Читать книгу Ein Mörder zieht die Fäden - Rebecca Michéle - Страница 5

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Higher Barton Romantic Hotel, Dezember 2018

Mit einem schlichten Reifen schob Sandra Flemming ihre dunklen, gewellten Haare aus der Stirn, zupfte den Wasserfallkragen ihres roten Pullovers zurecht, lächelte ihrem Spiegelbild zu und sagte laut: »Dann wollen wir mal, Sandra. Die werden vielleicht Augen machen.«

Bevor sie ihr Cottage verließ, nahm sie den auf dem Tisch liegenden Umschlag und steckte ihn in die Handtasche. Der Brief war ihr heute Morgen per Einschreiben zugestellt worden. Seit Tagen hatte Sandra ungeduldig auf diese Nachricht gewartet, hatte befürchtet, eine Widrigkeit könnte ihre Pläne im letzten Moment zunichtemachen, doch nun war es amtlich und mit allen notwendigen Siegeln beurkundet. So richtig glauben konnte es Sandra immer noch nicht, obwohl Alan Trengove, ihr Anwalt und der Mann ihrer Freundin, seit Wochen darauf hingearbeitet hatte. Eine große Herausforderung stand vor Sandra. In den vierunddreißig Jahren ihres Lebens hatte sie sich nie derart zuversichtlich und voller Tatendrang gefühlt wie am heutigen Tag.

Von dem zweistöckigen, weit über einhundert Jahre alten Cottage mit den weiß getünchten Wänden und den Sprossenfenstern waren es nur wenige Schritte zum Hotel. Obwohl Sandra seit neunzehn Monaten täglich diesen Weg ging, blieb sie nach einigen Yards stehen und blickte auf das Herrenhaus mit dem klangvollen Namen Higher Barton Romantic Hotel. Erbaut vor über vierhundert Jahren aus dem typischen grauen Stein der Gegend, zu Ehren von Königin Elisabeth in Form eines großen E’s, zwei Voll- und ein Dachgeschoss, mit Steinpfosten durchbrochene Fenster, die Scheiben bleiverglast. Higher Barton war der Inbegriff eines elisabethanischen Landsitzes, wie man ihn sich in Südengland vorstellte. Jahrhundertelang war das Haus im Besitz derselben Familie gewesen, vor drei Jahren dann an eine Hotelkette verkauft und umgebaut worden, ohne dass der Charme alter Zeiten verlorengegangen war. Im Frühjahr des vergangenen Jahres war Sandra aus Schottland in den Südwesten Englands gekommen, um das Hotel zu leiten. Zwar war ihr Start in Cornwall holprig gewesen, und auch später hatte Sandra einige Schwierigkeiten überwinden müssen, doch sie war eine Frau, die Hindernissen, gleich welcher Art, entschlossen und mutig entgegentrat. Vor zwei Monaten hatte Sandra befürchten müssen, ihre Stellung zu verlieren. Im Hotel waren schreckliche Dinge geschehen, an denen sie keine Schuld trug und die sie auch nicht hätte verhindern können, doch der Vorstand der Hotelkette sah es anders. Er vertrat die Meinung, Sandra sei als Managerin zu jung und nicht in der Lage, ein entsprechendes Haus zu führen, ohne dass es zu Katastrophen kam. Bei der Erinnerung daran grinste Sandra. Nun hatte sich alles verändert. Wochenlang hatte sie geschwiegen, obwohl sie bei ihren Bemühungen, das Geheimnis zu wahren, fast geplatzt wäre, und heute war es endlich soweit.

