Читать книгу Der Weg der verlorenen Träume - Rebecca Michéle - Страница 9
VIER
ОглавлениеBass erstaunt blieb Hedwig auf der Schwelle stehen und starrte in den großen Raum, der sich vor ihr ausbreitete. Der Boden fiel in Richtung der Bühne leicht ab, die Stühle waren mit rotem Stoff bezogen und längs den Wänden spendeten Lampen ein schummriges Licht.
»He, da vorne, weitergehen! Wir wollen auch noch rein, bevor der Film anfängt.«
Jemand schubste Hedwig von hinten, und sie griff nach der Hand ihrer Schwester Luise.
»Ich habe nicht gedacht, dass es so groß ist.«
Luise grinste spitzbübisch. »Als ich vor zwei Wochen das erste Mal im Lichtspielhaus gewesen bin, war ich ebenso beeindruckt. Es wird dir gefallen.«
»Trotzdem hättest du deinen Lohn nicht ...«
»Es ist das erste Geld, das ich selbst verdient habe«, fiel Luise Hedwig ins Wort. »Davon darf ich meine große Schwester auch einladen. Da ich nicht länger zu Hause wohne, brauche ich meinen Lohn nicht an Vater abzuliefern und kann damit machen, was ich will. Als ich mit den Kindern der Wichmanns den Film angesehen habe, dachte ich, dass er dir bestimmt auch gefällt. Du hast dir diese Abwechslung mehr als verdient, du rackerst dich tagtäglich für die Familie ab, dazu noch die nächtelangen Näharbeiten.«
»Das Nähen macht mir Freude«, antwortete Hedwig. »Mit keiner anderen Tätigkeit möchte ich meinen Beitrag zum Haushalt leisten.«
»Einen Beitrag, der von Vater direkt in Schnaps umgesetzt wird«, erwiderte Luise und brachte die Lage schonungslos auf den Punkt. »Schau nicht so erstaunt, Hedi. Ich mag zwar erst vierzehn sein, aber ich bin weder blind, taub noch weltfremd. Alle Männer trinken hin und wieder einen über den Durst, die Nächte, in denen Vater nüchtern nach Hause kommt, werden aber immer seltener.«
»Es ist seine Arbeit«, flüsterte Hedwig. Sie wollte nicht, dass ihre Unterhaltung von jemandem mitangehört wurde. »Es ist nicht einfach, aussortiert und beiseite geschoben zu werden.«
Die Schwestern mussten ihre Unterhaltung abbrechen, da immer mehr Menschen in den Saal drängten. Sie wählten zwei Plätze in der vierten Reihe im Parkett. Hedwig versank in den bequemen Sesseln und begann sich zu entspannen. Von einem Besuch im Lichtspielhaus hatte sie schon lange geträumt, sich bisher aber eine solche Extravaganz nicht geleistet. Umso dankbarer war sie über die Einladung der Schwester, auch wenn sie dabei ein schlechtes Gewissen hatte. An Ostern hatte Luise die Schule beendet und war im Haus des Oberstudienrates Wichmann in Stellung gegangen. Dort war sie als Mädchen für alles tätig und kümmerte sich auch um die Kinder der Familie. Aufgewachsen im Kreis zahlreicher Geschwister verstand sich Luise bestens mit den zwei Jungen und dem Mädchen, die zwischen sieben und dreizehn Jahre alt waren. Vor zwei Wochen hatte Frau Wichmann Luise gebeten, mit den Kindern ins Lichtspielhaus zu gehen. Neben der Haushaltsführung des Oberstudienrates, in dem regelmäßig Gäste bewirtet wurden, engagierte sich Frau Wichmann in zahlreichen sozialen Organisationen, was sie oft von zu Hause fernhielt.
»Du hast den Film doch schon gesehen, ist es denn nicht langweilig für dich?«, raunte Hedwig ihrer Schwester ins Ohr. Unwillkürlich flüsterte sie, denn die Atmosphäre in dem Saal mit dem gedämpften Licht war fast wie in der Kirche.
Luise schüttelte lachend den Kopf. »Die Handlung ist lustig, und ich werde sicher wieder an denselben Stellen lachen.«
Gezeigt wurde die Komödie Kohlhiesels Töchter. Der Stummfilm war zwar drei Jahre alt, aber erst Anfang dieses Jahres hatte das Lichtspielhaus in Sensburg eröffnet. In Nikolaiken und in Allenstein gab es schon seit Jahren Filmtheater, und Hedwig hatte von Leuten gehört, die extra in diese Städte fuhren, um die Vorstellungen zu besuchen.
Nun glitt der schwere, schwarze Vorhang zur Seite, gab den Blick auf eine weiße Leinwand und einen Flügel auf der Bühne frei, dann erlosch das Licht vollständig. Ein Schatten schritt über die Bühne, setzte sich an den Flügel, und gleich darauf erklang eine beschwingte Melodie, die den Anfang der bewegten Bilder auf der Leinwand begleitete. Der rund einstündige Film war wirklich komisch, das Publikum lachte laut, Texte wurden eingeblendet, und alles wurde von den Melodien des Klavierspielers untermalt. Viel zu schnell war die Vorführung beendet. Als das Licht anging, blinzelte Hedwig mehrmals und kehrte nur langsam in die Realität zurück.
»Wir hätten Anna mitnehmen sollen«, sagte sie.
