Читать книгу Der Weg der verlorenen Träume - Rebecca Michéle - Страница 8
DREI
ОглавлениеSensburg, 11. Juli 1920
In diesem Jahr waren die Sommertage extrem heiß und trocken. Auch am heutigen Abend kühlte die Luft kaum ab und heizte die angespannte Stimmung, die über der Stadt, ja, über ganz Ostpreußen lag, zusätzlich an. So gut wie alle Erwachsenen und zahlreiche Kinder hatten sich auf dem Marktplatz versammelt, die Blicke auf das Portal des Rathauses gerichtet, dessen Tür verschlossen war.
»Wie lange dauert das denn noch? Sie müssen die Ergebnisse inzwischen doch ausgezählt haben«, bemerkte ein Mann hinter Hedwig ungeduldig.
Hermann Mahnstein drehte sich zu dem Sprecher um, nickte zustimmend und meinte: »Über den Telegrafen sind die Ergebnisse aus den anderen Kreisen sicher schon mitgeteilt worden. Ich glaube, wir werden bewusst auf die Folter gespannt.«
»Was soll nur werden, wenn die Abstimmung zu unseren Ungunsten verlaufen ist?«, bemerkte eine ältere Frau.
»Das möge Gott verhüten«, murmelte Hermann Mahnstein, in seiner angespannten Mimik war aber die gleiche Sorge zu lesen.
»Vater, ich glaube nicht, dass die Menschen wollen, dass wir polnisch werden«, sagte Hedwig.
»Deine Meinung interessiert nicht«, knurrte Hermann Mahnstein. »Schlimm genug, dass das erwachsene Weibsvolk hat mit abstimmen dürfen, als ob Frauen wüssten, was gut für unser Land ist.«
»Ganz meine Meinung«, bekräftigte der erste Sprecher und schlug Mahnstein auf den Rücken. »Meine Frau meinte doch tatsächlich, es könne von Vorteil sein, wenn wir eine neue Regierung bekommen würden. Eine polnische Regierung! Man stelle sich das mal vor!«
»Das ist ja fast ein Scheidungsgrund«, knurrte Hermann Mahnstein. »Es ist eine Schande, dass wir durch einen Korridor voller Pollacken von Deutschland getrennt sind, aber unser gutes, altes Ostpreußen werden die nicht bekommen! Die nicht! So wahr ich ein treuer Beamter des Preußischen Reiches gewesen bin!«
»Das könnte einen neuen Krieg bedeuten«, flüsterte Hedwig. Ihre Anspannung stand der der anderen in nichts nach. Zum ersten Mal war auch sie zur Wahlurne gegangen und hatte ihr Kreuz in dem Feld für den Verbleib Ostpreußens bei Deutschland gesetzt. Die Mahnsteins waren seit vielen Generationen Deutsche, und sie wollten Deutsche bleiben. So wie Hedwig dachten alle, mit denen sie in den letzten Tagen über die Abstimmung gesprochen hatte. Niemand hier wollte den Anschluss an Polen. Wie aber war die Stimmung im Rest des Landes, wie hatten die Anderen entschieden? Vor einigen Tagen war in Sensburg bekannt geworden, dass die Polen um die 25.000 Abstimmungswillige, die aus beruflichen oder privaten Gründen im Westen des Reiches gewesen waren und zur Abstimmung in ihre Heimat hatten reisen wollen, im Korridor festgehalten hatten. Dieses Gebaren zeugte doch von der Unfähigkeit der polnischen Regierung.
Nachdem die im Vertrag von Versailles ratifizierten Abtretungsregelungen in Kraft getreten waren, lag Ostpreußen einer Insel gleich nun in polnischem Staatsgebiet. Die meisten Sensburger tangierte das wenig, nur die, die regelmäßig nach Berlin oder in andere große Städte im Westen reisen mussten, bekamen die Schwierigkeiten zu spüren. An der Grenze stiegen polnische Soldaten zu, Reisepässe mussten vorgezeigt werden, die Waggons wurden verplombt, und die Züge durften auf polnischem Gebiet nicht stoppen. Waren aus dem Westen hatten sich stark verteuert, wurden doch jetzt bei der Durchreise durch den polnischen Korridor Zölle erhoben, oder die Waren mussten auf Schiffen über die Ostsee transportiert werden.
Den Einwohnern Ostpreußens war es freigestellt worden, ob sie weiterhin bei Deutschland verbleiben oder eine Provinz in Polen werden wollten. Alle erwachsenen Männer und Frauen waren an diesem schicksalsträchtigen Tag im Juli aufgerufen, abzustimmen. Für Hermann Mahnstein stand das Ergebnis außer Frage, Auguste hatte wie immer keine Meinung und nicht abgestimmt, aber in Hedwig wuchs die Nervosität. Bisher hatte sie sich nie für Politik interessiert und wusste zu wenig von den Vorgängen im für sie fernen Deutschland. Sie besaß aber Augen und Ohren und hatte in den letzten Monaten mitbekommen, dass nicht wenige sich wünschten, unter polnischer Regierung endlich ein friedliches Leben führen zu können.