Sandra ging die fünf Stufen zum Haupteingang hoch, stieß die nur angelehnte Tür auf und trat in die Halle. Auch hier war das Ursprüngliche längst vergangener Tage weitgehend erhalten geblieben. Die hellgestrichenen Wände zierten alte, nicht mehr funktionstüchtige Waffen und farbenfrohe Drucke mit Motiven der cornischen Klippenlandschaft; in einer Ecke stand eine Ritterrüstung; vor dem mannshohen Kamin mit dem lodernden Feuer lud eine gemütliche Sitzgruppe zum Verweilen und Teetrinken ein. Eine breite, geschwungene Treppe aus poliertem Eichenholz führte in die oberen Etagen. Am letzten Novemberwochenende war Higher Barton weihnachtlich geschmückt worden. Zwischen der Treppe und dem Zugang zu den Wirtschaftsräumen stand eine deckenhohe Tanne, deren Nadeln Wohlgeruch verbreiteten und die geschmückt war mit Dutzenden von Lichtern, Strohsternen und Kugeln aus silber- und goldglänzendem Glas. Es hatte drei starke Männer gebraucht, den Baum aufzustellen. Über dem Kamin baumelte ein Mistelzweig, auf den Tischen standen kleine, liebevoll angefertigte Gestecke aus Tannenzweigen mit jeweils einer Kerze. Jeden Abend achtete Sandra darauf, dass alle Kerzen vorschriftsmäßig gelöscht wurden und verließ das Haus erst, wenn die Dochte erkaltet waren.

Hinter dem Tresen der Rezeption stand eine nicht mehr junge, hagere Frau, gekleidet in ein dunkelblaues Kostüm mit einer roséfarbenen Bluse, das angegraute Haar zu einem lockeren Knoten aufgesteckt.

»Guten Morgen, Sandra.« Eliza Dexter nickte ihr zu. »Was führt Sie ins Hotel? Sie haben heute doch Ihren freien Tag. Gibt es ein Problem?«

»Es ist alles gut, Eliza, Sie ahnen nicht, wie gut und perfekt alles ist!« Bei diesen kryptischen Worten runzelte Eliza die Stirn, um bei Sandras nächsten vor Verwunderung die Augen aufzureißen. »Eliza, sind Sie bitte so freundlich, das Personal zu versammeln. Es sind heute doch alle im Haus, nicht wahr?« Eliza nickte. »In einer halben Stunde im Personalzimmer, dann sind wir mit der Besprechung fertig, bevor der Lunch serviert wird.«

»Eine Personalversammlung?«, fragte Eliza Dexter. »Sandra, ist etwas geschehen, das das erforderlich macht?«

Sandra antwortete nicht, sondern lächelte nur, und Eliza stellte keine weiteren Fragen. Sandra Flemming war die Chefin. Früher hatte Eliza deren Anweisungen häufig infrage gestellt und versucht, Sandras Autorität zu untergraben. In den letzten Monaten hatten sich die beiden Frauen indes angenähert.

Sandra betrat das Büro hinter der Rezeption und schenkte sich aus der bereitstehenden Kanne eine Tasse Kaffee ein. Was Heißgetränke betraf, war Sandra keine typische Britin, da sie Kaffee dem Tee vorzog. Sie war in Schottland geboren und aufgewachsen, hatte ihre Ausbildung zur Hotelfachfrau in London absolviert, danach in Häusern in Frankreich und der Schweiz gearbeitet. Das Klischee, Engländer könnten keinen guten Kaffee zubereiten, war längst überholt. Die Vollautomaten waren auf der ganzen Welt gleich, da brauchte man kein Barista zu sein, um wohlschmeckende Kaffeespezialitäten servieren zu können.

Achtzehn Augenpaare sahen Sandra gespannt entgegen, als sie eine halbe Stunde später das Personalzimmer betrat.

»Danke für Ihre Zeit, ich werde mich kurzfassen, aber ich habe Ihnen wichtige Neuigkeiten mitzuteilen.« Sandra kam gleich zur Sache. »In diesem Hotel wird sich nun einiges ändern.«

»Henderson hat Sie entlassen!« Der rundliche Koch, der Sandra nur bis zur Schulter reichte, sprang auf. »Wir stehen alle hinter Ihnen, das wissen Sie, Sandra. Wenn Sie gehen müssen, gehen wir ebenfalls. Dann sollen die oben in Schottland zusehen, woher sie neues Personal bekommen.«

»Genau!«, rief Eliza, nicht minder erschrocken, auch die Zimmermädchen nickten, und David, der Barkeeper, meinte: »Wir dachten, die Sache wäre vom Tisch. Seit Wochen haben wir nichts mehr vom Vorstand gehört.«

»Nun mal langsam mit den jungen Pferden.« Sandra schmunzelte. Die Reaktionen des Personals rührten sie sehr. Alistair Henderson, der Vorstandsvorsitzende der Kette Sleep and Stay Georgius, kurz SSG genannt, war nicht davor zurückgeschreckt, jeden Angestellten über Sandras Befähigung zu befragen. Bereits damals hatten alle ihre Loyalität zu ihrer Chefin bekundet.