»Ich habe Vater gefragt, aber er hat es verboten«, antwortete Luise. »Anna wäre noch zu jung, um sich Filme anzusehen.«
Für Luise war es ein wirklicher Glückfalls, das Elternhaus verlassen zu haben und in einer Stellung zu sein, in der sie mehr wie eine Tochter des Hauses als eine Angestellte behandelt wurde. Auch Paula lebte nicht länger zu Hause. Sie hatte endlich ihren Schulabschluss geschafft und war nach Königsberg gegangen, sehr zum Unwillen der Mutter. Auguste sah das Mädchen bereits in den schlimmsten Verhältnissen, dabei wohnte Paula bei einer Cousine von Tante Marthas verstorbenen Mann und ließ sich zur Stenotypistin ausbilden. Paula hatte eingesehen, dass sie sich nicht darauf verlassen durfte, bald geheiratet zu werden und damit versorgt zu sein. Auch Karl befand sich in Königsberg, wo er an der technischen Universität studierte.
Untereinander eingehakt traten Hedwig und Luise auf die Straße, Hedwig noch in Gedanken an die Komödie, über die sie mehrmals laut und herzhaft gelacht hatte. Luise wollte sich gerade von ihrer Schwester verabschieden, da ihr beider Weg in verschiedene Richtungen ging, da trat ein Mann zu ihnen.
»Hedwig, das ist ja eine Überraschung!«, rief er. »Warst du etwa in der Nachmittagsvorstellung?«
Hedwig erkannte Albert von Dombrowski sofort wieder, auch wenn Jahre seit ihrer letzten Begegnung vergangen waren.
»Herr von Dombrowski ...«, murmelte sie und wurde von Albert unterbrochen:
»Nicht so förmlich, wir waren doch schon beim Du, Hedi.«
Sie spürte, wie ihr das Blut in die Wangen stieg und sah aus den Augenwinkeln, wie Luise skeptisch die Stirn runzelte. Hedwig besann sich und sagte schnell: »Das ist meine Schwester Luise Mahnstein. Luise – Albert von Dombrowski.«
Er begrüßte Luise mit einem freundlichen Kopfnicken und sagte: »Ich hoffe, Ihnen, Fräulein Luise, und dir, Hedi, haben meine kleinen musikalische Untermalungen gefallen.«
»Du bist der Klavierspieler!«, rief Hedwig. »Die Musik war wunderschön und hat zu jeder Filmszene perfekt gepasst.«
Albert nickte und verbarg nicht seinen Stolz, als er sagte: »In den letzten Jahren habe ich in Königsberg zahlreiche Filme untermalt, denn ich komponiere die Melodien selbst. Musiker wie ich werden Tappeure genannt, das klingt ziemlich hochtrabend, nicht wahr? In den großen Städten spielen aber häufig ganze Orchester in den Kinosälen zur Untermalung, aus diesem Grund bin ich wieder nach Sensburg gekommen. Hier kann ich meine eigenen Werke darbieten.«
»Wie ist es dir gelungen, deinen Vater zu überzeugen, dich Musik studieren zu lassen?«, fragte Hedwig, die kein Wort ihrer früheren Unterhaltung vergessen hatte.
»Also, ich möchte euch ja nicht unterbrechen oder mich einmischen«, sagte Luise, »aber ich muss die Kinder ins Bett bringen.«
Albert sah sie erschrocken an. »Verzeihen Sie, Fräulein Luise, wir wollen Sie nicht außen vor lassen, die Freude, so unverhofft Ihre Schwester wiederzusehen, hat mich einfach überwältigt. Allerdings bin ich überrascht zu erfahren, dass Sie in Ihrem zarten Alter bereits Kinder haben, wenn ich das so ausdrücken darf.«
Hedwig lachte hell und rief: »Meine Schwester arbeitet in einem Haushalt und versorgt die Kinder der Herrschaft.« Sie hakte sich wieder bei Luise unter. »Du hast recht, es ist spät geworden. Ich begleite dich nach Werder.«
»Nichts da!« Albert drängte sich zwischen die Frauen und bot jeder je einen Arm. »Selbstverständlich bringe ich die Damen nach Hause, dabei können wir noch ein wenig plaudern, Hedi.«
Luise runzelte unwillig die Stirn, und Hedwig wusste, dass sie unverzüglich Albert von Dombrowski »Auf Wiedersehen« sagen sollte. Was war jedoch dabei, an einem milden Frühlingsabend an der Seite eines attraktiven Mannes einen Spaziergang zu machen? Hedwig hätte ihre Schwester ohnehin nicht allein den weiten Weg nach Werder gehen lassen, und eine Begleitung auf dem Rückweg konnte doch sehr nett sein. Außerdem interessierte es sie, wie Albert von Dombrowski die letzten Jahre verbracht und was er erlebt hatte.
In den kommenden Wochen trafen sich Hedwig und Albert von Dombrowski regelmäßig. Heimlich, denn Hedwigs Vater achtete streng darauf, dass keine seiner Töchter sich mit Männern herumtrieb, wie er es nannte, und den Ruf der Familie verdarb. Mit seiner Musik begleitete Albert die Nachmittags- und Abendaufführungen im Lichtspielhaus, und Hedwig gelang es, sich für eine oder zwei Stunden von den häuslichen Pflichten freizumachen, sodass sie sich zwischen den Vorstellungen treffen konnten. Diese Zusammenkünfte, bei denen sie über Gott und die Welt plauderten, waren für Hedwig kleine Inseln der Ruhe und des Abstands von der unermüdlichen Arbeit geworden. Besonders, dass niemand davon wusste, gab der Sache etwas Prickelndes. Manchmal dachte Hedwig daran, Luise einzuweihen, entschied sich aber dagegen. Sie vertraute Luise zwar, diese würde sie niemals an den Vater verraten, Hedwig wollte die Schwester aber nicht in Verlegenheit bringen oder gar, dass diese für sie lügen musste.