Das Kriegsende lag bald zwei Jahre zurück, Deutschland kam aber nicht zur Ruhe. Revolutionen, Putsche, Streiks und Straßenkämpfe waren an der Tagesordnung. Auch wenn in Masuren das Leben in gewohnten Bahnen zu verlaufen schien, lag über den grünen Wäldern und stillen Seen eine Anspannung, die beinahe greifbar war.
»Still, Leute! Da ist der Bürgermeister!«, rief nun jemand, und die Menge drängte sich näher an das Rathaus heran. Hedwigs Herz begann schneller zu klopfen, als der Bürgermeister auf die steinerne Balustrade trat. Schlagartig wurde es mucksmäuschenstill.
Der Bürgermeister hob ein Blatt Papier, rückte seine Brille zurecht und begann zu lesen: »Ich verkünde nun das Ergebnis der Volksabstimmung, ob Ostpreußen weiterhin bei Deutschland verbleibt oder sich dem polnischen Reich anschließen wird.« Um Hedwig herum holten viele Leute tief Luft und hielten den Atem an. »Von den 50.789 Bewohnern des Landkreises Sensburg waren 38.736 stimmberechtigt. Davon stimmten 25 für einen Anschluss an Polen und ...«
Der Rest des Satzes ging in einem ohrenbetäubenden Jubel unter. Menschen fielen sich in die Arme und tanzten im Freudentaumel auf dem Marktplatz. Es herrschte eine ähnliche Stimmung wie an dem Abend, als das Kriegsende verkündet worden war.
Nach einiger Zeit beruhigte sich die Menge, denn das Ergebnis des Landkreises Sensburg war ja nicht maßgeblich für ganz Ostpreußen.
»Von den 422.067 Stimmberechtigen in Ostpreußen sprach sich die überwältigende Mehrheit von 363.159 für den Verbleib aus. Somit ist es beschlossen: Unser schönes Ostpreußen ist und bleibt ein Teil Deutschlands.«
»Wenn ich erfahre, wer die fünfundzwanzig sind, die anders gestimmt haben, werde ich mit denen ein Hühnchen rupfen«, bemerkte Hermann Mahnstein grimmig.
»Aus diesem Grund sind solche Abstimmungen geheim«, bemerkte Hedwig, was ihr Vater kaum zur Kenntnis nahm. Später erfuhr sie, dass die Ergebnisse fast überall derart eindeutig ausgefallen waren, einzig im Landkreis Allenstein hatte sich mit knapp fünftausend Stimmen eine verhältnismäßig hohe Anzahl für den Anschluss an Polen entschieden. Allenstein lag aber auch nahe an der neuen polnischen Grenze. Insgesamt hatten sich 97,86 Prozent aller Ostpreußen Hermann Mahnsteins Meinung nach für den einzig richtigen Weg entschieden. Ein ähnlich deutliches Ergebnis ergab auch die Abstimmung in Westpreußen.
Als Hedwig am Montagmorgen bei Erna Ballnus eintraf, bemerkte sie, dass die Schneiderin bedrückt war. Fräulein Ballnus´ Augen waren dunkel umschattet, und sie grüßte Hedwig nur einsilbig. Zuerst vermutete Hedwig, es hinge mit der gestrigen Abstimmung zusammen, wobei sie sich nicht vorstellen konnte, dass die Frau eine der fünfundzwanzig war, die sich lieber Polen angeschlossen hätte.
Sie bat Hedwig, sich zu ihr zu setzen. Auf dem Schneidertisch waren keine Schnittmuster und Stoffe ausgebreitet, in den Nähmaschinen keine Fäden eingespannt, die Schneiderwerkstatt wirkte ungewöhnlich leblos und steril.
»Ich muss mit dir sprechen, Hedwig«, sagte Fräulein Ballnus, »und werde nicht lange um den heißen Brei herumreden, denn das macht es nicht besser. Es ist mir leider nicht möglich, dich länger zu beschäftigen.«
Hedwig musste erst kräftig schlucken, bevor sie antworten konnte: »Sie entlassen mich, Fräulein Ballnus?«
»Es bleibt mir keine andere Wahl.« Erna Ballnus seufzte und fuhr fort: »Es wird dir nicht verborgen geblieben sein, dass die Aufträge im letzten halben Jahr zurückgegangen sind. Bei der unsicheren Lage, in der wir uns befinden, und weil alles teurer wird, leisten sich immer weniger Menschen eine Maßschneiderei. Wir haben kaum noch Neuanfertigungen, sondern lediglich Änderungen im Auftragsbuch. Hier mal einen Saum kürzen, dort eine Naht herauslassen. So leid es mir tut, Hedwig, und ich denke, du weißt, wie sehr ich deine Arbeit schätze, aber ich kann mir eine Angestellte nicht länger leisten.«
Hedwig nickte automatisch. Es stimmte, was Fräulein Ballnus sagte: In den letzten drei Monaten hatten sie nur ein einziges Kostüm neu geschneidert und sie, Hedwig, war eine ausgelernte Kraft, der ein entsprechender Lohn zustand.