»Sie sind nicht entlassen worden«, sagte Rosa ruhig, »sonst wären Sie nicht so fröhlich.«

»Gut erkannt, Rosa.« Sandra nickte der polnischen Küchenhilfe zu, dann stieß sie hervor: »Ich muss es jetzt sagen, sonst platze ich. Also, die Sache ist die …« Sie machte doch noch mal eine Pause. »SSG hat das Hotel verkauft.«

»Verkauft?«

»An wen?«

»Aber wieso?«

»Was wird jetzt aus uns? Bleibt es ein Hotel? Oder müssen wir alle gehen?«

»Gerade jetzt! Bald ist Weihnachten, und das Haus ist so gut wie ausgebucht.«

Alle redeten durcheinander, die Nachricht hatte wie eine Bombe eingeschlagen. Sandra hob die Hände.

»Bitte, beruhigen Sie sich und hören Sie mir zu! Selbstverständlich bleibt Higher Barton ein Hotel, wenngleich wir uns im kommenden Jahr etwas verkleinern werden. Darüber werden Eliza und ich im Einzelnen noch sprechen. Für Sie alle wird sich nichts ändern.«

»Der neue Eigentümer hat uns übernommen?«, fragte Eliza. »Unsere Arbeitsplätze bleiben unverändert?«

»Nicht ganz, Eliza.« Sandra musste sich beherrschen, um den nötigen Ernst an den Tag zu legen. »Eliza, Sie werden den Posten der Managerin übernehmen.«

»Ich?« Elizas Augen waren zwei große Fragezeichen. »Was ist mit Ihnen, Sandra? Müssen Sie doch gehen? Ich verstehe überhaupt nichts mehr. Wem gehört Higher Barton denn nun? Finden Sie es fair, uns derart auf die Folter zu spannen?«

»Sie haben recht, Eliza«, stimmte Sandra ihr zu. »Die Lage ist so: Der neue Eigentümer, beziehungsweise die neue Eigentümerin, wird sich nach wie vor um die Belange des Hauses und vorrangig um die Gäste kümmern. Sie hat bereits konkrete Pläne, was verbessert werden kann, um effektiver zu arbeiten, dabei wird nichts überstürzt werden. Auf jeden Fall werden Sie, Eliza, von heute an die Leitung von Higher Barton übernehmen. Den entsprechenden Vertrag setzen wir nachher auf.«

»Wieso setzen wir den Vertrag auf?« Eliza stutzte, ihre Lippen formten ein großes O, dann rief sie: »Sie? Sie! Sie haben das Hotel gekauft!«

»Ihre schnelle Auffassungsaufgabe schätze ich sehr an Ihnen, Eliza«, sagte Sandra schmunzelnd, dann sah sie zu den anderen, denen es die Sprache verschlagen hatte. »Um allen Spekulationen aus dem Weg zu gehen: Ein überraschender Lottogewinn ermöglichte es mir, das Haus und das Grundstück von SSG zu erwerben. Alistair Henderson war zu einem Verkauf mehr als bereit nach all dem, was im Herbst geschehen ist. Die endgültigen amtlichen Unterlagen wurden mir heute Morgen zugestellt. Ich werde mich allerdings nicht zur Ruhe setzen, dafür bin ich zu jung, sondern – sozusagen als Repräsentantin – das Hotel und das Wohl der Gäste im Auge behalten.« Sandra sah auf ihre Armbanduhr und fuhr fort: »Das war es im Moment, es wird jetzt Zeit, den Lunch zu servieren. Heute Abend lade ich Sie zu einer kleinen Feier mit Umtrunk ein. Monsieur Peintré«, Sandra wandte sich an den Koch, der immer noch ungläubig den Kopf schüttelte, »seien Sie bitte so freundlich, ein paar Kanapees zuzubereiten.«

