Читать книгу Der Weg der verlorenen Träume - Rebecca Michéle - Страница 7
ZWEI
ОглавлениеZwei Wochen später war es amtlich: Kaiser Wilhelm II. hatte abgedankt und Deutschland war nicht länger eine Monarchie, sondern eine Republik. Noch waren von dieser gravierenden Veränderung in Sensburg keine Auswirkungen zu bemerken, und für Hedwig war es ohnehin von größerer Bedeutung, dass Anna ihre Erkältung überwunden hatte und auf dem Weg der Besserung war.
Nahezu über Nacht hatte der Winter in Masuren Einzug gehalten. Bereits am Nachmittag mussten die Lampen angezündet und das Feuer im Kamin geschürt werden. Schneeweiß waren die Birkenwälder, die Hügel und Täler, die Flüsse gefroren, und auf dem Schoß-See hatte sich eine Eisschicht gebildet. Noch war das Eis nicht dick genug, dass die Kinder ihre selbst gebastelten Schlittschuhe anschnallen und im schnellen Rausch über den See flitzen konnten. Auch Fritz und Anna mussten sich in Geduld üben, bei dem anhaltenden Frost würde es aber nicht mehr lange dauern, bis der See für die Kinder zum Tummelplatz werden würde. Auf der gegenüberliegenden Landzunge, die einer Insel gleich in den See ragte, gab es einen Hügel, auf dem die Kinder Schlitten fuhren. Allgemein wurde diese Erhebung Kilimandscharo genannt, wobei niemand wusste, wie der Hügel zu einer solch ausgefallenen Bezeichnung gekommen war, hatte er doch mit dem Berg in Afrika nichts gemein.
Obwohl Hedwig die heißen, hellen Sommertage lieber mochte, hatte der Winter auch seinen Reiz. Masuren lag wie unter einer friedvollen Glocke, das Leben schritt langsamer voran, an den Abenden saß die Familie in der Küche zusammen, und man erzählte sich gegenseitig Märchen und Geschichten aus längst vergangenen Tagen. Bald war der 1. Advent und die besinnliche Vorweihnachtszeit brach an. Das erste Christfest nach dem schrecklichen Krieg. Hedwig wollte das Haus besonders hübsch schmücken und jede Menge Köstlichkeiten zubereiten. Für ihre Geschwister gab es nichts Schöneres, als an den Samstagnachmittagen Plätzchen auszustechen und Pfeffernüsse, Lebkuchen und Stollen zu backen. Im Haus Mahnstein gab es nur wenige und nützliche Geschenke. Aus Stoffresten, die Fräulein Ballnus ihr überlassen hatte, fertigte Hedwig Röcke, Blusen und Hemden für die Geschwister, für die Mutter häkelte sie eine Stola, der Vater erhielt zum Fest ein Paar gestrickte Strümpfe aus dicker Wolle. Die Mahnsteins waren nicht arm, aber auch nicht vermögend. Das Gehalt, das Hermann Mahnstein als Polizeibeamter verdiente, reichte zwar aus, dass Schmalhans nie Küchenmeister war, dennoch hielt Auguste Mahnstein die Pfennige zusammen und verabscheute Verschwendung und unnötige Ausgaben.
Es war noch dunkel, als Hedwig sich den Schnee vom Mantel klopfte und ihre Schuhe auszog, bevor sie die Schneiderwerkstatt ihrer Lehrherrin betrat. Eigentlich war es gar keine richtige Werkstatt, sondern nur ein kleines, quadratisches Zimmer neben Erna Ballnus´ Küche in deren Wohnung neben der evangelischen Kirche: an den Wänden Regale mit Stoffballen und Bändern, in Schubladen bunte Garne und Knöpfe in allen Formen und Größen, in der Mitte der wuchtige Schneidertisch und zwei Nähmaschinen aus schwarz-glänzendem Metall.
»Guten Morgen, Fräulein Ballnus«, grüßte Hedwig.
»Guten Morgen, Hedwig«, erwiderte die Schneiderin und schob Hedwig eine Tasse mit Kamillentee hin. »Trink, der Tee ist heiß und deine Nase rot von der Kälte.«
»Die taut gleich wieder auf. Dankeschön.«
Hedwig lachte und nippte an dem Tee. Jeden Morgen begrüßte Fräulein Ballnus sie mit einem Tee, und mittags bekam sie ein Butterbrot, manchmal auch mit Speck darauf. Nachdem ihr warm geworden war, griff Hedwig nach einem Mantel, dessen Kragen gewendet und neu gefasst werden musste. Gestern hatte sie mit der Arbeit begonnen und wollte sie heute fertigstellen. Fräulein Ballnus nahm ihr jedoch den Mantel aus der Hand und sagte:
»Du musst heute etwas zustellen, bei der Kälte schmerzen meine Knie so sehr, dass ich kaum laufen kann.«
Hedwig nickte. Obwohl Erna Ballnus die Fünfzig noch nicht erreicht hatte, saß ihr das Rheuma in den Knochen. Beim Gehen musste sie sich häufig auf einen Stock stützen, was bei den vereisten Wegen beschwerlich war. Dunkle Schatten unter Fräulein Ballnus´ grauen Augen zeugten davon, dass sie in der letzten Nacht wegen der Schmerzen nur wenig, wenn überhaupt, geschlafen hatte. Nicht alle Kunden kamen in die Schneiderwerkstatt, einige suchte Erna Ballnus auch in der heimischen Umgebung auf und lieferte die fertigen Kleidungsstücke in deren Häuser und Wohnungen aus.