»Werden Sie stattdessen ein neues Lehrmädchen einstellen?«, fragte Hedwig, denn ein Lehrling kostete deutlich weniger.
»Ich werde meine Arbeit und die Wohnung aufgeben und die Stadt verlassen.«
»Wie bitte?« Überrascht fuhr Hedwig auf.
»Mein Rheumatismus wird von Jahr zu Jahr schlimmer«, erklärte die Schneiderin. »Noch ist Sommer, aber ich denke bang an den kommenden Winter. Ich habe Verwandte im Süden Deutschlands, wo die Winter weniger lang und hart sind. Im Herbst werde ich Sensburg den Rücken kehren.«
Hedwig wusste nicht, was sie sagen sollte. Einerseits brachte sie Verständnis für Erna Ballnus´ Entscheidung auf, das bedeutete aber gleichzeitig, dass sie arbeitslos wurde. In der Stadt gab es zwar noch weitere Schneiderwerkstätten, aber alle hatten mit ähnlichen Problemen zu kämpfen und bei keiner war eine Stelle frei. Sehnsüchtig glitt Hedwigs Blick über die Nähmaschinen, die Regale voller Stoffballen und den großen Tisch. Erna Ballnus folgte Hedwigs Blicken und sagte leise: »Du bist eine ausgezeichnete Schneiderin, Hedwig, und es wäre schön, wenn ich dir das alles hier«, sie machte eine raumgreifende Handbewegung, »überlassen könnte, damit du dir deine eigene Werkstatt aufbauen kannst. Da ich für den Start in mein neues Leben aber Geld benötige, bin ich gezwungen, für den besten Preis, den man mir bietet, zu verkaufen.«
Betroffen senkte Hedwig den Kopf. Unmöglich konnte sie das Geld aufbringen, um das Inventar der Schneiderwerkstatt zu übernehmen. Sie hatte gerade erst ihre Lehre beendet, und keine Bank würde ihr einen Kredit bewilligen. Auch war sie noch nicht mündig und bräuchte die Zustimmung ihres Vaters, die er ihr niemals erteilen würde.
»Ich habe alles von Ihnen gelernt, Fräulein Ballnus«, sagte Hedwig leise, »und immer gern hier gearbeitet. Sie waren eine wunderbare Lehrmeisterin.«
Der Anflug eines Lächelns zuckte um die Lippen der Schneiderin.
»Du bist noch jung, Hedwig, aber du solltest darüber nachdenken, den Meisterbrief zu machen. Du hast das Wissen und das Können dafür.«
»Ich? Den Meisterbrief?«
Erna Ballnus nickte bekräftigend. »Die nächste Schule ist in Allenstein. Ich schätze, in zwei oder drei Jahren bist du soweit, um die Aufnahmeprüfung abzulegen und die Ausbildung zu bewältigen.«
»Selbst wenn ich die Prüfung bestehen sollte«, entgegnete Hedwig, »wovon sollte ich das Schuldgeld bezahlen oder meinen Unterhalt in Allenstein bestreiten?« Hedwig lachte bitter. »Sie wissen, dass meine Eltern es nicht unterstützen würden. Solange ich Geld verdiene und dieses meinem Vater aushändige, hat er nichts dagegen, dass ich arbeite. Er würde mich aber niemals aus Sensburg fortgehen lassen, außerdem brauchen wir jeden Pfennig ...«
Schnell brach sie ab, ihre Wangen röteten sich. Es war ihr peinlich, gegenüber Erna Ballnus die finanzielle Situation in ihrem Elternhaus zu erläutern.
Erna Ballnus legte ihre Hand auf die von Hedwig.
»Ich verstehe dich, Hedwig, und ich weiß, dass dein Vater seine Stellung als Polizist verloren hat und nun in der Verwaltung beschäftigt ist. Das Haus habt ihr aber behalten können, nicht wahr?«
Hedwig nickte. »Auch wenn mein Vater nur staubige Akten sortiert und von einem Raum zum anderen trägt – die offizielle Übertragung des Hauses kann nicht angefochten werden. Meine Mutter ist krank, und meine Geschwister gehen noch zur Schule ...«
Die ältere Frau drückte Hedwigs Hand und seufzte verhalten. In den letzten Jahren hatte sie Hedwig wie eine eigene Tochter lieb gewonnen und gern hätte sie dem Mädchen Hoffnung auf die Meisterschule gemacht. Erna Ballnus aber wusste, dass dieser Traum für Hedwig aus finanziellen Gründen wohl unerfüllt bleiben würde.