»C‘est à en devenir dingue!«, war alles, was der Koch in seiner Muttersprache herausbrachte. Er war Belgier, was zu betonen er nicht müde wurde, stammte aus Namur, der Hauptstadt der wallonischen Region, in der die Amtssprache Französisch war. Mehrmals schon hatte Sandra einen Vergleich zwischen Monsieur Edouard Peintré und Agatha Christies Meisterdetektiv Hercule Poirot gezogen. Auch sie fühlte sich den Figuren der großartigen Schriftstellerin verwandt. In den vergangenen Monaten hatte Sandra zwar nicht verhindern können, dass Menschen in ihrer unmittelbaren Umgebung ermordet wurden, sie hatte jedoch wesentlich zur Überführung der Täter beigetragen. Darauf war Sandra alles andere als stolz und wies jeden Hinweis auf eine lebendig gewordene Miss Marple vehement von sich. Ihr Leben war aufregend genug, auch ohne dass sie sich auf die Spur von Verbrechern begab. Dem Ruf des Hotels hatten die Vorfälle bisher glücklicherweise nicht geschadet, und Sandra war entschlossen, alles zu tun, um nicht erneut in Verbrechen verwickelt zu werden.

Die Angestellten verließen gegen einundzwanzig Uhr die Feier, nur Eliza Dexter blieb noch. Zu dem kleinen Kreis waren auch Ann-Kathrin Trengove, Sandras beste Freundin, und Christopher Bourke, der Chief Inspector von Lower Barton, gestoßen. Zu viert saßen sie jetzt beieinander, und Ann-Kathrin sah immer wieder nervös auf ihre Armbanduhr.

»Er wird bald kommen«, sagte Sandra. »Ich verstehe, dass Alan seinen Termin nicht verschieben konnte.«

Die Freundin nickte. »Der Richter wäre sehr enttäuscht gewesen, wenn Alan heute abgesagt hätte«, erklärte sie. »Der alte Mann hat nur noch wenige soziale Kontakte. Wenn Alan ihn besucht, sie zusammen essen und danach eine Partie Schach spielen, sind die Abende für Richter Audley etwas Besonderes.«

Alan Trengove, seines Zeichens Rechtsanwalt, und zwar einer der erfolgreichsten in Cornwall, traf sich regelmäßig mit Edward Audley. Bis zu seiner Pensionierung war der heute Mittsiebziger oberster Richter am Strafgericht in Truro gewesen. Laut Alans Aussage ein strenger, aber gerechter Mann, dem viele Verbrecher eine harte Strafe zu verdanken hatten. Nach Abschluss des Studiums hatte Alan mit dem Richter zusammengearbeitet, da er zuerst mit einer Tätigkeit als Staatsanwalt oder Richter geliebäugelt hatte. Schlussendlich entschloss sich Alan, auf die andere Seite zu wechseln und als Anwalt die Interessen der Angeklagten zu vertreten. Von Edward Audley hatte er während ihrer gemeinsamen Zeit viel gelernt, schätzte den alten Mann sehr und freute sich seinerseits auf die stets anregenden Gespräche mit ihm. Audley war Witwer, wegen eines Hüftleidens war er auf Gehhilfen angewiesen und verließ nur noch selten das Haus. Nachdem Alan erfahren hatte, dass Sandra ausgerechnet heute Abend die Übernahme des Hotels feiern wollte, hatte er gemeint, er wolle gleich nach dem Essen mit Audley nach Higher Barton kommen.

»Das Schachspiel lasse ich heute ausfallen«, waren Alans Worte gewesen. »Ich lasse es mir nicht nehmen, mit dir, Sandra, auf deinen neuen Lebensabschnitt anzustoßen.«

Alan und seine Frau Ann-Kathrin waren die Einzigen gewesen, die gewusst hatten, dass Sandra eine so große Summe im Lotto gewonnen hatte, um das Hotel kaufen zu können. Alan hatte sich um alle Formalitäten gekümmert, Sandra mit Rat und Tat unterstützt und den Kauf abgewickelt.

