Читать книгу Ein Mörder zieht die Fäden - Rebecca Michéle - Страница 8

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Wohlig rekelte sich Sandra auf ihrem Bett, ein glückliches Lächeln auf den Lippen. Helles Sonnenlicht fiel durch die Fensterscheiben. Der gestrige Sturm war vorbeigezogen, es regnete nicht mehr. Sandra sah zum Wecker, es war neun Uhr vorbei. Obwohl sie erst gegen vier eingeschlafen war, fühlte sie sich so munter wie nach einem langen Urlaub. Sie drehte sich auf den Bauch und presste ihr Gesicht in das Kissen. Es roch nach Christophers Rasierwasser. Übereinstimmend und ohne viele Worte hatten sie beschlossen, dass er nicht bis zum Morgen bleiben sollte. Die Änderung in ihrer Beziehung war noch zu frisch, um zusammen zu frühstücken. Sie wollten sich Zeit nehmen, es langsam angehen lassen. Sandra war ihm dankbar, dass er auf die Floskel »Ich ruf dich an« verzichtet hatte. Das klang schal und danach, dass man sich vielleicht mal wieder kontaktieren würde, eher wohl nicht. Vorerst wollte Sandra mit niemandem darüber sprechen, was vergangene Nacht geschehen war, nicht einmal mit Ann-Kathrin, obwohl die Freundin schon mehrfach Andeutungen bezüglich Sandra und Christopher gemacht hatte. Sie würde sich für Sandra freuen, zuerst musste Alan wieder gesund zu Hause sein und Ann-Kathrin ihrem Mann von dem neuen Erdenbürger erzählen.

Sandra duschte ausgiebig, föhnte ihr Haar, bis es in sanften Wellen auf ihren Schultern lag, legte dann ein dezentes Make-up auf und zog sich an. In ihren Augen lag ein strahlender Glanz. Ohne eingebildet zu sein, stellte Sandra fest, dass sie sehr hübsch aussah. Sie dachte darüber nach, was Christopher ihr über seine Eltern erzählt hatte. Heather Flemming, Sandras Mutter, war zwar eine Glucke, die nicht aufgab, ihrer erwachsenen Tochter Vorschriften zu machen und Sandra ständig in Gefahren verstrickt sah, während ihr Vater sie immer ihre Wege hatte ziehen lassen. Gleichzeitig fühlte Sandra ein großes Glücksgefühl, liebevolle und besorgte Eltern zu haben. Wenn auch oft anstrengend, war Bemutterung ein Zeichen von Liebe. Sandra wusste, wie sie ihre Mutter zu nehmen hatte. In wenigen Tagen kamen ihre Eltern nach Cornwall, und Sandra freute sich auf die kommende Zeit. Gestern Abend hatte Christopher seine Mutter nicht mehr erwähnt. Irgendwann wollte Sandra ihn fragen, ob er nie daran dachte, sie ausfindig zu machen. Gerade ihm als Polizeibeamten sollte es leichtfallen, eine Spur von ihr zu finden. Wäre sie in seiner Situation, würde sie wissen wollen, was das für eine Frau war, die ihr Baby einfach zurückließ und sich nie nach ihm erkundigte. Aber sie wollte Christopher zu nichts drängen, er war ein Mann, der genau wusste, was er wollte – und was nicht.

Es war halb elf, als Sandra beschwingt die Hotelhalle betrat. Ihr fröhliches »Guten Morgen« und ihr Lächeln auf den Lippen erstarben, als sie Rosa Piotrowski hinter der Rezeption stehen sah, den Telefonhörer fest zwischen Ohr und Schulter gepresst, die Wangen gerötet, und hörte, wie die Küchenhilfe sagte: »Es tut mir leid, aber ich kann Ihnen wirklich nicht mehr sagen. Ich werde mich erkundigen, Sie erhalten einen Rückruf. Wenn Sie mir bitte Ihre Nummer geben?«

Während Rosa einige Zahlen auf einen Zettel kritzelte, kam Major Collins aus dem Restaurant in die Halle. Als er Sandra sah, eilte er auf sie zu und rief: »Ms Flemming, gut, dass Sie endlich da sind! Bitte geben Sie mir die Karte für das Konzert.«

»Welches Konzert?«, fragte Sandra verwirrt, auch, weil Rosa inzwischen das nächste Telefonat angenommen hatte.