Auch an diesem frühsommerlich-warmen Nachmittag saßen sie auf einer Bank unterhalb des Bismarckturms. Auf einer Anhöhe über der Stadt gelegen und von einem Wäldchen umgeben war der Turm ein beliebtes Ausflugsziel an den Sonntagen, unter der Woche waren Hedwig und Albert aber meistens allein. Unter ihnen die Stadt lag in friedlicher Ruhe. Das dichte Laub der mächtigen Eichen und Buchen spendete Schatten, Vögel hüpften von Ast zu Ast und zwitscherten muntere Melodien. Hedwig liebte diesen Platz inmitten der beinahe unberührten Natur, und durch Alberts Anwesenheit hatte er einen ganz besonderen Zauber gewonnen. Die Jahre in Königsberg, in denen Albert auf sich allein gestellt war, hatten aus dem schlaksigen Jüngling einen gestandenen Mann gemacht. Das pechschwarze Haar trug er zur Seite gescheitelt, und ein schmaler Bart zierte seine Oberlippe. Zweifelsohne war er attraktiv, und er verstand es, mit Frauen umzugehen. Bei ihren ersten Treffen hatte Hedwig ihre Brille nicht getragen und war prompt über eine Baumwurzel gestolpert.
»Hoppla!« Albert hatte sie aufgefangen und lachend gesagt: »Du solltest deine Brille aufsetzen, Hedi, sonst werden deine Augen nur noch schlechter.«
Hedwig war flammendrot geworden, auch, weil Albert sie länger als notwendig in den Armen gehalten hatte. Schnell hatte sie sich von ihm gelöst und dann in die Rocktasche nach ihrer Brille gegriffen. Albert war so taktvoll, sie nicht spüren zu lassen, dass er genau wusste, dass Hedwig die Brille verborgen hatte, um ihm zu gefallen.
Interessiert lauschte Hedwig seinen Erzählungen aus Königsberg.
»Dort gibt es elektrische Straßenbahnen, Hunderte von Automobilen und kaum noch Pferdefuhrwerke auf den Straßen. Die Häuser sind oft mehrere Stockwerke hoch, und in den Warenhäusern kann man alles kaufen, was das Herz begehrt. Das Meiste wird mit Schiffen geliefert, so herrscht am Hafen ständig reger Betrieb. Die Ausbildung an der Musikhochschule war hart, aber endlich konnte ich das machen, was ich schon immer wollte: Musik! Da mein Vater das Studium zwar erlaubte, aber nicht gewillt war, mich finanziell zu unterstützen, begann ich, in den Lichtspielhäusern und in Lokalen der Stadt Klavier zu spielen. Zuerst nach vorgegeben Noten, seit einem Jahr komponiere ich auch selbst. So hielt ich mich über Wasser, und manchmal wurde ich auch von Hotels für deren Abendunterhaltungen engagiert.«
»Wolltest du schon immer Musik machen?«, fragte Hedwig.
Er nickte. »Ich war etwa acht oder neun Jahre alt, als meine Eltern mich in ein Konzert mitnahmen, es wurde Beethoven gespielt. Es war wie ein magischer Moment. Mein Blick hing gebannt an den Fingern des Klavierspielers. Ich glaube, in diesem Augenblick wusste ich, dass ich Pianist werden will. Von meinen Eltern erbettelte ich den Klavierunterricht. Sie mussten sich jede Stunde vom Mund absparen, erfüllten mir aber diesen Wunsch, wofür ich ihnen sehr dankbar bin. Bald merkte ich, dass es nicht die Klassik ist, die mich begeistert, sondern die flotten, beschwingten Melodien. Wenn ich spiele, sollen die Menschen fröhlich sein, tanzen und mitsingen.«
Hedwig beneidete Albert, dass es ihm gelungen war, seine Träume zu realisieren, und fragte: »Welche Pläne hast du für die Zukunft? Weiterhin als Tapp...«, sie stockte, konnte sich an den genauen Ausdruck nicht mehr erinnern.
»Tappeur«, half er Hedwig auf die Sprünge, und sein Blick ging in die Ferne und war verklärt, als er leise sagte: »Am liebsten würde ich Lieder komponieren, die von bekannten Interpreten vorgetragen werden. Drüben in Amerika haben nicht nur der Jazz und die instrumentalen Stücke der Big Bands die Theaterhäuser und Bühnen erobert. Immer mehr Sänger und Sängerinnen treten auch mit Liedern auf, die Schlager genannt werden, und nichts mit Opern oder Operetten zu tun haben. Man kann diese Lieder mitsingen und darauf tanzen. Das Duo Van und Schenk feierte mit dem Lied Ain’t We Got Fun große Erfolge und in Königsberg haben wir jeden Abend auf Margie von Eddie Cantor getanzt. Hör, Hedi, ich summe es dir vor.«
Atemlos lauschte Hedwig der kleinen Melodie, die in ihren Ohren fremd klang. Weder die Lieder noch die Namen der Interpreten kannte sie, spürte aber die tiefe Verbundenheit, die Albert zu der modernen Musik von jenseits des Ozeans empfand.
»Leider sind in Deutschland Tonaufnahmen aus den Staaten nur schwer zu bekommen und wenn, dann sind sie furchtbar teuer.« Er seufzte und lächelte gleichzeitig. »In Königsberg gibt es immer jemanden, der ein Grammophon und die neuesten Platten aus den Staaten hat. Hier jedoch …«
»Willst du nach Königsberg zurückgehen?«, fragte Hedwig erschrocken, denn Albert würde ihr fehlen, wenn er Sensburg verlassen würde.