Sie humpelte zu einem Regal, in dem ein in braunes Papier eingeschlagenes Päckchen lag, darauf ein Rechnungszettel, und drückte beides Hedwig in die Arme.
»Du musst aber bis nach Kahlenwald raus, Hedwig«, sagte sie bedauernd.
»Nach Kahlenwald?«, wiederholte Hedwig erstaunt. »Zu der Frau Baronin?«
Fräulein Ballnus nickte. »Ich habe versprochen, das Kleid heute zu liefern. Ich wäre ja selbst gegangen, aber ...« Bedeutungsvoll klopfte sie gegen ihr linkes Knie.
»Mein Mantel ist warm, meine Schuhe fest«, erwiderte Hedwig fröhlich. »Ich scheue das Wetter nicht, wusste aber nicht, dass Sie auch für die Frau Baronin nähen.«
»Es ist erst die dritte Anfertigung und wahrscheinlich auch die letzte.« Ein grimmiger Zug bildete sich um ihre Mundwinkel, als Fräulein Ballnus fortfuhr: »Bestehe darauf, dass die Baronin dir das Geld sofort aushändigt. Wenn sie es nicht in bar hat und Ausflüchte vorbringt oder dir als Bezahlung gar Fleisch oder Wurst anbietet, dann bringst du das Kleid wieder zurück. Zweimal habe ich sie schon anschreiben lassen und meine Not gehabt, den Lohn zu erhalten. Baronin hin oder her, ich möchte für meine Arbeit bezahlt werden, und zwar nicht erst nach Wochen oder Monaten.«
Hedwig war dem Baron und der Baronin von Dombrowski bisher nie begegnet, denn diese waren erst im letzten Sommer in das alte Rittergut Kahlenwald eingezogen. Zuvor hatte das Haus einige Monate leer gestanden, nachdem der letzte Besitzer im Krieg geblieben war. Der jetzige Baron war ein entfernter Vetter aus Stettin und der einzige Erbe. Obwohl Hedwig sich nicht für Klatsch interessierte, hatte sie die Leute reden hören, dass die von Dombrowskis bereits seit drei Generationen verarmt waren, der gesamte Landbesitz längst veräußert war, und das Gutshaus befand sich in einem erbärmlichen Zustand. Den Lebensunterhalt verdiente der Baron als Fleischer, eine Tätigkeit, der er in Stettin nachgegangen war, aber seine Frau hielt die Nase so hoch, als würden sie mit dem Kaiser persönlich verkehren und regelmäßig bei den adligen Großgrundbesitzern Masurens ein- und ausgehen. Ihre Fleisch- und Wurstwaren kauften die Mahnsteins nicht auf Kahlenwald, da es zu weit außerhalb lag. Auf dem Wochenmarkt bot der Baron seine Waren ebenfalls an, Hedwig hatte dem Stand aber nie Beachtung geschenkt.
Hedwig schritt zügig aus, um der klirrenden Kälte zu trotzen. Gut Kahlenwald lag zwei Kilometer westlich der Stadt in Richtung des Gielandsees. Nachdem sie die letzten Häuser passiert hatte, begann die lange Allee aus zum Teil mehrere hundert Jahre alten Eichen. Nach einer leichten Biegung nach links bog Hedwig in einen Trampelpfad ein, der unter den Schneemassen kaum zu erkennen war. Erna Ballnus hatte ihr aber genau beschrieben, welchen Weg sie einschlagen musste. Es begann wieder zu schneien, und die dichten, großen Flocken setzten sich auf Hedwigs Mütze. Eine traf ihre Nasenspitze, und Hedwig versuchte, sie mit der Zungenspitze zu fangen. Um sie herum war es totenstill, auf dem Weg gab es keine Wagen- oder Fußspuren, ein Zeichen, dass sie heute wohl die erste Besucherin auf Gut Kahlenwald sein würde. Hedwig passierte ein verfallenes Vorwerk, durch dessen dunkle Fensterhöhlen der Wind wie ein Rudel hungriger Wölfe heulte. Hedwig beschleunigte ihre Schritte, sie wollte diesen Auftrag so schnell wie möglich erledigen. Endlich kam das Haus in Sicht. Es war nahezu quadratisch, hatte drei Stockwerke und ein Krüppelwalmdach, in das Fledermausgauben eingelassen waren. Linker Hand erkannte Hedwig drei langgestreckte niedrige Gebäude mit leeren Fensterhöhlen und eingesunkenen Dächern. Offenbar die früheren Stallungen, dachte sie, und das Gerücht, die von Dombrowski besäßen kein Vermögen, bestätigte sich, denn über dem ganzen Anwesen lag der Hauch der Verwahrlosung.