Wie von Hedwig befürchtet, winkten alle ansässigen Schneider ab, als sie nur das Wort Arbeit äußerte.
»Fräuleinchen, die Geschäfte gehen schlecht«, sagte ein Schneidermeister. »Ich musste einen Gesellen entlassen und kann meine Familie nur noch mit Mühe und Not ernähren.«
Selbst Hedwigs Angebot, in Heimarbeit Änderungen gegen einen geringen Lohn auszuführen, stieß auf taube Ohren. Die Ehefrauen der Schneider, die sich bisher um den Haushalt und die Kinder gekümmert hatten, arbeiteten nun in den Werkstätten mit, um Lohnkosten einzusparen. Aber nicht nur das Schneiderhandwerk ging zurück, viele Männer und auch Frauen verloren in diesen Monaten ihre Arbeit. Ostpreußen war zwar nicht mittelbar von den Umbrüchen, die Deutschland erschütterten, betroffen, die Auswirkungen waren aber deutlich zu spüren. Viele verließen das Land, hofften, in den Fabriken der großen Städte im Westen Lohn und Brot zu erhalten. Trotzdem musste niemand Hunger leiden. Wie bereits während des Krieges halfen sich die Menschen gegenseitig. Das Land war fruchtbar und gab reichlich Nahrung. Nachbarschaftshilfe wurde in Ostpreußen großgeschrieben. Fehlte es in einem Haushalt an Brot, das von Woche zu Woche teurer wurde, brachte man einen Laib zu jemandem, der Hühner hielt, und kehrte mit einem Korb Eier zurück. Milch konnte gegen Kochtöpfe, die nicht mehr benötigt wurden, eingetauscht werden, und Obst und Gemüse wuchsen so gut wie in jedem Garten.
Hedwig beschloss, den Versuch zu wagen, anzubieten, in heimischer Umgebung Änderungen zu machen. Eine Nähmaschine besaß sie zwar nicht, ihre Finger waren aber flink und geschickt im Umgang mit Nadel und Faden. Für diese Arbeiten nahm Hedwig kein Geld, sie hätte sonst ein Gewerbe anmelden müssen, sondern tauschte gegen Nahrungsmittel mit den Bauern der Gegend. Bei den Mahnsteins kam immer genug auf die Teller, trotzdem war die Stimmung gedrückt. Hermann Mahnstein haderte mit seinem Schicksal. In der Polizeiuniform durch die Straßen zu stolzieren, jeden zu kennen und von jedem respektvoll gegrüßt zu werden, war sein Leben gewesen. Einmal überraschte Hedwig ihren Vater, als er die Pickelhaube so zärtlich in den Händen hielt und streichelte, als wäre sie ein Baby.
»Ich bin aussortiert«, hörte sie ihn murmeln. »Aussortiert und zu nichts mehr nütze.«
Immer öfter war Hermann Mahnstein nun im Gasthaus anzutreffen, und so blieb von seinem ohnehin geringen Lohn am Monatsende noch weniger übrig. Hedwigs Mutter, stets auf Harmonie bedacht, schwieg, und weder Hedwig noch eines ihrer Geschwister wagten es, dem Vater Vorwürfe zu machen. In dieser Zeit lernte Hedwig, die Zähne zusammenzubeißen und nicht an morgen zu denken. Sie arbeitete von Sonnenaufgang bis spät in die Nacht hinein. Schnell hatte sich ihre exakte Arbeit in der Stadt und in der Umgebung herumgesprochen, sodass es ihr an Aufträgen nicht mangelte. Durch das ständige Nähen bei Lampenlicht verschlechterten sich jedoch ihre Augen, und Anfang des Jahres 1921 musste sie sich eine Brille anfertigen lassen.
»Ein Mädchen mit Brille, mein letzter Wille«, spottete Paula. »So bekommst du nie einen Mann.«
»Wenn du einen Mann willst, dann solltest du eine Brille tragen, sie würde einen Teil deines verkniffenen Gesichtsausdrucks verdecken«, konterte Hedwig. »Mach du endlich deinen Abschluss, damit du arbeiten gehen kannst. Als ich in deinem Alter war, hatte ich die Schule längst hinter mir und war in der Lehre.«
Paula war eine schlechte Schülerin. Nicht, dass sie nicht intelligent war, sie war schlicht und ergreifend faul und hielt Lernen für Zeitverschwendung. So hatte sie bereits zweimal eine Klasse wiederholen müssen und würde wohl noch weitere zwei Jahre bis zu ihrem Abschluss benötigen.
