Читать книгу Ein Mörder zieht die Fäden - Rebecca Michéle - Страница 6

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Es wurde ein Uhr, dann zwei, schließlich halb drei. Immer wieder blickte Sandra auf ihr Handy in Erwartung einer Nachricht von Ann-Kathrin. Diese war im Rettungswagen mitgefahren, Sandra, die die Freundin hatte begleiten wollen, war es verwehrt worden.

»Es ist gut, Sandra«, hatte Ann-Kathrin gesagt. »Solange wir nicht wissen, was Alan fehlt, können wir im Krankenhaus ohnehin nichts ausrichten.«

Christopher Bourke war gegen Mitternacht gegangen mit der Bitte, ihn zu informieren, wie es Alan ging. Auch Eliza Dexter hatte sich zurückgezogen. Wie ein Raubtier im Käfig lief Sandra in ihrem Cottage auf und ab. An Schlaf war nicht zu denken. Gerade als sie eine weitere Kanne Tee aufbrühte, hörte sie Motorengeräusch und sah mit einem Blick aus dem Fenster die Lichter eines Wagens sich der Auffahrt zum Hotel nähern. Es war ein Taxi, und Ann-Kathrin stieg aus. Sandra lief ihr entgegen, breitete die Arme aus, und die einen Kopf kleinere Frau schmiegte sich an sie.

»Die Ärzte haben mich weggeschickt, ich könne nichts tun und stünde nur im Weg rum«, brach es aus Ann-Kathrin hervor. »Sie haben Alan den Magen ausgepumpt und ihn in ein künstliches Koma versetzt. Er schwebt in Lebensgefahr.«

»Komm rein, ich habe gerade Tee gemacht.«

Widerstandslos ließ sich Ann-Kathrin in Sandras Cottage führen.

»Ist es okay, dass ich gekommen bin?«, flüsterte sie. »Allein zu Hause halte ich es jetzt nicht aus. Ich muss einfach mit jemandem sprechen.«

»Du kannst bleiben, solange du willst. Ist es eine Lebensmittelvergiftung?«

Ann-Kathrin zuckte mit den Schultern. »Im Moment spricht alles dafür. Alans Mageninhalt wird so schnell wie möglich untersucht. Sie werden auch den Richter aufsuchen. Wenn es am Essen lag, dann muss es Audley ebenfalls schlecht gehen.«

»Alan wird es schaffen«, sagte Sandra überzeugter, als ihr zumute war. »Er ist noch jung, kräftig und war immer gesund. Von einem vielleicht verdorbenen Lachs lässt Alan sich doch nicht unterkriegen, da hat er schon ganz andere Dinge durchgestanden.«

Sandras Bemerkung entlockte Ann-Kathrin die Andeutung eines Lächelns. Sie strich sich eine Strähne ihres braunen, glatten Haares hinter ein Ohr und erwiderte: »Das Krankenhaus ruft mich sofort an, wenn es eine Veränderung gibt. Sandra, ich habe Angst. Ich habe wirklich große Angst!«

Sandra schloss die Freundin wieder in die Arme. Sie wünschte, sie könnte Ann-Kathrin besser trösten als nur mit hoffnungsvollen Worten.

»Darf ich mich auf dein Sofa legen?«, fragte Ann-Kathrin. »Schlafen werde ich wohl nicht können, aber ich will etwas ausruhen, schließlich muss ich in ein paar Stunden in die Schule.«

»Nicht in dieser Situation!«, rief Sandra. »Du kannst unmöglich morgen zum Unterricht gehen!«

»Solange Alan im Koma liegt, kann ich nichts tun«, antwortete Ann-Kathrin gefasst. »Der Unterricht wird mich ablenken, und am Nachmittag fahre ich wieder ins Krankenhaus. Meine Zwerge kann ich doch nicht im Stich lassen! Wir wollen Strohsterne basteln, die Kinder freuen sich seit Tagen darauf.«

Ann-Kathrin Trengove war Lehrerin an der Primary School in Polperro. Sie unterrichtete Kinder im Alter zwischen fünf und zwölf Jahren in den Fächern Englisch, Rechnen, Lesen, Schreiben, Geografie und Geschichte.