Aus dem Augenwinkel sah Sandra jetzt zu Christopher Bourke. Bisher hatte er nur wenig gesprochen und starrte mit ausdrucksloser Miene in sein Glas mit Organgensaft. Die Nachricht, Sandra habe das Hotel gekauft, hatte Christopher sehr überrascht, und sie ahnte, dass er ihr übelnahm, nicht in ihre Pläne eingeweiht gewesen zu sein.

»Hast du einen neuen Fall«, fragte Sandra betont munter, »oder ist es in Lower Barton ausnahmsweise mal ruhig, und die Mörder halten sich von unserem malerischen Ort fern?«

»Nur das Übliche: Schlägereien, Auto- und Ladendiebstähle.« Christopher sah Sandra an. »Kein Mord, und ich wäre dankbar, wenn es dabei bliebe.«

»An mir soll es nicht liegen!«, rief Sandra.

»Na, ich weiß nicht …« Vielsagend zog Christopher eine Augenbraue hoch.

»Du tust gerade so, als wäre ich scharf darauf, dass in diesem Haus wieder jemand umgebracht wird«, erwiderte Sandra empört.

»Streitet bitte nicht!« Ann-Kathrin hob besänftigend die Hände. »Niemand möchte einen weiteren Mord, egal wo. Christopher, ich merke dir an, dass da noch was ist, was wir wissen sollten.«

»Du kennst mich gut, Ann-Kathrin.« Der DCI grinste, fuhr dann aber ernst fort: »Tatsächlich muss ich euch über etwas Wichtiges informieren. Ich habe gewartet, um uns den Abend nicht zu verderben. Letzte Woche floh ein Gefangener aus dem Gefängnis in Bristol. Er kehrte von einem Freigang nicht zurück, und bisher gibt es keine Spur von ihm.«

»Was hat der Mann getan?«, fragte Sandra.

»Doppelmord«, antwortete Christopher. »Die Taten geschahen im Frühjahr 2001, der Mörder wurde zu lebenslanger Haft verurteilt.«

»Ach herrje!« Sandra riss die Augen auf. »Könnte es sein, dass sich der Mörder in unserer Gegend aufhält, weil du über die Flucht informiert bist?«

Christopher nickte ernst. »Der Gesuchte stammt aus Fowey. Seit der Auflösung des dortigen Polizeipostens im Rahmen der allgemeinen Sparmaßnahmen gehören Fowey und die Umgebung zum Ermittlungsgebiet von Lower Barton. Der gesamte Polizeiapparat Englands ist zusätzlich informiert, da wir annehmen, dass er versuchen wird, das Land so schnell wie möglich zu verlassen.« Aus der Innentasche seiner Jacke zog Christopher ein zusammengefaltetes Blatt Papier und reichte es Sandra. »Das Bild ist älter, es kann sein, dass er sich in den letzten Tagen einen Bart hat wachsen lassen.«

Das Foto stellte einen Mann mit dunkelblonden, sehr kurz geschnittenen Haaren, grauen Augen, einer großen, langen Nase und einem markanten Kinn dar.

»Er sieht gar nicht wie ein Mörder aus.«

Christopher lachte. »Wenn wir jedem Menschen den Verbrecher ansehen könnten, würde das unsere Arbeit immens erleichtern.«

»Nicolas Lambourne«, las Sandra den Namen von dem Blatt ab.

Eliza Dexter griff nach dem Zettel, sah sich das Fahndungsfoto an und sagte leise: »Ich erinnere mich an den Fall. Alle Medien berichteten ausführlich über die brutalen Morde, wohl auch, weil es sich bei dem Täter um eine Persönlichkeit der Gegend handelte, dem Sohn von Sir Walter Lambourne, Lord Beechwood von Beechwood House. Besaß die Familie nicht eine Firma?«

Christopher nickte, griff zu der auf dem Tisch stehenden Etagere und nahm einen in lindgrünes Papier eingewickelten, kleinen Keks in die Hand.