»Wofür brauche ich eine Ausbildung?« Stolz warf Paula ihr langes, dunkel glänzendes Haar zurück. »Ich werde ohnehin heiraten und Kinder bekommen, dann sorgt mein Mann für mich.«
»So, wie Vater für unsere Mutter und für uns alle sorgt?« Diese Bemerkung konnte Hedwig sich nicht verkneifen, und sie fügte sanfter hinzu: »Paula, die Zeiten haben sich geändert. Heutzutage müssen wir Frauen unseren Mann stehen und sehen, wie wir durchs Leben kommen. Im Westen arbeiten viele Frauen, manche leiten sogar Firmen und Fabriken, weil deren Männer und Söhne aus dem Krieg nicht heimgekehrt sind. Wir haben das Wahlrecht, es ist auch unser Recht, über unser Leben selbst zu bestimmen.«
»Blaustrümpfe mögen die Männer noch weniger als Brillenschlangen«, konterte Paula gehässig.
Verstohlen ballte Hedwig die Hände zu Fäusten. Sie liebte alle ihre Geschwister, nur bei Paula musste sie sich manchmal zusammenreißen, um nicht die Beherrschung zu verlieren und ihr Dinge zu sagen, die eine Schwester der anderen niemals an den Kopf werfen sollte. Das Mädchen hielt sich für den Mittelpunkt der Welt, dachte, alles würde sich genauso entwickeln, wie sie es wollte, und es bereitete Paula Freude, zu spötteln und gehässige Bemerkungen zu machen. Dabei ähnelten sich Hedwig und Paula von den Schwestern äußerlich am meisten, charakterlich waren sie aber völlig unterschiedlich.
Die Hübscheste der Schwestern war Anna, noch ein Kind, aber bereits mit deutlichen Zügen, dass sie eine Schönheit werden würde. Für ein Mädchen war Luise recht groß, noch zeigten sich keine weiblichen Rundungen an ihrem hageren Körper, ihre Nase war lang und spitz, das Kinn eckig und ihre Augen standen eng zusammen. Ihr wenig ansprechendes Äußeres machte Luise aber durch ihr freundliches, ruhiges Wesen und ihre Hilfsbereitschaft wett. Es war Luise, die zusammen mit Hedwig bei Morgengrauen aufstand, die Hühner fütterte und den Garten besorgte, bevor sie zur Schule ging. Nachmittags erledigte Luise als Erstes ihre Hausaugaben und half Hedwig im Haushalt, damit diese sich dem Nähen widmen konnte. Die Jungen kümmerten sich kaum um die häuslichen Belange. Von ihrem Vater geprägt waren sie der Meinung, Kochen, Waschen, Putzen und Nähen sei Frauenarbeit. Karl besuchte das Gymnasium. Er war ein guter Schüler und strebte ein Studium an.
»Etwas im technischen Bereich«, sagte er, »am liebsten Flugzeuge oder so. Passt auf, in ein paar Jahren werden wir alle überall hinfliegen können, sogar bis nach Amerika.«
Das hielt Hedwig zwar für Unsinn, sie neidete ihrem Bruder die Aussicht auf ein Studium aber nicht, auch wenn dies weitere Ausgaben für die Familie bedeutete.
Im Frühjahr 1921 fühlte sich Auguste Mahnstein zunehmend unwohler. Sie war hohlwangig und blass, hatte dunkle Schatten unter den Augen, darüber hinaus übergab sie sich nahezu jeden Morgen. Auguste weigerte sich, einen Arzt zu konsultieren, meinte, sie wäre nicht krank, jedenfalls litte sie an keiner Krankheit, die nicht von selbst wieder vergehen würde. Hermann Mahnstein schienen die Beschwerden seiner Frau nicht zu kümmern.
Wenn es Auguste besonders schlecht ging, schlief er in der Wohnstube auf dem Sofa, um von den Beschwerden seiner Frau nicht belästigt zu werden. Hedwig und ihre Geschwister waren zum absoluten Gehorsam den Eltern gegenüber erzogen worden, so kam es keinem von ihnen in den Sinn, den Vater zur Rede zu stellen oder gar Kritik an seinem Verhalten zu üben.