»Warten wir die Nacht ab«, sagte Sandra. »Ich bin sicher, bald kommt ein Anruf mit einer positiven Nachricht. Möchtest du nicht doch einen Tee trinken? Ich könnte schnell ins Hotel rübergehen und einen Kräutertee holen, den habe ich leider nicht im Haus.«

»Das ist lieb von dir, aber nicht notwendig.«

»Wie wäre es mit einem Whisky?«, schlug Sandra vor. »Du weißt, für uns Schotten ist Whisky das Heilmittel für nahezu alles, und er beruhigt.«

»Wenn du einen Schluck trinken möchtest, nur zu, für mich bitte nicht.« Der Blick, mit dem Ann-Kathrin Sandra ansah, war verzweifelt, trotzdem lächelte sie. »Auf Alkohol muss ich in den nächsten Monaten ohnehin komplett verzichten.« Ann-Kathrin legte eine Hand auf ihren Bauch.

Sandras Augen weiteten sich, und sie rief: »Ann-Kathrin! Ist das wirklich wahr?«

Die Freundin nickte. »Alan weiß es noch nicht, ich wollte abwarten, bis ich mir völlig sicher bin und es ihm an Weihnachten sagen. Ein größeres Geschenk kann ich Alan nicht machen, und nun …« Ihre Stimme brach, und sie schluckte schwer. »Vielleicht wird Alan nie erfahren, dass er Vater wird.«

»Er wird es bald erfahren«, erwiderte Sandra entschlossen. »Alles wird gut, du wirst sehen.«

Sandra war kein sehr gläubiger Mensch, die Kirche und die Religion waren in ihrem Elternhaus nie von Bedeutung gewesen, jetzt aber betete sie wortlos. Ann-Kathrin und Alan waren die liebenswertesten und besten Menschen, die Sandra jemals kennengelernt hatte. Gott – oder das Schicksal – konnte – durfte! – es nicht zulassen, dass ihr Glück jäh zerstört wurde.

Es war sechs Uhr am Morgen, als Ann-Kathrins Handy klingelte. Sie sah auf das Display, ihre Hände begannen zu zittern.

»Das Krankenhaus«, flüsterte sie heiser.

»Soll ich abnehmen?«, fragte Sandra. »Wobei sie mir keine Auskunft geben werden.«

»Ich muss es selbst tun, egal, welche Nachricht mich erwartet.« Mit wachsbleichem Gesicht nahm Ann-Kathrin das Gespräch entgegen. Sandra hörte sie »Ja, nein«, dann wieder: »Ja, selbstverständlich« und schließlich: »Ich komme am frühen Nachmittag« sagen. Nachdem sie das Telefonat beendet hatte, sah sie Sandra an. »Alan ist über den Berg, es besteht keine akute Lebensgefahr mehr. Er ist noch im Koma, da seine Vitalfunktionen massiv geschwächt sind. Die Ärzte untersuchen jetzt, ob die Vergiftung seine Leber und die Nieren angegriffen hat, das wird noch ein paar Tage dauern.«

»Er wird wieder gesund, ganz sicher!« Sandra drückte die Hand der Freundin. »War der Fisch der Auslöser?«

»Das Labor arbeitet noch an der Auswertung«, antwortete Ann-Kathrin. »Machst du mir bitte einen starken Tee? Den brauche ich jetzt, dann fahre ich in die Schule. Du musst auch ins Hotel rüber. Ich halte dich auf dem Laufenden, wie es Alan geht.«

Sandra bewunderte die Freundin für ihre Stärke und ahnte, dass es in Ann-Kathrin anders aussah.

»Du darfst dir nicht zu viel zumuten«, ermahnte sie die Freundin. »Du bist nicht mehr allein nur für dich verantwortlich.«

Ein nahezu verklärtes Lächeln erhellte Ann-Kathrins Gesichtszüge.

»Das werde ich, darauf kannst du dich verlassen. Wenn Alan erfährt, dass er Vater wird, wird ihm das ein Ansporn sein, ganz schnell wieder gesund zu werden.«

Immer wieder schweiften Sandras Blicke zu ihrem Handy, das griffbereit neben ihr lag. Es fiel ihr schwer, sich auf die Arbeit zu konzentrieren, dabei gab es für die Weihnachtsparty und das Christmas Dinner noch viel zu organisieren. Endlich, um zwei Uhr am Nachmittag, ploppte eine Nachricht auf. Sandra las: Alans innere Organe sind okay, er wird wieder ganz gesund werden, die Ärzte lassen ihn zur Sicherheit noch ein paar Tage im Koma. Lots of Love, AK.

Sandra seufzte erleichtert, und Eliza Dexter sah sie erwartungsvoll an.

»Alan Trengove ist auf dem Weg der Besserung«, erklärte Sandra ihrer Mitarbeiterin.