»Lambourne Biscuits, einer der besten Keksproduzenten Südenglands. Mit seinem Vater zusammen führte Nicolas Lambourne die Firma, bis er die Taten beging.«

Sandra nickte verstehend. Von der Hauptstraße, die von der A 390 nach Fowey führte, erkannte man etwa zwei Meilen nördlich des kleinen Küstenortes die Gebäude der Keksfabrik. Das Hotel bezog regelmäßig eine Auswahl der dort hergestellten Kekse, die in den Gästezimmern, in der Hotelhalle und den Nebenräumen zum Naschen angeboten wurden.

Christopher wickelte den Keks aus, schob ihn sich in den Mund und murmelte: »Mandel-Kokos in weißer Schokolade, diese Sorte mag ich am liebsten.«

Auch Ann-Kathrin griff nach einem. »Ich bevorzuge Zartbitter-Rum-Nuss«, und aß den Keks mit sichtlichem Genuss.

Sandra hingegen machte sich nicht viel aus Süßem, sie gab herzhaften Speisen den Vorzug.

»Ich glaube nicht, dass sich Lambourne in der Gegend blicken lässt«, fuhr Christopher fort. »Er wird wissen, dass hier besonders intensiv nach ihm gefahndet wird, trotzdem bitte ich euch, Fremden gegenüber vorsichtig zu sein. Selbst wenn du, Sandra«, er zog die Augenbrauen zusammen und sah sie ernst an, »ihn entdecken solltest, informierst du mich augenblicklich! Keine Alleingänge, verstanden?«

»Als ob ich scharf darauf wäre, wieder einem Mörder zu begegnen«, murmelte Sandra, und lauter: »Warum bekommt einer, der zwei Menschen getötet hat, überhaupt Freigang? Das stärkt nicht gerade mein Vertrauen in den Rechtsstaat.«

»Sandra, die Morde liegen über siebzehn Jahre zurück, so lange war Lambourne stets hinter Gittern«, erwiderte Christopher. »Jeder Mensch sollte eine zweite Chance erhalten …«

»Die er sofort nutzt, um abzuhauen!«

»Streitet nicht«, ermahnte Ann-Kathrin die Freunde. »Auch ich glaube nicht, dass Lambourne es wagt, ausgerechnet hierher zu kommen. Wir werden die Augen trotzdem offen halten.«

Die Glocke an der Rezeption erklang. Sandra und Eliza sprangen gleichzeitig auf. »Überlassen Sie das mir, Sandra, das ist heute Ihr Abend«, sagte Eliza.

»Ihr versteht euch inzwischen besser?«, fragte Ann-Kathrin, nachdem Eliza das Zimmer verlassen hatte.

Sandra nickte. »Ich werde zwar weiterhin die oberste Leitung des Hotels innehaben, erteile Eliza aber mehr Verantwortung und auch Prokura. Sie hat ihre Eigenheiten, mit denen ich zurechtkomme, und ich bin ja auch nicht einfach.« Sie zwinkerte Ann-Kathrin zu. »Jeder von uns hat seine Ecken und Kanten.«

»Ich versuche, Alan telefonisch zu erreichen.« Ann-Kathrin stand auf. »Er wollte schon längst hier sein.«

Mit Christopher allein, fragte Sandra: »Bist du mir böse, weil ich dir von dem Lottogewinn und dem Plan, das Hotel zu kaufen, nichts erzählt habe?«

Sandra war eine direkte Frau und redete nicht lange um den heißen Brei herum, besonders nicht bei Menschen, die ihr etwas bedeuteten. Der Beginn ihrer Bekanntschaft mit Christopher war sehr unerfreulich gewesen, der Detective Chief Inspector hatte sie sogar als Tatverdächtige verhaften lassen. Sandra hatte Christopher längst verziehen, denn damals hatte er nicht anders handeln können. Inzwischen waren sie Freunde geworden, und Sandra dachte manchmal, ob es wohl mehr als nur Freundschaft war. Sie konnte Christopher nicht einschätzen. Mal war er aufmerksam, fast schon liebevoll, dann wieder – als hätte man einen Schalter umgelegt – zog er sich zurück und benahm sich ihr gegenüber wie ein professioneller Polizeibeamter. Im vergangenen Herbst hatte Christopher sein Leben riskiert, um Sandra zu retten. Nur einen Tag später hatte er ihr allerdings mit brutaler Deutlichkeit gesagt, er würde es begrüßen, wenn sie Cornwall verließe und nach Schottland zurückginge. Sandra vermutete, seine Worte entsprangen der Sorge um sie, trotzdem hatten sie einen bitteren Beigeschmack.