»Nicht in naher Zukunft«, antwortete er zu Hedwigs Erleichterung. »Ich bin noch jung und sehe den Dingen, die das Leben für mich bereithält, mit Spannung entgegen. Irgendwann wird meine Chance kommen.«
Hedwig legte eine Hand auf seinen Arm und sagte: »Dessen bin ich sicher, Albert. Du bist der beste Musiker, den ich kenne.«
Er lachte laut und erwiderte: »Herzlichen Dank für das Kompliment, aber Hedi: Wie viele Musiker kennst du überhaupt? Ich meine, Musiker, die sich mit der leichten Muse beschäftigen?«
»Äh … ja … also … Du bist der Einzige«, musste Hedwig zugegeben. Er grinste und fuhr fort:
»Dir kann ich es ja verraten, Hedi, ich habe bereits Dutzende an Melodien und Texten in der Schublade, nur kenne ich niemanden, der daran Interesse zeigen könnte oder gar mutig genug ist, deutschsprachige Schlager aufzunehmen. Mir fehlen einfach die notwendigen Beziehungen.«
»Ich bin sicher, du wirst es schaffen«, sagte Hedwig überzeugt. »Du musst nur fest an dich glauben und nicht locker lassen.«
Albert runzelte die Stirn und sah Hedwig ernst an. »Wenn du dieser Meinung bist – warum bewirbst du dich dann nicht an der Meisterschule?«, wechselte er das Thema. »Du bist volljährig, deine Eltern können es dir nicht länger verbieten.«
Hedwig hatte ihm von dem Vorschlag ihrer früheren Lehrherrin, sich zur Schneidermeisterin ausbilden zu lassen, erzählt.
»Selbst wenn ich die Aufnahmeprüfung bestehe, weiß ich nicht, wie ich die Zeit der Ausbildung finanzieren sollte«, gab Hedwig offen zu und seufzte. »Die Schule ist in Allenstein, ich müsste in der Stadt wohnen und mich dort verköstigen. Ich denke nicht, dass ich neben der Ausbildung durch Näharbeiten genügend verdienen würde. Außerdem muss ich mich um meine Mutter und den kleinen Bruder kümmern, und dann ist da noch der Haushalt ...«
»Tja, dann sehen wir beide derzeit in eine ungewisse Zukunft.« Albert sprang auf und reichte Hedwig seine Hände. Seine dunklen Augen schimmerten sanft. Sie ließ sich von ihm auf die Füße ziehen, und er meinte grinsend: »Irgendwie sind wir beide Künstler, die von niemandem unterstützt werden. Wir sollten uns zusammentun.«
Langsam zog er Hedwig an sich. Ihr Herz pochte im Hals, der plötzlich staubtrocken war, sie ließ es aber geschehen, dass Alberts Lippen sich auf ihre legten. Es war Hedwigs erster Kuss, und die Sonne schien plötzlich noch strahlender.
»Autsch!« Hedwig schrie leise auf, als die Nadel in ihren Finger fuhr. Hastig schob sie mit der anderen Hand den Stoff weg, damit kein Blutstropfen die helle Baumwolle verdarb. Sie arbeitete am Kragen einer Bluse der Nachbarin, und seit Monaten war es nicht mehr vorgekommen, dass sie sich beim Nähen gestochen hatte. Am verletzten Finger lutschend beschloss Hedwig, die Arbeit für heute zu beenden. Es war gleich Mitternacht, außerdem war sie den ganzen Abend über nicht bei der Sache gewesen. Seit Albert sie heute geküsst hatte, schlugen ihre Gedanken Purzelbäume. Beim Zubereiten des Abendessens hatte sie die Suppe beinahe mit Zucker anstatt mit Salz gewürzt, und es wollte ihr nicht gelingen, auch nur eine Minute nicht an Albert zu denken. War sie in den jungen Musikus verliebt? War das Gefühl, als würden Dutzende von Schmetterlingen in ihrem Magen tanzen und warme Wellen sie durchfluten, Liebe? Oder war es nur, weil Albert der erste Mensch war, der ihr wirklich zuhörte, der ihre Probleme, aber auch Träume und Hoffnungen ernst nahm? Hedwig wusste nichts von der Liebe. Nie zuvor hatte ihr Herz beim Anblick eines Mannes schneller geschlagen, nie zuvor hatte sie sich gewünscht, jeden Moment des Tages an der Seite des anderen zu verbringen. Erst am Montag würde sie Albert wiedersehen, denn ein anderer Klavierspieler war für die Wochenenden engagiert. Drei Tage, die für Hedwig scheinbar endlos vor ihr lagen, dabei hatte sie sich sonst immer auf das Wochenende gefreut.
Bei allem Herzklopfen verschloss Hedwig aber nicht die Augen vor der Tatsache, dass Albert kein Wort über eine gemeinsame Zukunft verloren hatte. Seine Musik wollte er in die Welt hinaustragen, nun ja, zumindest in das gesamte Deutsche Reich. Masuren war für einen begnadeten Künstler wie Albert zu klein, zu beschaulich, hier würden die Leute noch lange nicht bereit sein, sich auf Neues einzulassen, besonders nicht, wenn es aus Amerika kam. Hedwig vermutete, dass Albert in Berlin größere Chancen hätte, seine Träume zu verwirklichen. Ihn ziehen zu lassen, würde sie zwar traurig stimmen, aber sie hatte kein Recht, ihn in der Heimat zu halten.