Wochen vergingen, in denen der Zustand Augustes täglich schwankte. An manchen Tagen ging sie ganz normal ihrer Arbeit nach, sang dabei sogar, dann wieder konnte sie das Bett nicht verlassen und erbrach selbst dünne Hühnersuppen. Obwohl Auguste wenig aß, bemerkte Hedwig die Rundung der Leibesmitte ihrer Mutter, verschwieg es jedoch den Geschwistern. Sie als Älteste wusste genau, was das zu bedeuten hatte, die Jüngeren würden es nicht verstehen. Als sie und Auguste allein waren, bereitete sie einen Pfefferminztee zu und brachte die Tasse der Mutter ins Schlafzimmer hinauf. Heute war wieder einer ihrer schlechten Tage. Während Auguste an dem Tee nippte, sagte Hedwig ihr auf den Kopf zu:
»Du erwartest ein Kind, Mutter!« Augustes Wangen wurden noch fahler, ihre Unterlippe zitterte und Hedwig befürchtete, sie würde jeden Moment in Tränen ausbrechen. »Wann ist es soweit?«
»In etwa drei Monaten«, flüsterte Auguste. »Wie hast du es bemerkt?«
»Ach, Mutter!« Hedwig lachte laut auf. »Ich lebe nicht hinter dem Mond, und die Anzeichen einer Schwangerschaft erkenne ich durchaus.«
Nun errötete Auguste bis über die Ohren. Ihre Töchter hatte sie nie aufgeklärt, in diesem Haus wurde niemals darüber gesprochen, was zwischen Mann und Frau vor sich ging. Als Hedwig noch klein gewesen war, hatte sie den Worten geglaubt, ein Storch habe die Mutter ins Bein gebissen, wenn diese immer dicker geworden war, schließlich für ein paar Tage das Bett gehütet hatte und dann ein neues Geschwisterchen angekommen war.
Störche gab es zuhauf in Ostpreußen, und warum sollten diese schönen, stolzen Vögel nicht die süßen Babys bringen? Hedwig erinnerte sich aber auch, dass die Mutter früher bei jeder Schwangerschaft rosig und gesund ausgesehen hatte, jetzt wirkte sie regelrecht krank.
»Du solltest zum Arzt gehen, Mutter, so schlecht ging es dir früher nie.«
»Was soll ein Arzt mir sagen, was ich nicht selbst weiß?«, antwortete Auguste. »Für ein weiteres Kind bin ich zu alt, nun ist es aber geschehen, und alles liegt in Gottes Hand.«
Hedwig teilte die Sorgen ihrer Mutter. Vor drei Wochen war Auguste vierundvierzig geworden. Auch wenn sie elf Kindern das Leben geschenkt hatte, stellte eine Geburt in diesem Alter ein Risiko dar.
»Du musst dich schonen, Mutter«, sagte Hedwig. »Ich werde dafür sorgen, dass es dir an nichts fehlt, dann wirst du es schaffen.«
Augustes Augen schimmerten feucht, als sie flüsterte: »Ich danke dir, Hedi. Du hast aber schon so viel Arbeit, und jetzt bürde ich dir noch mehr auf.«
»Ich werde Paula anweisen, sich um den Garten zu kümmern, und Karl kann neben der Schule ebenfalls anpacken.«
»Nein«, rief Auguste und stützte sich auf die Unterarme. »Die Kinder dürfen nichts erfahren. Erst, wenn das Baby da ist.«
»Aber warum ...?«
Augustes strenger Blick ließ Hedwig verstummen. Sie ahnte, warum ihre Mutter wollte, dass die jüngeren Geschwister über die Schwangerschaft in Unkenntnis gelassen werden sollten: Sie schämte sich, dass sie in ihrem Alter mit dem Vater immer noch auf eine Weise zusammenkam, aus der ein Kind entstand. Hedwig hätte am liebsten gelächelt, nur mit Mühe blieb sie ernst. Die hohen Moralvorstellungen Augustes mussten unter allen Umständen gewahrt bleiben.
Hedwig versprach ihrer Mutter, den Geschwistern zu sagen, sie litte an einer langwierigen Krankheit, würde aber bald wieder gesund sein. Auch gegenüber ihrem Vater sollte sie die späte Schwangerschaft ihrer Mutter nicht ansprechen, um diesen nicht in Verlegenheit zu bringen.
Im Oktober 1921 wurde Auguste Mahnstein von einem gesunden Jungen entbunden. Die Geburt dauerte zwei Tage und Nächte, und alle schlichen während dieser Zeit auf Zehenspitzen durch das Haus. Die Hebamme und der sicherheitshalber nun doch hinzugezogene Arzt meinten, für eine Frau in diesem Alter verlaufe der Geburtsvorgang ohne Komplikationen, und Entbindungen zögen sich auch bei jungen Frauen häufig über mehrere Tage hin.
Der Junge wurde auf den Namen Siegfried getauft, bald aber nur von allen »Siggi« gerufen. Er war ein entzückendes Kind, mit hellblonden Locken, rosigen Wangen und einer tiefen, kräftigen Stimme.