An der Eingangstür aus massivem, dunklem Eichenholz zog Hedwig an der altmodischen Klingelschnur. Als sich nach einigen Minuten nichts rührte, zog sie ein zweites, dann ein drittes Mal, dann drehte sie am Knauf, die Tür war jedoch verschlossen. Unwillig runzelte Hedwig die Stirn. Nach dem langen Fußmarsch durch den Schnee hatte sie sich auf eine heiße Tasse Tee oder Gemüsebrühe gefreut. Es war ein ungeschriebenes Gesetz in Masuren, jedem Gast – gleichgültig, mit welcher Mission er kam – aufzuwarten, bevor er seinen Rückweg antrat. Hedwig dachte an die mahnenden Worte ihrer Lehrherrin, auf keinen Fall ohne das Bargeld für die Schneiderarbeit zurückzukehren, und das Päckchen konnte sie ohnehin nicht einfach vor die Tür legen, wo es der Witterung ausgesetzt wäre. Mit einem Seufzer umrundete sie das Haus und stieß an der Rückseite auf eine zweite Tür. Hier gab es keinen Klingelzug. Hedwig drückte auf die Klinke. Sie hatte Glück, diese Tür war nicht abgeschlossen. Dahinter erstreckte sich ein düsterer Gang mit einer niedrigen Decke. Hedwig vermutete, dass es sich um den ehemaligen Dienstboteneingang handelte und der Korridor einst zu den Wirtschaftsräumen geführt hatte.
»Ist jemand zu Hause?«, rief Hedwig. »Ich habe eine Lieferung aus der Stadt abzugeben.«
Sie erhielt keine Antwort, das Haus schien verwaist zu sein. Entschlossen trat Hedwig ein. Es würde ihr nichts anderes übrig bleiben, als das Kleid hier im Trockenen abzulegen. Fräulein Ballnus würde ihr schon nicht den Kopf abreißen, wenn sie erklärte, niemanden angetroffen und das Geld deswegen nicht mitgebracht zu haben. Auf der Suche nach einem geeigneten Platz ging Hedwig zögernd den Korridor entlang. Sie fühlte sich nicht wie ein Eindringling, denn nur wenige Menschen in Masuren verschlossen ihre Häuser. Die Besitztümer anderer wurden respektiert und geachtet, man fürchtete keine Spitzbuben oder gar Diebe. Am Ende des Ganges klangen einzelne musikalische Töne an Hedwigs Ohr. Jemand spielte Klavier, aber kein ganzes Stück, sondern ein paar Töne wurden angeschlagen, dann eine Pause, und das Geklimper begann von vorn. Es musste sich also doch jemand im Hause befinden. Wegen des Klavierspiels war ihr Klingeln wohl nicht gehört worden. Erleichtert atmete sie auf und folgte den Tönen. Hedwig gelangte durch eine Vorhalle in die Eingangshalle, die bis auf einen wackligen Tisch und zwei Stühle unmöbliert war. Die Tapeten an den Wänden waren verblasst, das Muster kaum noch zu erkennen, der Boden aus schwarz-weißen Marmorfliesen zeugte aber von dem einstigen Reichtum der Eigentümer. Die Musik kam aus dem ersten Stock, und Hedwig stieg die steinerne, schmucklose Treppe hinauf. Die Tür zu dem ersten Zimmer auf der rechten Seite war nur angelehnt.
»Guten Tag, ist hier jemand?«, rief Hedwig und stieß die Tür ganz auf. Ein junger Mann saß an einem Klavier. Bei Hedwigs Anblick zuckte er zusammen und sprang hastig auf. »Ich wollte Sie nicht erschrecken, verzeihen Sie«, sagte Hedwig. »Ich habe mehrmals geläutet und gerufen.«
Der Mann kam näher und runzelte nachdenklich die Stirn. »Kennen wir uns nicht?«
»Nicht, dass ich wüsste«, stieß Hedwig hervor, etwas zu schnell, denn sie hatte den Mann auf den ersten Blick wiedererkannt: Es war der Klavierspieler aus dem Wirtshaus, auf dessen Schoß sie gesessen und der sie umarmt hatte. Ihre Wangen brannten vor Scham. Sie hoffte, er würde die Röte auf die draußen herrschende Kälte zurückführen.
»Ich könnte wetten, wir sind uns schon mal begegnet. Ein so hübsches Gesicht vergesse ich niemals.« Er deutete eine Verbeugung an, und Hedwig erwiderte: »Fräulein Ballnus, die Schneiderin in der Stadt, schickt mich. Ich habe der Frau Baronin ein Kleid abzuliefern.«
Sie hielt ihm das Paket hin, er warf aber keinen Blick darauf. Seine haselnussbraunen Augen wanderten über Hedwig, und mit einem Lächeln fragte er: »Und Sie sind?«
»Fräulein Mahnstein, ich arbeite bei Fräulein Ballnus.«
»Sie haben bestimmt auch einen Vornamen, Fräulein Mahnstein?«
»Der Sie nicht zu interessieren hat.« Distanziert musterte sie ihn und fuhr fort: »Sie hatten selbst noch nicht die Freundlichkeit, sich vorzustellen.«
Er lächelte, legte formvollendet eine Hand in seinen Rücken und verbeugte sich, ein spitzbübisches Lächeln auf den Lippen.