»Das Konzert heute Nachmittag in der St Petroc’s Church in Bodmin natürlich«, antwortete der Major in einem Tonfall, als zweifle er an Sandras Verstand. »Eine russische Gruppe präsentiert Stücke von Rachmaninow, Gretschaninow und Tschaikowsky. Es ist ein einmaliges Gastspiel hier im Südwesten, das Konzert ist restlos ausverkauft, und ich habe Ms Dexter bereits vor Wochen gebeten, sich um eine Karte für mich zu kümmern.« Ungeduldig trat der Major von einem Fuß auf den anderen. »In einer Stunde muss ich los, um den Bus zu bekommen, und von Ms Dexter und meiner Eintrittskarte keine Spur.«

»Ich kümmere mich sofort darum, Major«, sagte Sandra. »Ms Dexter wird Ihr Ticket im Büro sicher verwahrt haben. Bitte, warten Sie einen Moment und lassen Sie sich einen Tee servieren, der geht natürlich aufs Haus.«

»Was für ein Durcheinander heute Morgen!« Mit einem unwilligen Schnauben trollte sich der Major, und Rosa hatte das Telefonat inzwischen beendet. Sandra trat zu ihr und fragte: »Was machen Sie an der Rezeption, Rosa? Wo ist Eliza Dexter?«

»Keine Ahnung, ich habe sie heute Morgen noch nicht gesehen.« Rosa zuckte mit den Schultern. »Das Telefon klingelt andauernd, es sind Anfragen wegen des Christmas Dinners und ob wir über die Feiertage noch freie Zimmer haben. Ich habe alles notiert, Ms Flemming, mit den entsprechenden Telefonnummern, und gesagt, Sie rufen zurück.«

»Das war sehr aufmerksam, Rosa«, murmelte Sandra. »Ich frage mich nur, wo Eliza ist? Haben Sie in ihrem Zimmer angerufen oder nachgesehen?«

»Ms Dexter nimmt das Telefon nicht ab, und nein, oben war ich bisher nicht, dafür war keine Zeit.« Ungeduldig trat sie von einem Fuß auf den anderen. »Kann ich wieder in die Küche? Monsieur ist nämlich verärgert, dass ich ihm heute nicht helfen konnte, aber ich konnte die Rezeption doch nicht allein lassen.«

»Warum haben Sie mich nicht angerufen?«

»Auch das habe ich versucht, Ms Flemming«, beteuerte Rosa. »Zweimal sogar, aber auch Sie haben nicht abgenommen. Um zu Ihnen rüberzulaufen, war keine Zeit. Es geht hier zu wie im Taubenschlag. Die Zimmermädchen können auch nicht weg, und David und Lucas sind noch nicht da. Deren Dienst beginnt erst am Nachmittag.«

»Wahrscheinlich war ich unter der Dusche und habe das Telefon nicht gehört«, erwiderte Sandra. »Ich danke Ihnen, Rosa, Sie haben schnell und umsichtig reagiert. Ich übernehme jetzt hier.«

Nachdem die Küchenhilfe gegangen war, griff Sandra nach dem Haustelefon und wählte die Kurzwahl von Elizas Zimmer. Bei der Vorstellung, Eliza könnte verschlafen haben, schmunzelte sie. Eliza war die Korrektheit in Person, ein Mensch, der früh aufstand und stets frisch und munter war, im Gegensatz zu ihr, Sandra, die morgens einige Zeit benötigte, um in Schwung zu kommen. Eliza würde es peinlich sein, verschlafen zu haben. Sandra ließ es zehnmal klingeln – keine Reaktion. Nachher wollte sie hinaufgehen und an ihre Tür klopfen, zuerst musste sie jetzt die Konzertkarte für den Major suchen, da dieser zu Recht verärgert war, falls Eliza diese nicht besorgt hätte. Da klingelte ihr Handy.