Hedwig löschte die Lampe und schlich über den Korridor zu ihrem Zimmer. Dort zog sie sich im Dunkeln aus und ihr Nachthemd an, um Anna nicht zu wecken, die hinter dem Vorhang, der den Raum abteilte, schlief. Nachdem Paula das Haus verlassen hatte, hatte Hedwig sich in deren und Luises früherem Zimmer eine kleine Schneiderwerkstatt eingerichtet, um bei ihrer abendlichen Arbeit niemanden zu stören.
Die Frage Alberts, warum sie nicht versuchte, ihren Traum, Meisterin zu werden, Realität werden zu lassen, ließ sie keinen Schlaf finden. Der verhaltene Klang der Kirchturmuhr schlug die dritte Stunde, als Hedwig den Entschluss fasste, sich bei der Schule zu bewerben. Die Aufnahmeprüfung stellte eine große Hürde dar, vielleicht war sie gar nicht gut genug, diese zu bestehen. Dann hatte sie es aber versucht und würde sich nicht für den Rest ihres Lebens Vorwürfe machen, diese Chance nicht wahrgenommen zu haben. Sollte sie die erste Hürde bewältigen, würde sich für die Ausbildung eine Lösung finden lassen.
»Hedi, man bringt alles fertig, wenn man es nur ernsthaft will und nichts unversucht lässt«, hatte Albert gesagt. »Ich will und ich werde Musik machen, solange ich lebe, und nichts und niemand wird mich davon abhalten.«
Hedwig bewarb sich heimlich. Als der Brief mit der Nachricht kam, sie würde für die Prüfung zugelassen, wäre sie am liebsten laut singend durch das Haus getanzt – wäre da nicht ihre Angst vor dem Gespräch mit den Eltern gewesen. Wie von Hedwig erwartet, reagierte Hermann Mahnstein erst ungläubig, dann fassungslos und schließlich entsetzt, als er feststellte, dass Hedwig sich nicht würde umstimmen lassen.
»Dann fahr doch hin und versuch es«, schrie Hermann Mahnstein so laut, dass der kleine Siggi zu weinen begann und die Hände fest auf die Ohren presste. »Du wirst es ohnehin nicht schaffen. Das bisschen Nähen reicht vielleicht für den Hausgebrauch, wenn das Fräulein aber Meisterin werden will, wird dir die Prüfung diese Flausen schnell austreiben. Vor dem Komitee wirst du versagen und ausgelacht werden.«
Jetzt war Hedwig noch fester entschlossen, es unter allen Umständen zu schaffen. Tatsächlich bestand sie die Aufnahmeprüfung auf Anhieb. Niemand lachte sie aus, im Gegenteil. Das Komitee, alles Männer, wie Hedwig befremdlich feststellte, zeigte sich von ihrer Prüfungsarbeit begeistert und meinte, selten hätten sie so gerade und exakte Nähte gesehen. Dann kam Hedwig der Zufall zu Hilfe, an dem Albert maßgeblich beteiligt war: In einer Kapelle eines Hotels in Allenstein hatte er ein mehrmonatiges Engagement erhalten. Allabendlich wurde den Gästen zum Tanz aufgespielt und an den Wochenenden gab es regelmäßig große Festivitäten und Hochzeiten.
»Das Hotel sucht für die Küche Aushilfskräfte«, hatte Albert ihr mitgeteilt. »Ich weiß, tagsüber die Schule und abends und am Wochenende die Arbeit im Hotel – das wird sehr anstrengend werden, es ist aber eine Möglichkeit, deinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Außerdem hast du im Hotel Kost und Logis frei.«
Bei diesem Vorschlag hatte Hedwigs Herz zwar schneller geschlagen, sie war aber nicht übermütig geworden. Das war nicht ihre Art, und ihr Großvater hatte immer gesagt, man möge das Fell erst verkaufen, wenn der Bär erlegt war.
Hedwig hatte die Stellung als Küchenmädchen tatsächlich erhalten. Die Arbeit war anstrengend, die Kammer im Dachgeschoss eng und mit nur einem kleinen, nach Norden ausgerichteten Fenster, im Sommer heiß und im Winter eiskalt – für Hedwig war es aber das pure Glück auf Erden. Zum ersten Mal in ihrem Leben stand sie auf eigenen Füßen. Sie entschied selbst, wann sie aufstand und wann sie zu Bett ging, wann sie aß und was sie in ihrer Freizeit unternahm. Diese war ohnehin knapp bemessen, denn die Ausbildung war hart und forderte Hedwigs volle Konzentration, ebenso die Arbeit im Hotel. Selten kam sie vor ein oder zwei Uhr in der Nacht ins Bett, um sechs Uhr am Morgen stand sie wieder auf. Lediglich an den Sonntagen konnte sie länger schlafen. Bei den anderen Kursteilnehmern war Hedwig schnell als Streberin verschrien, da sie sich an keiner ihrer Unternehmungen beteiligte. Sie waren acht Männer und drei Frauen, wobei alle, auch die Frauen, ständig auf Hedwig einredeten, sie möge sich mit dem Titel einer Damenschneidermeisterin begnügen und nicht versuchen, sich in eine Männerdomäne zu drängen.