Weil er auf ihre Frage nicht antwortete, legte Sandra eine Hand auf seinen Unterarm. »Alan wickelte den Verkauf ab, ich wollte nicht, dass außer ihm und Ann-Kathrin jemand davon erfährt. Ich bin nicht abergläubisch, meine Mutter sagt jedoch immer, man solle über wichtige Dinge erst sprechen, wenn nichts mehr dazwischenkommen kann. Alles andere bringe Unglück. Es war also nicht persönlich gegen dich gerichtet, Christopher.«

Die Sandra wohlbekannte Rotfärbung kroch über Christophers Hals bis zu seinen Ohren, die jetzt die Farbe seines kurz geschnittenen Haares annahmen.

»Es ist okay«, antwortete er leise, hob den Kopf und sah Sandra direkt an. »Ich wollte dich etwas fragen.«

»Ja?«

»Also, es ist so …«, er stockte, nun röteten sich auch seine Wangen. Sandra wusste inzwischen, dass Christopher seit seiner Kindheit unter ständigem Erröten litt, was sein Gegenüber unweigerlich mit Unsicherheit oder gar Inkompetenz gleichsetzte. Dabei war der DCI genau das nicht. Er hatte einen scharfen Verstand, war ausgeglichen und beherrscht und betrachtete bei seinen Ermittlungen alle Aspekte. So mancher Verdächtige schätzte Christopher falsch ein, was ihm zum Vorteil gereichte.

»Was möchtest du mich fragen, Christopher?«

»Ach, ich glaube, das geht ohnehin nicht«, wich er aus. »Nachdem das Hotel nun dir gehört, wirst du am kommenden Samstagabend kaum freinehmen können.«

»Warum sollte ich nicht?«, fragte Sandra. »Was ist am Samstagabend?«

»Ein Hotel in Newquay veranstaltet einen Adventstanz.« Christopher stieß die Worte hastig hervor und vermied es, Sandra anzusehen. »Nichts Großes, nur ein bisschen Musik. Ich dachte, ob du nicht … also, vielleicht ist es eine dumme Idee …«

»Christopher, wenn du mich fragen willst, ob ich mit dir zum Tanzen gehen möchte, dann lautet meine Antwort: Ja, das würde ich sehr gern.«

»Wirklich?« Er sah auf, zwischen seinem Teint und seinen Haaren war kein Farbunterschied mehr festzustellen.

»Ich wusste nicht, dass du tanzen kannst«, sagte Sandra. »Ich selbst habe seit Jahren kein Parkett mehr betreten.«

»Ich bin kein großer Tänzer, mir fehlt meistens die Zeit für solche Vergnügungen«, gab Christopher zu. »Du kannst am Samstagabend wirklich von hier weg?«

Sandra nickte. »Über das Wochenende haben wir nur zwei Zimmer vermietet, sozusagen die Ruhe vor dem Sturm. Ab Freitag vor Weihnachten sind wir dann voll belegt. Am Heiligen Abend hat eine Firma für ihre hundert Mitarbeiter die Weihnachtsfeier gebucht, am Weihnachtstag findet mittags das Christmas Dinner statt, und am Abend soll hier getanzt werden. Wir haben mehr Anfragen erhalten, als wir Gäste unterbringen und bewirten können. Demzufolge bin ich der Meinung, dass ich mir durchaus einen freien Abend gönnen kann, bevor es hier rundgeht.«