»Guten Morgen, Mum«, sagte Sandra nach einem Blick auf das Display. »Was gibt es? Mach schnell, ich hab‘s eilig.«

»Bist du schon wieder im Stress?«, fragte Heather Flemming, Sandras Mutter. »Letzte Woche hast du gemeint, derzeit sei wenig Betrieb im Hotel. Kind, du hast dir zu viel zugemutet! Ein solches Hotel ganz allein zu führen …«

»Bitte, Mum, nicht schon wieder!«, fiel Sandra ihr harscher ins Wort, als es sonst ihre Art war, besann sich sogleich auf ihre Gedanken von vorhin, und fügte versöhnlich hinzu: »Vom Personal ist jemand ausgefallen, und meine Mitarbeiterin hat allem Anschein nach verschlafen. Hier geht es gerade zu wie auf dem Piccadilly Circus zur Rush Hour. Deswegen muss ich jetzt weitermachen, Mum.«

Sie hörte ihre Mutter seufzen, dann sagte Heather Flemming: »Ich wollte nur fragen, ob es okay ist, wenn du uns am Donnerstag vom Flughafen abholst. Sofern keiner mal wieder streikt oder dichter Nebel herrscht, landen wir um zwei Uhr am Nachmittag in Newquay.«

»Das weiß ich, Mum, selbstverständlich hole ich euch ab.«

»Wenn es dir zu viel wird, können Dad und ich auch den Bus nehmen.«

»Das ist viel zu umständlich, ihr müsstet mehrmals umsteigen.«

»Wir können auch einen Wagen mieten.« Sandras Mutter ließ sich nicht beirren. »Wobei ich fürchte, über die Festtage wird es schwer sein, jetzt noch ein Auto zu bekommen.«

»Mum, ich hole euch ab, versprochen!« Ungeduldig sah Sandra auf die Uhr. Noch zwanzig Minuten, dann musste Major Collins los, um rechtzeitig zum Konzertbeginn in Bodmin einzutreffen, und sie hatte keine Ahnung, wo das besagte Ticket war.

»Ich merke, du hast keine Zeit«, sagte Heather Flemming. »Wie immer. Ich hoffe, wenn wir in Cornwall sind, werden wir dich nicht nur ein paar Minuten pro Tag zu Gesicht bekommen.«

»Ganz bestimmt, Mum. Ich habe bereits Pläne für interessante Ausflüge gemacht. Cornwall wird euch gefallen. Grüß Dad bitte von mir.«

Endlich konnte Sandra das Gespräch beenden. Sie schämte sich, gegenüber ihrer Mutter so ruppig gewesen zu sein, inzwischen hatte das Telefon an der Rezeption schon wieder geklingelt und von Eliza immer noch keine Spur. Erleichtert atmete Sandra auf, als sie im Büro im Ablagefach, das Eliza zugeteilt war, ein Kuvert mit der Aufschrift Major Collins und darin die entsprechende Konzertkarte vorfand. Auf Eliza war eben Verlass, was machte es da schon, wenn sie ihren Dienst einmal versäumte? Rosa Piotrowski hatte schnell reagiert und die Rezeption übernommen. Es war beruhigend, über solch zuverlässiges Personal zu verfügen. Das Kuvert in der Hand, wollte Sandra das Büro verlassen, um dem Major die Karte zu bringen, da bemerkte sie einen Briefbogen mit dem Logoaufdruck des Hotels, der auf dem Schreibtisch lag.

Hallo Sandra, meine Tante ist schwer erkrankt und braucht Pflege, las Sandra die handschriftliche Mitteilung. Ich muss zu ihr nach Cardiff fahren. Für dieses Jahr stehen mir noch siebzehn Tage Urlaub zu, die ich ab sofort nehme. Liebe Grüße Eliza.

Sandra sank auf den nächsten Stuhl und starrte fassungslos auf die Worte. Das durfte nicht wahr sein! Eliza konnte nicht jetzt, wenn in wenigen Tagen das Hotel bis unters Dach belegt sein würde, zudem ein Kellner ausfiel, so mir nichts, dir nichts Urlaub nehmen! Das mit der Tante tat Sandra zwar leid, Eliza hätte mit ihr absprechen müssen, dass sie zu ihr fahren will. Die Nachricht über die Erkrankung musste Eliza gestern Abend erhalten haben, was wohl eine sofortige Abreise erforderlich gemacht hatte. Sie, Sandra, war zum Tanzen gewesen und hatte ihr Handy auf lautlos gestellt. Sie schaute auf das Telefon in der Hoffnung, Eliza habe ihr eine Textnachricht zukommen lassen, was nicht der Fall war. Spontan wählte Sandra Elizas Kontakt und drückte auf die grüne Taste. Sie konnte Eliza zwar nicht zurückbeordern, wollte ihr aber sagen, dass sie nicht einfach in Urlaub gehen konnte, ohne jemandem ein Wort zu sagen. Elizas Handy war immer noch abgeschaltet. Ist vielleicht besser so, dachte Sandra, da sie fürchtete, ihrer Mitarbeiterin ein paar unfreundliche Worte zu sagen. Zum weiteren Nachdenken kam sie nicht, da Major Collins mit der Spitze seines Spazierstocks gegen den Türrahmen klopfte und Sandra fragend ansah.

