung für beendet hielt. Zum Abschied sagte sie zu Hedwig: »Sobald Albert eingetroffen ist, werden wir mit Ihren Eltern sprechen, Fräulein Mahnstein. Auch wenn Sie blass sind, sehen Sie kräftig aus und so, als könnten Sie arbeiten. In der Fleischerei benötigen wir jede Hand, so wird sich diese leidige Angelegenheit schlussendlich zum Guten wenden.«
»Ich sagte bereits, dass ich nicht heiraten möchte«, beharrte Hedwig, »und ich habe einen Beruf, der mich auslastet, daher ...«
»Wir werden sehen«, schnitt Johanna Hedwig das Wort ab. »Gehen Sie jetzt nach Hause, wir melden uns, sobald wir Nachricht von Albert haben. Bis dahin werden Sie nichts unternehmen, Fräulein Mahnstein. Sie denken doch nicht etwa daran, dieses Kind loszuwerden?«
Ob dieser direkten Worte errötete Hedwig und erwiderte hastig: »Nein, natürlich nicht! So etwas würde ich niemals tun!«
Johanna atmete auf.
»Dann ist es ja gut, und jetzt lassen Sie uns allein. Mein Mann und ich haben viel zu besprechen.«
Hedwig blieb nichts anderes übrig, als zu gehen, sie fragte sich jedoch, ob es eine gute Idee gewesen war, Alberts Eltern aufzusuchen und ihnen alles zu erzählen.
In der guten Stube der Mahnsteins waren sie versammelt: Hedwigs Eltern, Johanna und Paul von Dombrowski und auch Albert, der wie ein Häufchen Elend auf dem Sofa kauerte, den Blick angestrengt auf einen Fleck auf dem Teppich gerichtet. Aufrecht, den Rücken durchgestreckt und das Kinn erhoben, saß Hedwig auf dem Stuhl. Von allen Seiten prasselten Worte auf sie ein, denn ihre und Alberts Eltern hatten sich viel zu sagen.
»Die Hochzeit muss so schnell wie möglich stattfinden«, sagte Hermann Mahnstein, »solange man noch nichts sieht. Natürlich wird jeder wissen, was los ist, wenn Hedwig ein Fünfmonatskind zur Welt bringen wird, dies werden wir eben aushalten müssen.«
»Na ja, solche unangenehmen Vorfälle gibt es häufiger«, stimmte Baron von Dombrowski zu, griff nach dem gefüllten Schnapsglas und kippte dessen Inhalt mit einem Schluck hinunter. Hermann Mahnstein füllte das Glas erneut und schenkte auch sich wieder ein.
»Es kann natürlich nur eine kleine Hochzeit werden«, meldete Auguste Mahnstein sich zu Wort. »Für eine große Feier haben wir kein Geld, und ihr Brautkleid kann Hedwig selbst schneidern.«
»Ebenso den Anzug für Albert«, bemerkte Johanna von Dombrowski. »Sie kann einen alten Anzug meines Mannes umändern.« Erwartungsvoll sah sie Hermann Mahnstein an. »Dann ist da noch die Sache mit der Mitgift zu regeln. Hedwig verfügt doch sicher über eine Aussteuer, nicht wahr?«
»Das ist Sache unter uns Männern«, sagte der Baron und zu Mahnstein gewandt: »Über das Finanzielle spricht es sich am besten bei einem Schnaps.«
Mahnstein nahm die Flasche mit dem Korn zur Hand und schenkte sich und von Dombrowski großzügig ein.
Nachdem er getrunken hatte, sagte Mahnstein: »Eine gewisse Aussteuer an Tisch- und Bettwäsche ist vorhanden, ich sehe mich aber außerstande, eine Mitgift in klingender Münze aufzubringen.«
Die Frau Baronin seufzte. »Das habe ich befürchtet, wir werden uns wohl auch damit abfinden müssen.«
»Dem ansässigen Pfarrer müssen wir die Hintergründe dieser überstürzten Hochzeit verschweigen«, wechselte Auguste das Thema, da ihr das Gespräch über Geld peinlich war. »Aufgrund seiner hohen Moralvorstellung könnte er sich weigern, die Trauung zu vollziehen.«
»Dann gehen wir eben in die Kirche nach Rhein, den dortigen Pfarrer kenne ich persönlich«, sagte Paul von Dombrowski.
Auguste war mit diesem Vorschlag nicht einverstanden und sagte: »Nein, Hedwig soll in der Kirche, in der sie getauft wurde, getraut werden ...«
Hedwig schob so heftig den Stuhl zurück und sprang auf, dass das Möbel polternd zur Boden fiel.