»Wann kommen deine Eltern?«

»Nächsten Donnerstag«, erwiderte Sandra. »Nachdem meine Mutter alles andere als erfreut war, dass ich auch in diesem Jahr nicht nach Hause kommen werde, hat sie auf meinen Vater so lange eingeredet, bis er zustimmte, den Laden für zwei Wochen zu schließen und nach Cornwall zu reisen.«

Sandras Eltern, deren einziges Kind sie war, besaßen ein Gemischtwarengeschäft in Dufftown im Nordosten der Grampian Mountains. Weit über die Grenzen des Landes hinaus bekannt war die kleine Stadt wegen seiner sieben Whiskybrennereien und galt als Zentrum des Aqua Vitae in Schottland.

Die Tür klappte, und Eliza kehrte zurück. Auf Sandras Frage, was gewesen war, winkte sie ab. »Der Major benötigte ein neues Handtuch, seines fiel ihm in die volle Badewanne und ist nun klatschnass.«

Major Collins, der sein ganzes Leben im Dienst der britischen Armee verbracht hatte, war Dauergast im Higher Barton Romantic Hotel. Der alte Herr war alleinstehend und verfügte über ein gewisses Vermögen, das ihm ermöglichte, eine Suite im Hotel zu mieten. Hier hatte er alles, was er brauchte: drei warme Mahlzeiten am Tag, geputzte Räume und vor allem Ansprache. Er war ein angenehmer Gast, den Sandra und alle Angestellten schnell ins Herz geschlossen hatten.

Nun kehrte auch Ann-Kathrin zurück, dicht hinter ihr Alan Trengove. Er lächelte Sandra entschuldigend an und meinte: »Es tut mir leid, dass ich so spät komme, aber …«

»Ich weiß, der Richter hat dich nicht gehen lassen«, vollendete Sandra seinen Satz, griff nach der Weinflasche und wollte Alan einschenken, er aber schüttelte den Kopf.

»Du kannst ruhig Wein trinken«, sagte Ann-Kathrin. »Du bist jetzt mit dem Taxi gekommen, ich bin mit meinem Wagen hier, habe keinen Alkohol getrunken und fahr uns nach Hause.«

»Ich möchte keinen Wein«, murmelte Alan.

»Geht es dir nicht gut?«, fragte seine Frau, und Sandra ergänzte: »Du siehst blass aus. War das Essen beim Richter nicht gut?«

»Es war köstlich wie immer«, erwiderte Alan und fuhr sich mit dem Handrücken über die Stirn, auf der Schweißperlen standen. »Richter Audleys Haushälterin ist eine hervorragende Köchin, sie verwendet stets frische Produkte.« Alan, der sich noch nicht gesetzt hatte, schluckte plötzlich, murmelte: »Ich fürchte, ich muss mal raus« und rannte davon.

»Oje, ihm geht‘s wirklich nicht gut«, rief Ann-Kathrin. »Verzeih, Sandra, ich muss nach ihm sehen.«

Es vergingen etwa zehn Minuten, bis Sandras Freundin zurückkehrte. Ann-Kathrin stützte Alan, dessen Wangen eine grau-grünliche Färbung angenommen hatten.

»Mir ist so schlecht«, raunte er.

Schnell schenkte Sandra ein Glas Wasser ein. Bevor sie es Alan reichen konnte, verdrehte er die Augen, schnappte nach Luft, dann sackte er wie ein nasser Sack in sich zusammen. Ann-Kathrin konnte ihren größeren und kräftigeren Mann nicht halten. Alan fiel zu Boden.

Alle schrien auf. Christopher, der in Erster Hilfe ausgebildet war, kniete sich neben den Anwalt und tastete nach seinem Puls.

»Er ist schwach und sehr schnell. Wir benötigen einen Arzt und einen Krankenwagen, und zwar rasch.«

»Ich erledige das«, sagte Eliza, das Telefon bereits in der Hand.

Mit weit geöffneten Augen kniete Ann-Kathrin neben ihrem Mann und drückte seine Hand. Alans Lider flackerten, er flüsterte kaum hörbar: »Mein Liebes«, dann verlor er das Bewusstsein.

Ein Mörder zieht die Fäden

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