»Ihre Eintrittskarte, Major.« Sandra bemühte sich, unbeschwert zu lächeln, und überreichte dem älteren Herrn das Kuvert. »Ms Dexter hatte sie im Büro deponiert.«

Der Major warf einen Blick auf das Ticket, nickte zufrieden und verließ das Hotel, um den Bus nach Bodmin zu erreichen.

Sandra eilte in die Küche. Das Geschirr vom Frühstück stapelte sich in der Spüle, da es unter der Würde von Monsieur Peintré war, selbst die Spülmaschine einzuräumen und zu bedienen. Das war die Aufgabe der Küchenhilfe.

»Ich brauche dringend einen Kaffee«, sagte Sandra. »Schwarz und stark bitte!«

»Ohne Milch, Ms Flemming?«, fragte Rosa, da Sandra ihren Kaffee sonst mit reichlich weißem Schaum bevorzugte.

Sandra schüttelte den Kopf. »Jetzt nicht. Rosa, Monsieur Peintré …« Der Koch unterbrach das Schneiden des Gemüses, das er für den Lunch vorbereitete, und sah zu Sandra. »Eliza Dexter hat Urlaub genommen«, platzte Sandra heraus. »Ihre Tante ist krank, sie ist zu ihr gefahren, um sie zu pflegen.«

»Oje, ausgerechnet jetzt!« Rosa stöhnte, der Koch verdrehte die Augen. »Ist sie bis Weihnachten zurück?«

»Ich fürchte nicht«, erwiderte Sandra, »da sie ihren gesamten restlichen Jahresurlaub genommen hat.«

»Warum hat sie uns nichts gesagt?«, brummte Monsieur Peintré unwillig.

Das möchte ich auch gern wissen, dachte Sandra und war entschlossen, mit Eliza nach deren Rückkehr ein ernstes Wort zu sprechen. Laut sagte sie: »Ms Dexters Ausfall ist ebenso wie der von Harry sehr bedauerlich, wir haben jedoch alles sehr genau geplant. Wir schaffen das!«

Rosa lachte laut, dann sagte sie: »Ich wusste gar nicht, dass Sie ein Faible für die deutsche Kanzlerin haben, Ms Flemming!«

Sandra brauchte einen Moment, dann verstand sie den Scherz und lachte mit. Heute Morgen war sie entspannt aufgewacht. Von der Tatsache, dass Eliza Dexter einfach abgereist war, ohne sie darüber zu informieren, wollte sich Sandra die gute Laune nicht verderben lassen. Diese Tante musste wirklich sehr schwer krank sein, sonst wäre Eliza nicht derart überstürzt verschwunden. Wahrscheinlich hatte sie einen Unfall, vielleicht auch einen Herzinfarkt oder Schlaganfall erlitten. Wenn sie außer Eliza niemanden hatte, war ihrer Mitarbeiterin keine andere Wahl geblieben. Sandras Glücksgefühl vom vergangenen Abend und der Nacht hielt nicht nur an, sondern gab ihr Kraft. Im Hotelbetrieb gab es immer wieder stressige Zeiten, in denen man kaum Ruhe fand, aber sie war jung, gesund und belastbar. Außerdem war sie ihr eigener Chef und arbeitete nicht länger für eine Hotelkette, die ihr bei der ersten Gelegenheit, wenn es mal nicht so lief, die Pistole auf die Brust setzte.

Apropos Pistole, dachte Sandra schmunzelnd. Eliza und Harrys Abwesenheit würde sie bewältigen, daran zweifelte sie nicht, Hauptsache, sie oder Higher Barton wurden nicht wieder in ein Verbrechen verwickelt. Was den flüchtigen Mörder betraf, der inzwischen drei Menschen auf dem Gewissen hatte, vertraute Sandra dem Apparat der britischen Polizei, allen voran Christopher Bourke. Sie glaubte nicht, dass Nicolas Lambourne sich in der Nähe aufhielt. Er hatte seine Rache an dem Richter, der ihn zu lebenslanger Haft verurteilt hatte, vollzogen, was sollte Lambourne noch in Cornwall wollen? Es musste ihm klar sein, dass nach ihm eine breitgefächerte Fahndung im Gang war. Trotzdem wollte Sandra im Hotel vorerst lieber keine Produkte von Lambourne Biscuits anbieten. Wahrscheinlich hatte Christopher recht, Nicolas Lambourne konnte unmöglich ganze Chargen von Keksen vergiften, sie wollte dennoch kein Risiko eingehen.