»Könnt ihr aufhören, von mir zu sprechen, als ob ich nicht anwesend wäre? Ihr schachert hier herum, als ginge es darum, eine Kuh zu verkaufen. Fragt denn einer danach, was ich ... war wir wollen?« Sie ging zu Albert und rüttelte ihn an der Schulter. »Albert, sag doch auch einmal was. Du willst mich ebenso wenig heiraten, wie ich dich zum Mann will.«
Sein Blick hatte etwas von einem waidwunden Tier, als er murmelte: »Ach, Hedi, was soll ich denn machen?«
Grimmig zogen sich Hedwigs Mundwinkel nach unten, als sie entschieden sagte: »Albert hat seine Tanzkapelle in Cranz, ich meine Kunden hier in Sensburg. Wo sollen wir denn leben?«
»Selbstverständlich wird Albert künftig mit dir und eurem Kind auf Kahlenwald wohnen«, rief Paul von Dombrowski. »Das mit dieser idiotischen Musik ist endgültig vorbei, ich bereue ohnehin, meine Zustimmung dazu gegeben zu haben.«
»Die Musik ist sein Leben! Sie machen Ihren Sohn damit unglücklich.«
»Dafür hat er selbst gesorgt, indem er dich schwängerte«, bemerkte Johanna trocken, »und wird nun die Konsequenzen tragen. Wenn ihr künftig in der Fleischerei mitarbeitet, können wir vergrößern, sodass es euch an nichts fehlen wird. In unserem Haus ist reichlich Platz, und euch erwarten zwar keine Reichtümer, aber ein solides Auskommen.«
»Na, dann ist ja alles geregelt.« Zufrieden rieb Hermann Mahnstein sich die Hände, und Auguste sagte zu Hedwig: »Du bist alt genug, um zu heiraten und eine Familie zu gründen, Hedi, und du hättest es schlechter treffen können.«
»Wenn du dich weiterhin sträubst, Tochter, dann packst du noch heute deine Sachen und verlässt dieses Haus.« Hermann Mahnsteins Gesichtsausdruck ließ keinen Zweifel an seiner Entschlossenheit, Hedwig auf die Straße zu setzen.
»Albert ...« Hilfesuchend sah Hedwig zu ihm, er wich ihrem Blick jedoch aus. »Es tut mir leid, aber ich brauche frische Luft!«
Wie vom Teufel gehetzt rannte Hedwig aus dem Haus, stolperte die Treppen zur Promenade hinunter und lief am See in Richtung der Stadt entlang. Den Sprühregen, der ihr Gesicht und Haar benetzte, spürte sie nicht, ebenso wenig bemerkte sie die Blicke zweier Passanten, als sie diese anrempelte. Erst als sie die Halbinsel Werder erreicht hatte, kam sie wieder zu sich, sank auf eine Bank und schlug die Hände vors Gesicht. In ihr stritten die unterschiedlichsten Gefühle. Sie könnte in eine andere Stadt gehen, wo sie niemand kannte. Nach Allenstein, Nikolaiken oder sogar nach Königsberg, sich als Witwe ausgeben und versuchen, dort Arbeit zu finden. In Königsberg lebte zwar Paula, aber Hedwig bezweifelte, dass ihre Schwester sie bei sich aufnehmen würde, im Gegenteil. Paula würde es eine diebische Freude bereiten, dass Hedwig in eine solche Situation geraten war, außerdem war sie seit einigen Monaten verlobt und ihr Zukünftiger, ein in der Stadt angesehener Oberstudienrat, würde ein gefallenes Mädchen in seiner Umgebung nicht dulden.
Hedwig sah zu der Villa der Familie Wichmann hinüber. Sie sehnte sich danach, mit Luise sprechen zu können. Diese war aber vor drei Wochen zusammen mit Frau Wichmann und den Kindern nach Posen gereist, da sich deren Mutter die Hüfte gebrochen hatte und Pflege benötigte. Mehrmals hatte Hedwig versucht, ihrer Schwester zu schreiben, die Briefe aber jedes Mal wieder zerrissen, weil es ihr nicht gelang, die richtigen Worte zu finden. Luise würde sie nicht verurteilen oder gar schlecht von ihr denken, würde aber nicht verstehen, warum Hedwig sich weigerte, Albert zu heiraten. Eigentlich wusste sie selbst nicht genau, warum sie einer Ehe derart ablehnend gegenüberstand. Viele Ehen wurden aus einem solchen Grund geschlossen, sie waren nicht besser oder schlechter als tausend andere. Sie mochte Albert von Herzen, und sie empfand auch eine gewisse Leidenschaft für ihn. Wenn sie seine Frau werden würde, könnte sie versuchen ihm zu helfen, dass er weiterhin als Musiker tätig sein konnte, und vielleicht sah sie dem Leben auf Gut Kahlenwald wirklich zu düster entgegen. Sicher würde es ihr gelingen, auch dort als Schneiderin tätig zu sein, auch wenn es für die Kundschaft der Stadt einen weiteren Weg bedeutete.
Hedwig legte eine Hand auf ihren Bauch, der sich langsam zu runden begann. Sie freute sich auf das neue Leben in ihrem Körper und fragte sich, ob es ein Mädchen oder ein Junge werden würde. Auf jeden Fall würde das Kind etwas sein, das ihr ganz allein gehörte, auf das ihr Vater keinen Einfluss haben würde und dem sie ihre ganze Liebe geben könnte.
Sie stand auf, wischte sich über das vom Regen feuchte Gesicht und blickte über das Wasser. Sie war mit dem See und mit Sensburg fest verwurzelte, hatte während ihrer Zeit in Allenstein die Heimat schmerzlich vermisst und konnte sich nicht vorstellen, woanders zu leben. Langsam, einen Fuß vor den anderen setzend, ging sie zurück. Als ihr Elternhaus, aus dessen Kamin Rauch aufstieg, in Sicht kam, hatte sie den Entschluss gefasst, Albert von Dombrowski zu heiraten.