»Albert von Dombrowski, der Sohn des Hauses. Na ja, sagen wir mal: Das schwarze Schaf der Familie, da ich aber der einzige Sohn bin und meine Eltern mich nicht umtauschen können, haben sie sich mit mir abgefunden.«
Unwillkürlich musste Hedwig über eine solch entwaffnende Ehrlichkeit lachen. Aus der Nähe und bei Tageslicht betrachtet erkannte sie, dass ihr erster Eindruck sie nicht getäuscht hatte. Auch wenn seine Worte altklug klangen, war er erst sechzehn, maximal siebzehn Jahre alt.
»Was ist nun mit dem Päckchen?«, sagte sie und wich seinem Blick aus. »Kann ich bitte die gnädige Frau sprechen?«
Er zuckte mit den Schultern und erwiderte: »Es tut mir leid, meine Eltern sind nach Allenstein gefahren, vor morgen Nachmittag erwarte ich sie nicht zurück. Sie können die Lieferung aber mir überlassen, ich versichere Ihnen, sie meiner Mutter alsbald auszuhändigen.«
»Ich bekomme sechs Mark, die Rechnung habe ich mitgebracht.«
»Sechs Mark? So viel Geld habe ich nicht.« Er griff in seine Hosentaschen und drehte sie nach außen. »Bitte, Sie können sich selbst davon überzeugen, Fräulein Mahnstein.«
»Ich habe Anweisung, das Kleid nur gegen Barzahlung abzuliefern«, beharrte Hedwig, sein Verhalten erschien ihr übertrieben theatralisch, und sie empfand die Situation alles andere als lustig. »Dann war der weite Weg umsonst«, fügte sie mit einem Seufzer hinzu und wandte sich zur Tür.
Mit einem Schritt war er an ihrer Seite und legte eine Hand auf ihren Arm.
»Warten Sie, ich denke, meine Mutter möchte das, was immer sie sich hat anfertigen lassen, gern vorliegen haben, wenn sie nach Hause kommt. In den nächsten Tagen wird sie in die Stadt kommen und die ausstehende Summe begleichen.«
So, wie zweimal zuvor, dachte Hedwig. Eben noch hatte sie daran gedacht, das Kleid irgendwo abzulegen und ohne das Geld zurückzugehen, da jetzt aber jemand im Haus war, wollte sie das Versprechen gegenüber ihrer Lehrherrin einhalten.
»Es tut mir leid, Fräulein Ballnus besteht auf Barzahlung«, sagte sie entschlossen. »Richten Sie der gnädigen Frau bitte aus, sie kann das Kleid jederzeit in der Schneiderwerkstatt abholen.«
Er sah ein, dass es ihm nicht gelingen würde, Hedwig zu überzeugen, und fragte: »Wie kommen Sie in die Stadt zurück, Fräulein ohne Vornamen?«
Sie hob eine Augenbraue. »Zu Fuß, so, wie ich auch hergekommen bin.«
»Ich könnte Sie fahren.« Er sah ihr Erstaunen, grinste und nahm ihre Hand, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt. »Komm mit!«
Hedwig ließ sich von ihm aus dem Zimmer ziehen, rief dann aber: »Das Kleid!«
»Leg es hier hin, ich verspreche, meine Mutter wird die Rechnung unverzüglich begleichen.« Unwillkürlich war Albert von Dombrowski zum vertraulichen Du übergegangen, was Hedwig in Anbetracht, dass sie fast gleichaltrig waren, nicht störte.
Sie folgte ihm durch die Halle und den Haupteingang ins Freie, überquerte den Hof und betrat einen Stall, der im Gegensatz zu den anderen Gebäuden einen noch stabilen Eindruck machte. Als Hedwig eintrat, schlug ihr warme, nach Pferdemist riechende Luft entgegen. In einer der sechs Boxen stand ein Pony, das bei dem Besuch den Kopf hob und freudig wieherte. Albert tätschelte den Hals des Pferdes, wandte sich zu Hedwig um und sagte: »Das ist Troja, sie wird uns in die Stadt bringen.«
»Troja? Das ist ein seltsamer Name für ein Pferd.«
»Ich war dabei, als sie geboren wurde, und da ich gerade ein Buch über die Schöne Helena gelesen hatte, erschien mir dieser Name passend.«
Hinter dem Stall stand ein Schlitten mit zwei Sitzplätzen. Mit geübten Handgriffen spannte Albert das Pony ein, aus dessen Nüstern stieg der Atem in kleinen Dampfwolken hervor. Er half Hedwig, einzusteigen, wickelte sie sorgfältig in ein wärmendes Fell und legte zusätzlich eine Wolldecke über ihre Beine.
»Hast du es bequem und frierst du auch nicht?«, fragte er.