Sandra straffte den Rücken und warf ihre Haare zurück. Sie fühlte sich, als könne sie mit ihrem kleinen Finger die Welt aus den Angeln heben.

Auf ihr Personal war Verlass. Sandra hatte die Hausmädchen Imogen, Holly und Sophie sowie den Kellner Lucas und den Barkeeper David über Elizas überraschenden Urlaub informiert und mit den Worten: »Wir alle müssen jetzt die Ärmel hochkrempeln und kräftig mit anpacken« geendet.

»Das ist echt blöd«, sagte Lucas direkt. »Meine freien Abende kann ich wohl in den Wind schießen, Hauptsache, Harry wird bald wieder gesund.«

»Am Abend kann ich Lucas im Service helfen«, bot Sophie an. »Ich habe früher oft gekellnert.«

Wohlwollend nickte Sandra und erwiderte: »Die anfallenden Überstunden werden euch selbstverständlich vergütet.«

Dieses Angebot lehnte natürlich niemand ab, auch wenn mehr Gehalt den Mangel an Freizeit nicht ausglich. Entschied man sich für das Gastronomiegewerbe, so wusste man, dass man gerade dann, wenn die anderen frei hatten und ausgelassen feierten, am anstrengendsten arbeiten musste.

Am nächsten Tag galt es, mit Mrs Roberts, der örtlichen Metzgerin, die endgültigen Bestellungen an Fleisch- und Wurstwaren zu besprechen, was sonst in Elizas Aufgabenbereich lag. Da Sandra die Rezeption nicht verlassen konnte, rief sie Mrs Roberts an, erklärte ihr kurz die Umstände und fragte, ob es ihr möglich sei, für eine Stunde nach Higher Barton zu kommen.

»Selbstverständlich, Ms Flemming«, entgegnete die Metzgerin. »Ich mache mich gleich auf den Weg. Montags ist im Laden nie viel los, Ben kann die Kundschaft allein bedienen.«

Ben Triggs, ein junger Mann mit Trisomie 21, half regelmäßig bei Mrs Roberts aus. Seine Behinderung war zwar deutlich zu sehen, er war aber freundlich, und die Kunden zeigten Geduld, wenn Ben sie langsamer als Mrs Roberts bediente. In einem so kleinen Ort wie Lower Barton kannte jeder jeden, und das Schicksal von Bens Mutter war allen geläufig. Ihr Ehemann hatte sie verlassen, weil er mit einem behinderten Kind nicht zurechtkam, seitdem lebten sie von Sozialhilfe.

Agnes Roberts war eine mittelgroße, korpulente Frau Anfang Sechzig, ihr Geschäft war die einzige Metzgerei in Lower Barton. Da die Kunden bei Mrs Roberts die allerbeste Qualität erhielten, brauchte sie die Konkurrenz des großen Supermarktes am Ortsrand nicht zu fürchten, auch wenn dieser günstiger war.

»Meine Kunden wissen, woher ich meine Produkte beziehe«, sagte Mrs Roberts stolz. »Bei mir gibt es kein Fleisch aus Massentierhaltung oder mit schädlichen Hormonen, ich arbeite ausschließlich mit den lokalen Farmern zusammen. Die meisten Leute sind gern bereit, ein paar Pfund mehr auszugeben.«

Da Eliza Dexter und Agnes Roberts sich seit ihrer Jugendzeit kannten, belieferte die Metzgerin das Higher Barton Romantic Hotel mit ihren Fleisch- und Wurstwaren. Nach Sandras Anruf hatte sie sich gleich auf den Weg gemacht, jetzt saßen sich Sandra und sie im Büro gegenüber. Die Tür war offen, damit Sandra die Rezeption im Auge behalten und das Telefon bedienen konnte.