Die Geburt hatte Auguste aber so angestrengt, dass sie erst Wochen später das Bett wieder verlassen konnte und niemals zu ihrer einstigen Kraft zurückfand. Das durch die Schwangerschaft eingelagerte Wasser in ihrem Körper wollte nicht weichen. Augustes Beine waren ständig geschwollen und jeder Schritt bereitete ihr Schmerzen. Hedwig musste ihre Mutter weiterhin pflegen, hinzu kam der Säugling, der sich zum Schreihals entwickelte und schon früh erkannte, wie er die Aufmerksamkeit auf sich ziehen konnte. Trotzdem liebte Hedwig den kleinen Bruder, und das Nesthäkchen entwickelte sich schnell zum Sonnenschein in der Familie.
Vorsichtig, als handle es sich um die zerbrechlichen Flügel eines Schmetterlings, strich Hedwig über die roséfarbene Seide. Selten hatte sie einen feineren Stoff zwischen den Fingern gehabt. Seufzend reichte sie den Stoff der Frau zurück und sagte:
»Es tut mir sehr leid, aber ich kann keine Neuanfertigungen machen, Frau Girke. Mir fehlen die notwendigen Utensilien, wie zum Beispiel eine Nähmaschine und auch eine Schneiderpuppe.«
Die ältere Frau antwortete betrübt: »Das ist sehr schade, Fräulein Mahnstein, denn Sie sind mir empfohlen worden. Den Stoff hat mir eine Cousine aus Wien zum Geburtstag geschickt. Es ist gar nicht so einfach, in diesen unruhigen Zeiten eine solche Kostbarkeit zu bekommen. Wie ich bereits sagte, dachte ich an eine leichte Bluse, die ich zu besonderen Anlässen tragen kann.«
Frau Girke schlug eine mitgebrachte Zeitschrift auf und legte sie auf den Tisch. »Sehen Sie, ein solches Modell kann ich mir vorstellen, oder denken Sie, die Rüschen am Ausschnitt würden mir nicht stehen, Fräulein Mahnstein?«
»Sie passen hervorragend zu Ihnen, Frau Girke, aber es tut mir wirklich leid, ich kann es nicht machen«, wiederholte Hedwig und bedauerte es sehr, diesen Auftrag nicht annehmen zu können. »Sie sollten sich an die Schneider in der Stadt wenden.«
»Pah, bei denen war ich bereits!« Frau Girke, deren Mann eine Brauerei am Rande der Stadt besaß, winkte verächtlich ab. »Glauben Sie, ich gebe diese feine Seide in die groben Hände eines Mannes, damit sie zerstört wird?«
»Ich bin sicher, es handelt sich um hervorragende Schneider«, nahm Hedwig ihre Kollegen in Schutz. »Sie schneidern auch für Frauen, und ...«
»Nur eine Frau kann mir eine Bluse nach meinen Vorstellungen anfertigen«, beharrte Frau Girke. »Wenn ich jeden Tag zur Anprobe komme, dann benötigen Sie keine Schneiderpuppe, und früher, als es noch keine Nähmaschinen gab, wurden alle Kleider mit Hand genäht. Oder trauen Sie sich das nicht zu, Fräulein Mahnstein?«
Die Frau sprach die Wahrheit. Im ersten Jahr ihrer Lehrzeit hatte Hedwig ausschließlich mit der Hand genäht, da Fräulein Ballnus sich erst später eine Maschine angeschafft hatte. Hedwig hatte diverse Blusen und Hemden angefertigt, was jedoch einen großen Zeitaufwand bedeutete. Obwohl das Vertrauen der Brauergattin ihr schmeichelte, wollte Hedwig mit offenen Karten spielen.
»Ja, ich könnte Ihnen eine Bluse nach Ihren Wünschen nähen, allerdings wären die Kosten viel höher, als wenn es ein Schneider mit einer Maschine macht.«
»Das spielt keine Rolle!« Frau Girkes Augen leuchteten auf. »Können Sie gleich Maß nahmen und mit der Arbeit anfangen?«
»Langsam, langsam!« Hedwig lachte, wurde dann ernst und nannte einen Preis, den sie im Kopf unter Zugrundelegung der benötigten Arbeitsstunden überschlagen hatte. Frau Girke zuckte nicht zusammen, überlegte nur einen Lidschlag lang, dann nickte sie und sagte: »Einverstanden! Hauptsache, Sie sind zu Weihnachten fertig. Das Fest werden wir bei Verwandten meines Mannes in Königsberg verbringen. Ein sehr vornehmer Zweig der Familie, die Wert auf eine angemessene Kleidung legen.«
Hedwig holte Papier und den Tintenfüllhalter und schrieb die Auftragsbestätigung. Ihre erste, seit sie selbstständig arbeitete! Als sie die vereinbarte Summe einsetzte, zögerte sie. Bisher hatte sie nur gegen Naturalien genäht. Wenn sie jetzt Geld nahm und Frau Girke später eine Rechnung über die Summe ausstellte, würde sie diese nicht nur versteuern, sondern auch ein Gewerbe anmelden müssen. Als ehemaliger Angehöriger der preußischen Armee legte ihr Vater großen Wert auf ein korrektes Verhalten, wovon auch Hedwig geprägt worden war. Sie hatte keine Ahnung, was für Folgen es für sie haben könnte, wenn sie das Geld einfach einstrich. Trotzdem wollte sie sich diesen Auftrag nicht entgehen lassen.