Hedwig nickte. Nie zuvor war sie in einem Pferdeschlitten gefahren. Manchmal sah man Schlitten in Sensburg dahingleiten, die Insassen in dicke, kostbare Pelze gekleidet, denn nur Vermögende konnten sich ein solches Gefährt leisten. Sie dachte an die Bemerkung von Fräulein Ballnus, die von Dombrowskis wären verarmt und das, was sie, Hedwig, von dem Haus gesehen hatte, bestätigte diesen Eindruck. Als hätte Albert ihre Gedanken erraten, sagte er, als er den Schlitten auf die Allee lenkte:
»Für Troja habe ich gekämpft, um sie behalten zu können. Weißt du, dass unsere Familie in Stettin ansässig war, bevor wir hierherzogen?« Hedwig nickte, und er fuhr fort: »Mein Vater hätte nie geglaubt, Kahlenwald und den Titel zu erben, war er doch nur ein Cousin zweiten Grades des einstigen Barons. Das Schicksal wollte es aber, dass die anderen Linien ausstarben, und Vater ist nun der Letzte. Allerdings haben wir nicht mehr als das Haus und die Nebengebäude. Der einst weitreichende Landbesitz wurde bereits vor Jahrzehnten veräußert. Deswegen arbeitet mein Vater als Fleischer, wozu im Haus ausreichend Platz vorhanden ist. Nicht gerade das, womit sich ein Baron üblicherweise beschäftigt. Die Zeiten, in denen sich der Adel von allein ernährt, sind jedoch vorüber und die Zukunft wird noch schwieriger werden. Bald werden alle Großgrundbesitzer um ihr finanzielles Überleben kämpfen müssen. Die Zeit der Jagden und rauschenden Feste wird dann vorbei sein.«
»Bist du etwa ein Kommunist?«
»Nein, nur Realist.«
»Warum erzählst du mir das?«, fragte Hedwig. »Deine Familienverhältnisse gehen mich nichts an.«
Albert betrachtete sie mit einem Seitenblick, den Hedwig nicht deuten konnte. In ihm lagen sowohl Spott, Belustigung, aber auch eine gewisse Taxierung ihrer Person.
»Ich hoffe, dich in Zukunft häufiger zu sehen«, sagte er mit einer offenen Selbstverständlichkeit.
Unwillkürlich begann Hedwigs Herz schneller zu schlagen. Den kalten Fahrtwind spürte sie nicht mehr, ihr Gesicht war glühend heiß. Sie betrachtete seine Hände, die sicher und ruhig die Zügel führten. Albert trug dunkle Wollhandschuhe, zuvor hatte sie aber bemerkt, dass seine Hände schmal, seine Finger lang und dünn mit kurzen, gepflegten Nägeln waren. Finger, die, Schmetterlingsflügeln gleich, über Klaviertasten huschten.
»Du bist Musiker?«, fragte sie, um irgendetwas Neutrales zu sagen.
»Ich wäre es gern.« Er seufzte und zuckte mit den Schultern. »Am liebsten würde ich von früh bis spät Musik machen und die Menschen unterhalten. Ich fühle mich für die Bühne geboren. Mein Vater ist alles andere als begeistert. Er meint, wenn ich schon nicht die Fleischerei übernehmen will, was ich auf gar keinen Fall machen werde, soll etwas anderes Anständiges aus mir werden. Die letzten zwei Jahre verbrachte ich auf einer Militärschule bei Stettin. Dort bin ich aber im Herbst rausgeflogen, deswegen bin ich jetzt hier.«
»Warum haben sie dich aus der Schule geworfen?«
Ein belustigendes Zwinkern zuckte in seinen Augenwinkeln. »Hätte der Krieg noch länger gedauert, wäre ich nach Weihnachten ins Feld geschickt worden. Ich wollte aber nicht kämpfen, außerdem war es jedem bewusst, dass der Krieg verloren war, nur wollte es niemand aussprechen. So habe ich mit meinem Vorgesetzten einen Streit provoziert, in Folge dessen ich ihn ohrfeigte, was zu meiner sofortigen Entlassung führte.«
Hedwig zog erschrocken die Luft ein und stieß hervor: »Dafür hätten sie dich erschießen oder zumindest in den Kerker sperren können!«
»Das Risiko bin ich eingegangen, es führte ja zu dem Ziel, das ich hatte.« Albert von Dombrowski sprach mit einem spöttischen Unterton, als wäre das alles ein riesengroßer Spaß. Hedwig vermutete, er war ein Mensch, der das Leben nicht sehr ernst nahm.
»Hältst du mich jetzt für einen Feigling, weil ich mein Vaterland nicht verteidigen und an dem sinnlosen Gemetzel nicht teilhaben wollte?« Albert sah sie mit einem Blick an, als wäre ihm Hedwigs Meinung wichtig.
»Niemand ist ein Feigling, der es ablehnt, Menschen zu töten«, antwortete Hedwig im Brustton der Überzeugung und fragte: »Was wirst du jetzt machen?«
Ein erneutes Schulterzucken. »Auf keinen Fall werde ich Tiere ausnehmen und in ihre Einzelteile zerlegen, sondern ich strebe ein Musikstudium an. Im Moment fehlt mir noch das nötige Kleingeld, es wird sich aber ein Weg finden.«
Unwillkürlich legte Hedwig ihre Hand auf seinen Arm. »Da bin ich ganz sicher! Du spielst wunderbar, und ich wünsche dir, dass du ein erfolgreicher Musiker werden wirst.« Sie hatte die Worte ganz ernst gesagt und meinte sie ehrlich, denn Hedwig spürte, dass in dem jungen Mann mehr Potenzial steckte, als sein Leben als Metzger zu verbringen.