Da Albert von Dombrowski als Pianist im selben Hotel spielte, sahen sie sich nun täglich. Zusammen mit den Kollegen bewohnte Albert eine Wohnung am Stadtrand, die Hedwig jedoch niemals betrat. Weder an der Schule noch im Hotel wollte sie in Verruf geraten, und Hedwig spürte, dass ihre Bekanntschaft einen Punkt überschritten hatte, an dem sie nicht länger nur Freunde waren. Sie küssten sich regelmäßig, mehr Zärtlichkeiten ließ Hedwig jedoch nicht zu. Sie begründete es damit, sie müsse sich auf ihre Ausbildung konzentrieren. Albert schien ihre Zurückweisung auch nicht zu enttäuschen. Hedwig blieb nicht verborgen, wie Albert auf Frauen wirkte, und auch, dass er einem Flirt nicht abgeneigt war. Musiker übten ohnehin eine ganz besondere Anziehungskraft auf die Damenwelt aus, und Hedwig verbot sich, darüber traurig oder gar eifersüchtig zu sein. Sie hatte Albert viel zu verdanken, sie mochte ihn, vielleicht war sie sogar in ihn verliebt, aber sie hatte auch ein Ziel vor Augen, für das sie mit aller Kraft kämpfen wollte. Auf keinen Fall wollte Hedwig jung heiraten, so wie ihre Mutter, jedes Jahr ein Kind bekommen und nur noch für die Familie und den Haushalt zuständig sein. Nach dem Krieg hatte für die Frauen ein neues Zeitalter begonnen, sie waren aus dem Schatten der Männer herausgetreten, und Hedwig wollte daran teilhaben. Albert konnte sie sich ohnehin nicht als Ehemann vorstellen. Nicht nur, dass sie an seiner Treue zweifelte, wovon sollte er eine Familie ernähren? Das, was er als Musiker verdiente, reichte gerade für ihn zum Überleben, und oft gab Albert das Geld so, wie es reingekommen war, gleich wieder aus. Großspurig lud er Freunde ein, schmiss eine Lokalrunde nach der anderen und sprach dem Alkohol reichlich zu. Als Hedwig es wagte, ihn darauf anzusprechen, erwiderte Albert nur: »Meine Güte, Hedi, sei doch nicht so ein Moralapostel! Wir sind nur einmal jung, wir leben jetzt und hier, und wer weiß, was die Zukunft bringt? Vielleicht sogar einen neuen Krieg ...«
»Das möge Gott verhüten«, war Hedwig ihm ins Wort gefallen. »Die Menschen haben aus der Vergangenheit gelernt, so etwas wird nie wieder vorkommen.«
»Na ja, die politische Lage im Reich ist angespannt, allein wegen den Repressalien, die Deutschland im Vertrag von Versailles auferlegt wurden. Hier in Masuren bekommen wir davon kaum etwas mit, doch wir sitzen auf einem Pulverfass, dessen Lunte jederzeit entzündet werden kann.« Er nahm Hedwig in den Arm und küsste sie. »Was machen wir uns darüber Gedanken? Es kommt ohnehin so, wie es kommen muss. Wir sind alle nur klitzekleine Rädchen in einem großen Getriebe. Darum lass uns das Leben genießen, Hedi!«
Während der Weihnachtszeit und über den Jahreswechsel hatte die Schule zwar geschlossen, das Hotel aber war bis unters Dach belegt, und Hedwig konnte jeden zusätzlichen Pfennig gut gebrauchen. Der Brief ihrer Mutter, den sie auf ihre Nachricht, sie würde zu Weihnachten nicht nach Hause kommen, erhalten hatte, war kühl und unpersönlich. Auguste Mahnstein wünschte ihrer Tochter ein frohes Fest, ein Gruß des Vaters war nicht beigefügt. Von den Geschwistern schrieb ihr lediglich Luise regelmäßig, die ihrer Schwester stets Bewunderung für ihren Mut in Worte fasste und ihr riet, mit aller Kraft an ihren Zielen festzuhalten.
Es war ein hartes Jahr gewesen, gleichzeitig eines der glücklichsten, das Hedwig je erlebt und das sie geprägt hatte. Niemals wieder würde sie sich von jemandem unterjochen lassen, sondern ihren eigenen Weg gehen. Sie durfte nur nicht daran denken, was geschehen würde, sollte sie die Abschlussprüfungen nicht bestehen. Dies war ihre größte Angst, und sie lernte und arbeitete mit einer Intensität, die an Verbissenheit grenzte.
Die Luft war drückend schwül, durch das geöffnete Fenster drang kein Lufthauch. Unruhig lief sie auf und ab. Von einer Wand zu anderen waren es genau neun Schritte, in der vergangenen Stunde hatte Hedwig diese wieder und wieder gezählt. Nervös öffneten und schlossen sich ihre Finger, ständig sah Hedwig zur Uhr, deren Zeiger sich im Schneckentempo zu bewegen schienen. Wie lange dauerte es denn noch? Die Zunge klebte an ihrem Gaumen, sie konnte es aber nicht wagen, ihren Platz hier zu verlassen, um sich ein Glas Wasser zu holen. Hedwig fuhr herum, als sich die Tür öffnete.
»Albert? Du hier?«, rief sie, überrascht, ihn zu sehen, gleichzeitig auch enttäuscht, denn sie hatte darauf gehofft, man würde sie endlich aufrufen.
»Hast du das Ergebnis schon?«, fragte Albert und küsste sie auf die Wange. »Leider konnte ich nicht früher kommen, ich habe aber den ganzen Tag über an dich gedacht und dir fest die Daumen gedrückt.«
Hedwig schüttelte den Kopf. »Die lassen mich schmoren, ich warte bereits seit einer Stunde.«
»Wie ist es gegangen?«
Sie zuckte mit den Schultern.