Auch Eliza freute sich über diese gute Nachricht. Sie hatte mit Alan und Ann-Kathrin bisher nur oberflächlich zu tun gehabt, dennoch hatte sie Alans Zusammenbruch sehr erschreckt. Sandra verschwieg, dass ihre Freundin in anderen Umständen war, denn sie hatte Ann-Kathrin versprochen, niemandem etwas zu sagen, bevor nicht Alan die freudige Nachricht erfahren hatte.

Nun endlich konnte sich Sandra auf die Sitzplatzplanung für das Dinner konzentrieren. Etwa zwei Stunden später erhielt sie eine weitere Nachricht von Ann-Kathrin: Die Polizei war vorhin hier und stellte viele Fragen. Christopher ist nun auf dem Weg zu Dir. AK.

Sandra runzelte die Stirn und tippte die Frage zurück, warum die Polizei im Krankenhaus war. Eine Antwort erhielt sie nicht.

Eine halbe Stunde später betrat Christopher Bourke das Hotel. Er begrüßte Sandra zwar mit einem Lächeln, wirkte gleichzeitig sehr ernst. Ernst und berufsmäßig, dachte Sandra, die diesen Gesichtsausdruck bei Christopher bestens kannte.

»Alan geht es besser«, sagte sie.

Er nickte. »Ich weiß, ich komme gerade aus dem Krankenhaus.«

»Das hat Ann-Kathrin mir gerade mitgeteilt. Warum mischt sich die Polizei bei einer Lebensmittelvergiftung ein?«

»Der Auslöser für Alans Vergiftung war kein verdorbenes Lebensmittel«, erklärte Christopher. »Alan hat einen wachsamen Schutzengel gehabt, der Richter hatte leider nicht so viel Glück.«

»Richter Audley!«, rief Sandra und schlug sich gegen die Stirn. »Sorry, den habe ich völlig vergessen! Ann-Kathrin hatte den Ärzten gesagt, Alan habe bei ihm gegessen, und es hieß, man wolle nach ihm sehen. Was ist mit dem Richter?«

»Er ist tot«, antwortete Christopher schonungslos. »Noch in der Nacht wurde seine Haushälterin informiert, die nach Audley sah. Da kam schon jede Hilfe zu spät. Heute Vormittag versuchte ich, mit der Frau zu sprechen. Sie ist völlig außer sich und im Moment zu keiner Aussage fähig. Sie macht sich Vorwürfe, dass ihr Essen schuld am Tod des Richters sei, dabei legt sie, ihren Worten nach, großen Wert auf gute Qualität der Nahrungsmittel.«

»Du sagst, es lag nicht am Essen.« Sandra sah ihn fragend an. »Was ist los, Christopher? Warum erkrankte Alan so schwer und starb der Richter?«

Christopher lächelte schief. »Ich will dir alles sagen, was wir bisher wissen. Allein aus dem Grund, weil du dich sonst wieder in Dinge einmischst, die dich nichts angehen und dich in Gefahr bringen könnten.«

»Es geht mich sehr wohl etwas an, wenn der Mann meiner Freundin mit dem Tod ringt«, warf Sandra ein.

Zu Sandras Überraschung nickte Christopher. »Das sehe ich ebenso, und bei allem, was wir inzwischen wissen, ist es unbedingt erforderlich, dass du dich heraushältst. Alan und der Richter aßen Kekse, die mit Gift präpariert waren.«

Sandra taumelte und klammerte sich haltsuchend an die Kante des Tresens. Mit einem Schritt war Christopher neben ihr und legte einen Arm um sie.

»Gehen wir in dein Büro«, sagte er sanft. »Es ist wohl besser, wenn du dich setzt.«

Sandra ließ sich von Christopher ins Büro führen. Als sie saß, merkte sie, wie sie am ganzen Körper zitterte. Erwartungsvoll sah sie den Freund an und sagte: »Erzähl mir bitte alles!«

»Es handelt sich um Rattengift«, erklärte er. »Ganz normales Rattengift, das man überall kaufen und noch einfacher übers Internet beziehen kann. Das Labor fand Spuren des Giftes in Alans Mageninhalt und auch schon in seinem Blut. Die Spurensicherung hat alle Lebensmittel im Haushalt des Richters mitgenommen und untersucht, darunter eine angebrochene Packung Kekse, die noch auf dem Esszimmertisch lag.«

»Was für Kekse?«, fragte Sandra verwirrt.