Hedwig bat Albert, am Stadtrand anzuhalten. »Den Rest gehe ich zu Fuß.«
Er nickte und erwiderte: »Ich verstehe, du willst nicht, dass die Leute sehen, wie du wie eine große Dame in einem Schlitten vorfährst.« Hilfsbereit reichte er ihr seine Hand beim Aussteigen, hielt diese dann länger als notwendig fest. »Verrätst du mir nun deinen Vornamen?«
»Hedwig, meine Familie und Freunde nennen mich Hedi.«
»Dann werde ich dich auch Hedi nennen, denn ich glaube, wir sind jetzt Freunde. Wir sehen uns bald wieder, Hedi, ich weiß ja jetzt, dass ich dich bei der Schneiderin finden kann.«
Rasch entzog sie ihm ihre Hand und lief davon, musste sich aber beherrschen, sich nicht noch einmal umzudrehen und zu Albert von Dombrowski zurückzublicken.
Wie erwartet reagierte Erna Ballnus ungehalten, als sie erfuhr, dass ihr Lehrmädchen ohne das Geld zurückgekommen war. Mit hängenden Schultern stand Hedwig vor ihr und murmelte: »Die Frau Baronin ist verreist, und der Sohn hatte nicht so viel Geld im Haus.«
»Die Dombrowskis haben nie Geld im Haus!«, wetterte Fräulein Ballnus. »Nun kann ich wieder zusehen, wie ich zu meinem Geld komme, wenn ich es überhaupt erhalte. Ich hätte größte Lust, dir den Betrag von deinem Lohn abzuziehen. Es war definitiv das letzte Mal, dass ich für die Dombrowski etwas genäht habe, ich muss schließlich auch sehen, wie ich über die Runden komme.«
»Ich kann am Wochenende noch mal nach Kahlenwald gehen und das Geld holen«, bot Hedwig an, nicht ohne Hintergedanken. Sie hätte dann einen Grund, Albert wiederzusehen. »Vielleicht kommt die Frau Baronin aber wirklich morgen in die Stadt und begleicht ihre Schulden.«
»Ja, sicher, und in diesem Jahr fallen Weihnachten und Ostern zusammen auf einen Tag«, brummte Erna Ballnus verstimmt.
Hedwig schämte sich, die Anweisung ihrer Lehrherrin nicht in aller Konsequenz umgesetzt zu haben. Sie hätte das Kleid niemals in Kahlenwald lassen dürfen, hatte sie doch mit eigenen Augen gesehen und von Albert selbst gehört, wie es um die Finanzen der von Dombrowskis bestellt war. Wie ein dummes Mädchen hatte sie sich von seinen freundlichen Worten und seinen warmen Blicken einlullen lassen. Das würde ihr nicht noch einmal passieren.
»Säume die Manschetten an der blauen Bluse«, wies Erna Ballnus sie nun an, »und keine Sorge, ich ziehe dir den Betrag nicht vom Lohn ab. Das nächste Mal hältst du dich daran, was ich dir auftrage, Hedwig.«
Sie versprach, es zu tun.
Gegen sechs Uhr kam Hedwig nach Hause, bereitete das Abendbrot zu und deckte den Tisch. Als alle beisammensaßen, sagte die zwölfjährige Paula unvermittelt: »Hedi ist heute mit einem Pferdeschlitten spazieren gefahren und war in dicke Pelze eingepackt.«
Der Löffel entglitt Hedwigs Fingern und klirrte auf den Tellerrand. Die Augen des Vaters verengten sich, und er fragte: »Was hat das zu bedeuten, Hedwig? Warst du etwa nicht bei der Arbeit?«
»Fräulein Ballnus schickte mich, ein Kleid auszuliefern«, antwortete Hedwig und hielt dem bohrenden Blick ihres Vaters stand. Sie hatte nichts Unrechtes getan oder gar etwas zu verbergen. »Der Sohn des Hauses war so freundlich, mich im Schlitten mitzunehmen, da er ohnehin in die Stadt musste.« Das war zwar geschwindelt, klang aber logisch.
»Wer in aller Welt besitzt in der Gegend einen Pferdeschlitten?«, fragte Auguste Mahnstein. »Wo bist du gewesen, Tochter?«
»Auf Gut Kahlenwald.«
»Bei den von Dombrowskis?«
»Du kennst sie, Vater?«
Er nickte und antwortete grimmig: »Sie sind zugezogen, ich bin dem Baron ein paar Mal begegnet. Ein grobschlächtiger Mann, na ja, das passt zu seiner Tätigkeit.«
»Hedi saß aber mit einem jungen Mann im Schlitten«, rief Paula dazwischen
»Sei doch still«, zischte Hedwig ihr zu, die Schwester aber fuhr triumphierend fort: »Und der sah sehr gut aus.«
Langsam erhob sich Hermann Mahnstein, stützte die Handflächen auf die Tischplatte, runzelte die buschigen Augenbrauen und sagte missbilligend: »Ich verbiete dir, dich mit Männern herumzutreiben! Du bist noch ein halbes Kind und wirst die Familie nicht in Verruf bringen!«
»Albert von Dombrowski war nur so freundlich, mich bei der Kälte den weiten Weg nicht zu Fuß zurückgehen zu lassen«, erwiderte Hedwig mit einem trotzigen Unterton. »Es war helllichter Tag, ich habe einen Auftrag meiner Lehrherrin ausgeführt, und Albert ist kein Mann, sondern ein Junge in meinem Alter.«
»Ach, du nennst ihn schon Albert?« Hermann Mahnstein kam um den Tisch herum und baute sich vor Hedwig auf. »Du wirst dich von diesen Leuten fernhalten, Tochter. Hast du das verstanden?«
Hedwig nickte. Sie kannte ihren Vater gut genug, um an seinem Gebaren zu erkennen, wann es besser war, keine Widerworte zu geben. Da sagte ihre Mutter mit ihrer leisen, zarten Stimme: »Hermann, schimpf nicht mit ihr. Nach diesem Krieg können wir froh sein, wenn es noch junge Männer gibt, die alle Gliedmaßen besitzen und nicht blind, taub oder sonst was sind. Hedwig wird immerhin bald sechzehn, und ...«
»Viel zu jung, um sich mit Männern zu verabreden«, schnitt Hermann seiner Frau das Wort ab. »Meinen Standpunkt habe ich wohl deutlich klargemacht. Wen Hedwig einmal zum Mann nimmt, bestimme immer noch ich, und jetzt möchte ich in Ruhe mein Abendbrot essen.«
»Meine Güte, ich habe nicht vor, Albert von Dombrowski zu heiraten!«, rief Hedwig aufgebracht. »Macht doch bitte kein Drama aus einer gerade mal zwanzig Minuten dauernde Schlittenfahrt! Vater, ich weiß, was sich gehört, und werde euch keine Schande bereiten.«
Der Blick, mit dem ihr Vater sie bedachte, sagte Hedwig, dass er sich dessen keineswegs sicher war.