»Eine Tante hat Eliza nie erwähnt«, sagte Mrs Roberts, nachdem Sandra ihr in knappen Sätzen von dem überraschenden Urlaub ihrer Mitarbeiterin erzählt hatte, und fügte als Erklärung hinzu: »Wahrscheinlich handelt es sich um eine weitläufige Verwandtschaft. Es ehrt Eliza, dass sie alles stehen und liegen lässt, um jemandem zu helfen. In der heutigen Zeit wird ein solches Verhalten immer seltener, jeder denkt nur noch an seine eigenen Belange.«

Sandra nickte und widerstand dem Impuls, ungeduldig den Knopf des Kugelschreibers mehrmals zu drücken. Sie wollte zur Sache kommen.

»Mrs Roberts, wenn wir jetzt bitte die Listen durchgehen können?«

»Aber sicher, Ms Flemming.« Sie schmunzelte mokant. »Ich habe inzwischen erkannt, dass Sie nur ungern über Privates sprechen.«

Sandra ließ die Bemerkung unkommentiert.

In der nächsten halben Stunde besprachen die beiden Frauen die Waren, die Mrs Roberts am Vormittag des Heiligen Abends anliefern sollte. Erleichtert hakte Sandra diesen Punkt auf ihrer To-do-Liste ab. Sie wollte gerade aufstehen und Mrs Roberts verabschieden, als diese unvermittelt sagte: »Eine scheußliche Sache, was dem Richter passiert ist, und der nette Mr Trengove wäre beinahe auch getötet worden. Ich hörte, es geht ihm wieder besser.«

Längst fragte sich Sandra nicht mehr, wie schnell sich Nachrichten in Lower Barton verbreiteten und wie Mrs Roberts immer als Erste über alles informiert war. Ihr Laden war eine Art Nachrichtenstützpunkt für viele, denn, wenn etwas geschah, positiv oder, wie im aktuellen Fall, negativ: Mrs Roberts wusste stets mehr, als von den verantwortlichen Stellen preisgegeben wurde, wusste wahrscheinlich sogar mehr als die Betroffenen selbst.

»Der Mörder könnte noch in der Gegend sein«, fuhr Mrs Roberts fort. Sie merkte nicht, dass Sandra wie auf glühenden Kohlen saß und mit ihrer Arbeit fortfahren wollte. »An den damaligen grausigen Doppelmord erinnere ich mich noch gut. Niemand hätte Lambourne eine solche Tat zugetraut, er war immer so freundlich gewesen.«

»Sie kannten Nicolas Lambourne?« Mrs Roberts war es gelungen, Sandras Interesse zu wecken. Lambourne war schließlich dafür verantwortlich, dass der Mann ihrer besten Freundin, die zudem noch schwanger war, beinahe gestorben wäre.

»Kennen ist zu viel gesagt.« Mrs Roberts zuckte mit den Schultern. »Die Lambournes sind eine alteingesessene cornische Familie, sie leben ja nur ein paar Meilen von hier in der Nähe von Fowey. Schon bevor die Morde geschahen, war Lambourne Biscuit eine beliebte Gebäckmarke. Ich habe immer eine Auswahl von Keksen im Haus und nasche gern. Haben Sie das Lavendel-Shortbread schon mal probiert, Ms Flemming? Köstlich!«

»Ich esse nur selten Süßes«, erwiderte Sandra. »Was geschah nach Lambournes Verurteilung? Wurde die Firma verkauft? Ich hörte, Nicolas Lambourne wäre der einzige Sohn gewesen.«

»Da sind Sie nicht richtig informiert, Ms Flemming.« Mrs Roberts streckte ihren Rücken durch, ihre Wangen röteten sich, und Sandra kannte schon das gespannte Funkeln in ihren hellgrauen Augen. Jetzt war die Metzgerin in ihrem Element, denn sie liebte es, über solche Dinge zu sprechen, auch wenn sie lange Zeit zurücklagen.

»Nicolas Lambourne schien der einzige Erbe zu sein, das ist richtig, zumindest war er das einzige Kind aus der Ehe von Lord und Lady Beechwood. Die Lady war etwa zwei oder drei Jahre, bevor das Schreckliche geschah, gestorben. Als Lambourne seine Frau und deren Liebhaber erschoss, nahm die Tat seinen Vater derart mit, dass er schwer erkrankte. Seinen Geschäften konnte er deshalb kaum noch nachgehen. Auf einmal tauchte ein anderer Mann auf, ein paar Jahre jünger als Nicolas, und es hieß, er wäre der uneheliche Sohn von Lord Beechwood. Näheres erfuhr niemand. Der alte Lambourne stand plötzlich offen zu seinem Sprössling, arbeitete diesen ein und übergab ihm bald schon die Geschäftsleitung.«

»Ist dieser Lord Beechwood noch am Leben?«, fragte Sandra.