»Ich habe mein Bestes gegeben und fand die Aufgabe nicht sehr schwer, aber ich darf nicht zu sicher sein.«
»Ich bin überzeugt, du hast auch diese Prüfung mit Bravour bestanden.« Er gab ihr einen Nasenstüber und fügte hinzu: »Du bist viel zu bescheiden, Hedi. Wenn man gut ist, dann darf man offen zu sich und seinen Leistungen stehen.«
»Danke, Albert«, Hedwig lächelte und wischte sich mit dem Handrücken über die schweißnasse Stirn. »Ob meine Leistungen ausgereicht haben – darüber entscheiden die strengen Herren der Kommission.«
Beruhigend drückte Albert ihre Hand. »Die Prüfung zur Damenschneidermeisterin letzte Woche hast du mühelos abgelegt, Hedi, da waren alle deine Bedenken unberechtigt gewesen.«
»Das ist zwar richtig«, stimmte Hedwig nachdenklich zu, »wenn sich eine Frau jedoch anmaßt, den Titel auch für Herren zu erlangen, werden an sie höhere Anforderungen als bei einem Mann gestellt. Ich habe den Eindruck, der Prüfungskommission ist eine Frau ein Dorn im Auge, und sie werden akribisch nach jedem noch so kleinen Fehler suchen.«
Albert konnte Hedwig nicht widersprechen, auch wenn er ihr gern Mut gemacht hätte.
Als einzige Frau ihrer Ausbildungsgruppe hatte Hedwig sich auch für die Prüfung zur Herrenschneidermeisterin angemeldet.
Hedwig war Albert dankbar, dass er sich extra freigenommen hatte, um ihr in dieser für sie entscheidenden Stunde moralisch beizustehen. Wenn sie durchfiel, wäre das Wasser auf die Mühlen ihres Vaters, allein deswegen wollte sie es schaffen.
Es verging eine weitere bange halbe Stunde, bis eine ältere Frau das Zimmer betrat und sagte: »Fräulein Hedwig Mahnstein, die Prüfungskommission erwartet Sie jetzt. Bitte folgen Sie mir.«
Es dauerte keine fünfzehn Minuten, dann kehrte Hedwig zurück.
An ihrer ausdruckslosen Miene konnte Albert nichts ablesen, und Hedwig sank auf eine Bank, legte ein Schriftstück neben sich und schlug die Hände vor das Gesicht.
»Was ist?«, rief Albert nervös. »Hast du das Ergebnis?« Hedwigs Schultern zuckten, ein leises Schluchzen drang durch ihre Finger. Er setzte sich neben sie und legte seinen Arm um sie. »Ach, Hedi, das tut mir aufrichtig leid, es ist doch nicht so schlimm. Du machst die Prüfung in einem Jahr einfach nochmal, und immerhin bist du Damenschneidermeisterin, das kann dir niemand mehr nehmen.«
Hedwig hob den Kopf, Tränen liefen über ihre Wangen. Mit dem Daumen strich Albert sie fort, aber jetzt lachte Hedwig und reichte Albert das Schreiben.
Gespannt las er die Zeilen, sprang dann auf und rief: »Du hast bestanden! Sogar mit Auszeichnung! Meine Güte, warum weinst du dann?«
»Das ist nur die Anspannung«, erwiderte Hedwig, »und weil ich glücklich bin! So schrecklich glücklich! Sie haben gesagt, keiner der Männer habe auch nur annähernd eine so gute Arbeit abgegeben.«
»Damen- und Herrenschneidermeisterin Fräulein Hedwig Mahnstein«, las Albert laut von dem Dokument ab und zeichnete mit den Händen ein Rechteck in die Luft. »Ich sehe das Schild deutlich vor mir: eine schwarze Schrift auf glänzendem Metall.«
»Es wird wohl noch dauern, bis ich mir eine eigene Werkstatt einrichten kann«, wandte Hedwig ein.
»Trotzdem – das muss gefeiert werden! Heute Abend führe ich dich ganz groß aus.«
»Ach, Albert, das ist doch viel zu teuer ...«
»Papperlapapp, heute spielt Geld keine Rolle«, wischte Albert ihren Einwand beiseite. »Ich bin sehr stolz auf dich, und alle sollen es sehen!«
Seine Worte hüllten Hedwig wie in einen warmen Umhang ein. Sie gab sich einen Ruck und nahm Alberts Einladung an. Es war wirklich ein Anlass, um einmal über die Stränge zu schlagen.
Im Hause Mahnstein wurde die Nachricht, dass Hedwig trotz ihrer jungen Jahre gleich zwei Meistertitel erlangt hatte, mit gemischten Reaktionen aufgenommen.
»Herzlichen Glückwunsch!« Luise fiel der Schwester um den Hals, als sie nach Hause zurückkehrte. »Ich freue mich für dich! Ich wusste immer: Du bist die Intelligenteste von uns allen.«
»Was willst du jetzt damit anfangen?«, murrte Hermann Mahnstein und musterte seine älteste Tochter skeptisch, Hedwig erkannte dennoch einen Anflug von Bewunderung in seinen Augen. »Die Meisterbriefe kannst du dir einrahmen und von mir aus an die Wand hängen, Hauptsache, du bist jetzt wieder zu Hause und gehst deiner Mutter zur Hand. Es ist viel Arbeit liegengeblieben.«
»Ach, Hermann, lass Hedwig sich doch erst wieder eingewöhnen«, nahm Auguste Mahnstein ihre Tochter überraschend in Schutz. »Du bist dünn geworden, Mädchen, hast in der Fremde wohl nichts zu essen bekommen.«
Dankbar sah Hedwig ihre Mutter an und erwiderte: »Ich habe viel gearbeitet und gelernt, aber fast jede Nacht von deinen köstlichen Sauerklopsen geträumt.«
»Dann sollst du diese heute Abend bekommen«, rief Auguste, und zu ihrem Mann, der die Lippen öffnete, sagte sie entschieden: »Nichts da, auch wenn heute kein Sonntag ist, bekommt das Kind sein Lieblingsessen!«
Es kam selten vor, dass sich Hermann seiner Frau fügte. Vielleicht lag es daran, dass Auguste Mahnstein in den letzten Monaten, in denen sie Hedwigs Hilfe hatte entbehren müssen, deutlich gealtert war. Hedwig konnte sich nicht erinnern, dass ihre Mutter bei ihrer letzten Begegnung so gebeugt gegangen war, auch waren die Knöchel ihrer Finger geschwollen, und beim Treppensteigen biss Auguste sich auf die Unterlippe, um nicht vor Schmerzen zu stöhnen.