Zwei Tage später berichtete Erna Ballnus, die Baronin von Dombrowski habe sie am Abend des Vortages aufgesucht und die ausstehende Rechnung auf Heller und Pfennig beglichen.
»Das hat mich überrascht, aber vielleicht war ich in meinem Urteil zu voreilig«, bemerkte die Schneiderin nachdenklich. »Die Frau Baronin drückte ihr Bedauern aus, nicht persönlich anwesend gewesen zu sein, um das Kleid in Empfang zu nehmen und die Rechnung sofort zu bezahlen.«
»Das freut mich«, erwiderte Hedwig, gleichzeitig empfand sie auch ein wenig Bedauern, denn nun hatte sie keinen Grund mehr, Gut Kahlenwald aufzusuchen. Obwohl Hedwig sich sagte, dass der junge Dombrowski sie nichts anginge und seine Worte nur so dahingesagt waren – wahrscheinlich verhielt er sich allen einigermaßen hübschen Mädchen gegenüber ähnlich –, ließ sie am Sonntag beim Gottesdienst ihren Blick über die Leute schweifen in der Hoffnung, ihn in der Kirche zu entdecken. Vom Gut Kahlenwald suchte aber keiner das Gotteshaus auf, und Hedwig fragte sich, ob die von Dombrowskis entweder nicht gläubig waren oder zu der Minderheit der Katholiken gehörten, die die Messe in einer anderen Kirche besuchten.
Die Evangelische Pfarrkirche war von außen ein schmuckloser Bau aus dem frühen 18. Jahrhundert, der graue Stein aber hatte den verheerenden Stadtbrand im Jahr 1822 beinahe unbeschädigt überstanden. Unmittelbar nachdem der preußische König der Reformation anhing, wurde auch Masuren lutherisch. Die katholische St.-Adalbert-Kirche aus roten Backsteinen befand sich nur ein kurzes Stück östlich die Straße hinunter und war erst vor rund fünfzig Jahren erbaut worden. Bei den Messen war sie meistens halb leer, während in der Pfarrkirche die Menschen oft keinen Sitzplatz mehr bekamen und den Gottesdienst stehend verfolgen mussten. Im Haus Mahnstein wurde Religion groß geschrieben. Auguste Mahnstein war eine zutiefst gläubige Frau und erwartete dasselbe von ihren Kindern. Hedwig betete jeden Abend für ihre Familie. In den letzten Tagen hatte sich in ihr Gebet die Bitte eingeschlichen, Jesus Christus möge auch auf Albert von Dombrowski ein wachsames Auge haben und seinen Wunsch, Musiker zu werden, alsbald erfüllen.
Hedwig stürzte sich in die Weihnachtsvorbereitungen, auch in der Schneiderwerkstatt fand sie kaum Gelegenheit, um Luft zu holen. Wer es sich leisten konnte, ließ sich zum Christfest neue Kleider anfertigen, dementsprechend voll war das Auftragsbuch von Erna Ballnus. Zwei Tage vor dem Heiligen Abend betrat eine untersetzte, kräftige Frau die Schneiderstube. Hedwig war allein, Fräulein Ballnus weilte bei einer Kundin in der Stadt, um Maß zu nehmen.
»Guten Tag, kann ich Ihnen behilflich sein?«, fragte Hedwig die ihr unbekannte Dame, denn dass sie eine Dame war, verriet ihr hochmütiger Gesichtsausdruck.
Die engstehenden Augen der Frau irrten suchend durch das Zimmer.