Mrs Roberts schüttelte den Kopf. »Er starb vier Jahre, nachdem Nicolas verurteilt worden war. In den letzten zwei Jahrzehnten wuchs und expandierte die Firma unter der Leitung des anderen Sohnes stetig. Na ja, das Geld aus dem Erbe trug dazu natürlich bei.«

»Das Erbe des alten Lambournes?«

»Nein, da war kaum Geld vorhanden, deswegen hat Nicolas Lambourne seine Frau doch erschossen.« Mrs Roberts sah Sandra mit einem Blick an, als müsse Sandra dies wissen. »Die Firma stand am Rand der Pleite, so musste Nicolas Lambourne eine vermögende Frau heiraten, um das Unternehmen zu retten. Allerdings schlossen sie einen Ehevertrag, bei einer Scheidung hätte die junge Lady Beechwood alles Geld, das sie in die Firma investiert hat, wieder zurückbekommen, zusätzlich zu einer entsprechenden Gewinnbeteiligung. Die Frau hat Lambourne nach Strich und Faden betrogen. Er konnte sich nicht auf legalem Weg von ihr trennen, ohne nicht vollkommen ruiniert zu werden. Ihm, als verurteiltem Mörder, stand dann von dem Erbe seiner Frau, das immer noch beachtlich war, natürlich nichts zu, sein Vater bekam alles und nach ihm sein außerehelich gezeugter Sohn. So wendete sich alles zum Guten.«

»Abgesehen davon, dass zwei unschuldige Menschen sterben mussten«, ergänzte Sandra bitter. Normalerweise interessierte sie sich nicht für Klatsch. Sie bevorzugte Fakten, aber in jedem Gerücht steckte auch ein Körnchen Wahrheit. Durch Alan Trengove war sie indirekt mit Nicolas Lambourne konfrontiert, so waren die Ausführungen von Mrs Roberts hochinteressant, auch wenn sie nicht dazu beitragen konnten, den skrupellosen Dreifachmörder dingfest zu machen. Das war Sache der Polizei, sie, Sandra, würde sich heraushalten. Nicht nur, weil ihr die Arbeit ohnehin keine Zeit ließ, Detektivin zu spielen – die Erlebnisse vom Herbst steckten ihr noch in den Knochen. Nie mehr wollte sie sich derart unvorsichtig, eigentlich schon dumm, verhalten und ihr Leben aufs Spiel setzen.

Die ersten Gäste, die jetzt zum Lunch eintrafen, beendeten die Unterhaltung. Mrs Roberts war alles losgeworden, was ihr zu dieser Sache auf dem Herzen gelegen hatte, und musste in ihren Laden zurückkehren. Sandra holte sich ein Gurken-Thunfisch-Sandwich aus der Küche und aß es, während sie die gestrige Buchhaltung im Rechner eintrug. Da ploppte eine Nachricht auf ihrem Handy auf:

Guten Morgen, Sandra, oder vielmehr guten Mittag!

Sie schmunzelte, die Textnachricht kam von Christopher Bourke.

Ich hoffe, Du hast Dich richtig ausgeschlafen. Es war ein wunderschöner Abend und eine noch schönere Nacht. Wenn Du möchtest, sollten wir das bald wiederholen. Leider kann ich heute nicht nach Higher Barton kommen. So ist es eben, wenn man Chef ist: Nehme ich mir einen freien Abend, muss ich das heute nacharbeiten. Nach dem Mord an Richter Audley sind Greenbow und ich in den Fall Lambourne involviert. Wir sehen uns die Tage, das verspreche ich.

Alles Liebe Christopher

Für einen Moment dachte Sandra daran, dem DCI von Elizas plötzlichem Urlaub zu berichten, entschloss sich jedoch, es nicht zu tun. Er hatte seinen Job, sie ihren, und Elizas Abwesenheit war ihre Angelegenheit. Daher schrieb sie nur zurück, sie hätte im Hotel auch viel zu tun und würde sich über ein baldiges Wiedersehen freuen.

Ein Mörder zieht die Fäden

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