»Du bist krank, Mutter«, stellte Hedwig fest, als sie miteinander allein waren. »Was sagt der Arzt?«
»Ach, diese Quacksalber, die haben doch keine Ahnung ...«
»Mutti, antworte mir bitte: Hast du dich gründlich untersuchen lassen?«
Auguste seufzte, dann nickte sie und zwang sich zu einem Lächeln.
»Hedi, ich habe zwölf Kinder geboren, bei Siegfrieds Geburt war ich viel zu alt. Es ist zwar gut gegangen, hat aber Spuren hinterlassen. Ich bin eine alte Frau, in deren Gelenken das Rheuma sitzt, da können kein Doktor und keine Medizin auf der ganzen Welt helfen. Das ist der Lauf der Zeit. Jetzt habe ich aber wieder Hilfe von dir, das macht es einfacher.«
In Hedwig regte sich schlechtes Gewissen, die Mutter ein ganzes Jahr allein gelassen zu haben. Auguste sah wahrlich krank und abgearbeitet aus – wie konnte sie es da wagen, ihren eigenen Weg gehen zu wollen? Auguste hatte sie schließlich geboren und war immer für sie da gewesen. Vielleicht konnte sie ihren Traum trotzdem verwirklichen, ohne ihr Elternhaus zu verlassen.
»Ich werde dir zur Hand gehen, so gut es möglich ist«, sagte Hedwig. »Im Zimmer oben werde ich mir eine Werkstatt einrichten, so bin ich immer im Haus, gleichzeitig kann ich mir einen Kundenstamm aufbauen.«
Auguste seufzte. »Das musst du mit deinem Vater besprechen, ich fürchte, er glaubt, dass du wie zuvor nur kleinere Änderungen machen möchtest. Selbst wenn er seine Zustimmung gibt – wovon willst du Stoffe, Garn oder gar eine Nähmaschine kaufen?«
Auguste hatte einen wunden Punkt angesprochen, über den Hedwig grübelte, seit sie die Prüfungen bestanden hatte und von einer Selbstständigkeit träumte. Natürlich könnte sie versuchen, sich als Meisterin bei den ansässigen Schneidereien zu bewerben, die wirtschaftliche Situation hatte sich in den letzten Monaten indes rapide verschlechtert. Seit Anfang des Jahres verfiel die Reichsmark immer mehr, was besonders den Mittelstand hart traf. Lohn, der am Abend ausgezahlt wurde, war am nächsten Morgen schon nichts mehr wert. Die Inflation schritt mit rasenden Schritten voran, nur, wer Sachwerte wie Schmuck, Gemälde oder sonstige Kunstwerke besaß, die er eintauschen konnte, kam noch über die Runden. Auch Hermann Mahnstein schwamm regelrecht im Geld, denn längst wurden Grundnahrungsmittel wie Brot, Butter und Milch mit Geldscheinen in Billionenhöhe bezahlt. Im Westen des Deutschen Reiches waren Streiks und Demonstrationen an der Tagesordnung. Niemand konnte es sich leisten, eine Meisterin einzustellen, außerdem wollte Hedwig sich niemandem unterordnen. Sie wollte ihre Kreationen verwirklichen und ihr eigener Herr sein.
»Zuerst biete ich tatsächlich nur wieder Änderungen gegen Waren an«, antwortete sie nachdenklich. »Die Zeiten werden auch wieder besser und das Geld stabiler. Von dem Lohn kann ich mir dann nach und nach etwas zurücklegen, und in zwei oder drei Jahren eine eigene Nähmaschine kaufen.«
»Ach, Kind, woher nimmst du nur einen solchen Optimismus?«
»Jedes noch so tiefe Tal hat irgendwann ein Ende, und dann führt der Weg wieder nach oben«, antwortete Hedwig voller Überzeugung.
Auguste seufzte, als läge alle Last dieser Welt auf ihren Schultern. »Wir müssen auf Gott vertrauen, er weiß, welcher Weg für uns der Richtige ist und wird uns führen.«
Wenn Auguste keine andere Antwort wusste, berief sie sich auf Gott. Im vergangenen Jahr war sie noch gläubiger geworden. Um das Thema zu wechseln, fragte Hedwig:
»Wo ist eigentlich mein kleiner Bruder? Siggi hat mich noch gar nicht begrüßt.«
Das erste Lächeln des Tages zog über Augustes Gesicht.
»Er ist bei Tante Martha. In den letzten Monaten war sie mir eine große Hilfe, denn ich bin einfach zu alt, um ein Kleinkind aufzuziehen, aber jetzt ...« Vielsagend sah sie ihre Tochter an, und Hedwig verstand. Durch die Meisterschule hatte sich nichts geändert, und ihre Träume einer Selbstständigkeit würden wohl niemals Realität werden.