»Ist die Ballnus nicht da?«
Unwillig runzelte Hedwig die Stirn und erwiderte kühl und mit Betonung des ersten Wortes: »Fräulein Ballnus ist bei Kundschaft. Ich bin ihr Lehrmädchen.«
Die ohnehin schmalen Lippen der Frau wurden zu einem Strich, aus denen sie hervorpresste: »Da komme ich extra den weiten Weg in die Stadt, um mit einem Lehrmädchen abgespeist zu werden.« Sie musterte Hedwig eindringlich, bevor sie erklärte: »Ich habe einige Stücke zum Ändern mitgebracht. Die Qualität der Stoffe ist sehr schlecht, beim Waschen sind die Sachen eingegangen. Sie müssen die Nähte herauslassen.«
Die Frau stellte den mitgebrachten Korb auf den Tisch und nahm zwei dunkelbraune Röcke, eine helle Bluse und ein dunkelgrünes Kleid heraus. Mit einem Blick erkannte Hedwig, dass es sich um eine gute Stoffqualität handelte. Nicht die allerbeste, aber bestimmt nicht so schlecht, dass die Kleidungsstücke bei einer fachgerechten Wäsche eingingen. Sie vermutete, dass die Frau an Gewicht und Umfang zugelegt hatte und die Schuld auf minderwertiges Material schieben wollte.
»Ich werde es Fräulein Ballnus ausrichten und Maß bei Ihnen nehmen.«
»Können Sie das denn? Nicht, dass nachher alles noch viel schlimmer ist und die guten Sachen völlig verschnitten sind.«
Hedwig musste sich beherrschen, um keine patzige Antwort zu geben.
»Im nächsten Frühjahr werde ich meine Lehre beenden, Sie können mir vertrauen«, sagte sie kühl.
Die Frau zögerte, sah aber ein, dass sie nur die Wahl hatte, sich entweder von dem Lehrmädchen Maß nehmen zu lassen oder ein zweites Mal kommen zu müssen. Sie wählte das kleinere Übel und zog ihren Mantel aus.
»Sind Sie bereits Kundin bei Fräulein Ballnus?«, fragte Hedwig.
»Selbstverständlich, und zwar eine sehr gute«, antwortete die Frau von oben herab. »Ich kann doch erwarten, dass die Änderungen sauber und schnell durchgeführt werden«, sie taxierte Hedwig skeptisch, »und zwar von Fräulein Ballnus persönlich.«
Hedwig kostete es immer mehr Mühe, geschäftsmäßig freundlich zu bleiben. »Wenn Sie mir bitte Ihren Namen nennen, damit ich Ihre Karteikarte heraussuchen kann, gnädige Frau.«
»Johanna Baronin von Dombrowski. Sie haben sicher schon von mir gehört.«
Der Bleistift entglitt Hedwigs Fingern. Das also war Alberts Mutter! Sie hatte mitbekommen, dass die Freifrau stolz war und lebte, als hätte die Familie noch alle Privilegien und auch das Geld des alten preußischen Adels.
Hedwig entnahm einer Holzkiste die Kundenkarte, zögerte dann aber. Die letzte Lieferung hatte sie zwar bezahlt, Fräulein Ballnus hatte aber geäußert, sie wolle von der Baronin keine weiteren Aufträge mehr annehmen. Zumindest nicht ohne Vorkasse. Hedwig befand sich in einem Zwiespalt. Konnte sie es wagen, die Baronin mit den Worten, sie möge wiederkommen, wenn Fräulein Ballnus anwesend war, fortzuschicken, oder sollte sie den Auftrag annehmen und sich eine erneute Rüge einhandeln? Sie entschied sich für Letzteres. Sie würde die aktuellen Maße der Baronin nehmen, Fräulein Ballnus konnte dann immer noch entscheiden, ob sie deren Kleidung nach Kahlenwald zurückschicken wollte.
Routiniert vermaß Hedwig die Baronin, eine Sache von wenigen Minuten. Johanna von Dombrowski hatte schon die Hand auf der Klinke, um die Schneiderwerkstatt zu verlassen, als Hedwig fragte: »Wie geht es Ihrem Sohn? Ich hoffe, er ist wohlauf.«
»Albert?« Überrascht drehte sich die Baronin um. »Woher kennen Sie meinen Sohn?«
»Vor zwei Wochen habe ich Ihnen ein Kleid nach Kahlenwald geliefert, traf aber nur Ihren Sohn an, der so freundlich war, es Ihnen auszuhändigen.«
»Ach, Sie waren das?« Johanna von Dombrowski zog missbilligend die Nase kraus und nickte. »Ich erinnere mich, dass Albert nebenbei erwähnte, ein Kind habe die Lieferung gebracht und er habe es mit dem Schlitten in die Stadt zurückgefahren. Das war sehr großzügig von meinem Sohn, Albert verfügt über ein edelmütiges Herz.«
Ein Kind! Für einen Moment hielt Hedwig die Luft an und presste ihre Kiefer aufeinander. So hatte Albert sie also gesehen, dabei war er auch nicht mehr als ein Rotzlöffel. Und so einem Mann erlaubte sie, sich in ihre Gedanken zu stehlen! Keinen Gedanken wollte sie künftig mehr an ihn verschwenden. Als Johanna von Dombrowski nun noch sagte, zu Beginn des nächsten Jahres würde Albert nach Königsberg gehen, um sich an einer Musikschule ausbilden zu lassen, empfand Hedwig Erleichterung. Sie würden nicht mehr aufeinandertreffen. Ein Teil in ihr freute sich aber für Albert, da er den Wunsch, Musiker zu werden, bei seinem Vater hatte durchsetzen können.