Nachdem auch Frau Girke unterschrieben hatte, nahm Hedwig Maß, notierte jede Zahl in ihrer geraden, gestochen scharfen Schrift in einem Buch, ebenfalls die Wünsche der Kundin bezüglich des Schnittes und der Verzierungen. Hedwig konnte kaum erwarten, mit der Arbeit zu beginnen. Sie würde sehr konzentriert und exakt vorgehen müssen. Ein falscher Schnitt, eine falsche Naht – und die kostbare Seide wäre ruiniert.
Hedwig arbeitete bis spät in die Nacht hinein. Die Tage wurden zunehmend kürzer, der erste Frost war gekommen, und schon lag der Geruch nach Schnee in der Luft. Nach drei Wochen konnte Frau Girke die fertige Bluse abholen. Sie probierte sie gleich an, betrachtete sich im Spiegel, drehte sich wie ein junges Mädchen im ersten Ballkleid und rief:
»Wie wunderschön! Sie haben eine sehr gute Arbeit geleistet, Fräulein Mahnstein, und ich werde Sie allen meinen Bekannten und Freundinnen weiterempfehlen.«
Den vereinbarten Arbeitslohn bezahlte Frau Girke in bar. Hedwig hielt die Scheine zwischen den Fingern, als sie der Frau durch das Fenster nachsah. Sie wusste, sie musste zumindest einen Teil des Geldes ihrem Vater geben. Hermann Mahnstein würde es aber nur wieder ins Wirtshaus tragen, dabei benötigten Paula und Anna für den Winter neue Schuhe. Da Paula auf ihre Sachen wenig achtgab, waren deren Schuhe immer so abgetragen und abgestoßen, dass weder Luise noch Anna sie mehr auftragen konnte. Entschlossen steckte Hedwig die Scheine in ihre Rocktasche. Die Eltern hatten zwar mitbekommen, wie Hedwig die Bluse nähte, über den Lohn dafür hatte Hedwig jedoch geschwiegen. Sie würde das Geld nicht für sich verwenden, sondern sparen, um das Notwendigste für die Geschwister zu kaufen, außerdem brauchte sie neue Nähnadeln, Nähgarn und Schneiderkreide. Manchmal leistete Hedwig sich eines der Modemagazine, die am Zeitungsstand beim Bahnhof verkauft wurden. Die Rocksäume der Damen waren kurz wie nie zuvor, endeten auf der Wade, bei jungen Damen bis etwa zwanzig bereits am Knie. Die Taille verschwand immer mehr aus der aktuellen Mode, die Gürtellinie verschob sich unter die natürlichen Taillen, was den Kleidern ein sackartiges Aussehen verlieh. Hedwig wusste nicht, ob ihr das gefiel, verbarg die neue Mode doch die weiblichen Formen, und alle Frauen schienen gleich auszusehen. Die weiten, luftig geschnittenen Ärmel, Fledermausärmel genannt, waren sicher sehr bequem. Kostümjacken und Mäntel wurden nun gern mit überlappenden, teilweise geschlitzten Flugärmeln belebt, was den ansonsten schlichten Kleidungsstücken eine interessante Note gab. In ein Korsett ließen sich nur noch alte, konservative Frauen zwängen, Hedwig hatte noch nie eines getragen. Ihr Rock reichte aber nach wie vor bis zum Knöchel, so wie bei allen Frauen in der Stadt.
Die gezeigte Mode in den Hochglanzmagazinen war nur etwas für die Städter, auf dem Land würden sich die kurzen Röcke niemals durchsetzen. Bei der Vorstellung, wie eine Bäuerin mit knielangem Rock Kartoffeln aus dem Erdreich harkte, grinste Hedwig. Verkäuferinnen und Büroangestellte konnten sich solche Extravaganzen vielleicht leisten, daher würde Hedwig die Entwicklung weiter verfolgen, um auf dem aktuellen Stand zu bleiben. Vielleicht konnte sie aus einem alten Vorhang oder einer aussortierten Tischdecke den Versuch wagen, für sich einen wadenlangen Rock anzufertigen, sozusagen als Versuchsobjekt, in der Öffentlichkeit tragen würde sie ihn ohnehin nicht.