»Wie ich dem Gestammel der Haushälterin entnehmen konnte, wurde die Packung gestern Vormittag mit der Post geliefert. Ohne Absender, lediglich mit einer Notiz versehen, es sei eine kleine Aufmerksamkeit für Richter Audley. Wahrscheinlich, weil Alan es eilig hatte, nach Higher Barton zu kommen, hat er nur zwei oder drei Kekse gegessen. Mit einem Schnelltest hat das Labor festgestellt, dass auch die Kekse in der Packung das Gift, das bei Alan festgestellt wurde, enthalten. Die Obduktion von Richter Audley, die in dieser Stunde beginnt, wird uns Gewissheit bringen. Im Gegensatz zu Alan war Richter Audley ein alter Mann und, laut Aussage seiner Haushälterin, gesundheitlich angeschlagen.«

Sandra schüttelte ungläubig den Kopf, kombinierte schnell und richtig und stieß hervor: »Wenn es sich wirklich so zugetragen hat, dann war es …«

»Mord«, vollendete Christopher den Satz mit einem grimmigen Nicken. »Im Moment spricht alles dafür, dass Edward Audley mit Vorsatz getötet wurde.«

»Ein Richter hat sicher Feinde«, mutmaßte Sandra, »Audley war seit Jahren pensioniert. Kann es jemand sein, den er einst verurteilte, der inzwischen wieder auf freiem Fuß ist und eine Rechnung mit dem Richter offen hat?«

Christopher stieß einen verächtlichen Laut aus, dann sagte er nur zwei Worte: »Nicolas Lambourne.«

Im ersten Moment konnte Sandra mit dem Namen nichts anfangen, dann erinnerte sie sich an das Gespräch vom vergangenen Abend. Wegen den dramatischen Ereignissen hatte sie nicht mehr daran gedacht.

»Du meinst, dieser entflohene Mörder könnte etwas damit zu tun haben?«

»Constable Greenbow hat heute Vormittag bereits herausgefunden, dass Richter Audley Lambourne zu der lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilte. Die beim Richter gefundene Kekspackung stammt von Lambourne Biscuits, es handelt sich um die mit Orangenfüllung und Schokoladenüberzug, die ich, nebenbei bemerkt, auch sehr gern esse.«

»Ach herrje, und Lambourne befindet sich auf der Flucht«, schlussfolgerte Sandra. » Wahrscheinlich plante Lambourne all die Jahre, sich an dem Mann, der ihn hinter Gitter brachte, zu rächen.«

»Die Kollegen in Bristol werden Lambournes Mithäftlinge befragen, ob er entsprechende Andeutungen gemacht hat.«

»Und wenn, ich glaube nicht, dass ein Häftling einen anderen verrät.« Sandra winkte ab. »Lambourne muss Hilfe von außerhalb gehabt haben, schon um sich das Gift zu besorgen. Da landesweit nach ihm gefahndet wird, kann er nicht einfach in ein Geschäft gehen und Rattengift kaufen, und wie sollte er es übers Internet bezogen haben? An welche Adresse schicken lassen, wie es bezahlen?« Sie sah Christopher auffordernd an. »Ihr müsst klären, zu wem Lambourne aus dem Gefängnis heraus Kontakt hatte.«

»Ich merke, wie deine detektivische Ader aktiviert ist, und deine schnelle Auffassungsgabe habe ich immer bewundert.« Christopher lachte schallend. »Sandra, ich habe dir mehr erzählt, als ich dürfte, einzig aus dem Grund, weil ich vermeiden will, dass du selbst in der Sache herumstocherst.«

»Warum sollte ich das tun?«, fragte Sandra mit einem Ausdruck absoluter Unschuld. »Okay, Alan ist zu einem zufälligen Opfer geworden, glücklicherweise wird er wieder ganz gesund. Den Tod des Richters bedaure ich natürlich, dem Mann bin ich aber nie begegnet. Keine Sorge, Christopher, die Belange hier im Hotel werden mich genügend fordern, dass ich mich in deine Arbeit nicht einmischen werde.«

»Kann ich das bitte schriftlich haben?«, fragte Christopher mit gespieltem Ernst. »Nur für den Fall der Fälle.«

Sandra grinste, dann sprang sie so hastig auf, dass ihr Stuhl wackelte. »Die Kekse!«, rief sie. »Ich muss sofort alle Kekse in diesem Haus einsammeln! Lambourne hat vielleicht alle vergiftet, dann …«

Christopher hielt sie am Arm fest und lachte verhalten. »Das ist übertrieben, Sandra. Die Kekse, die du deinen Gästen anbietest, wurden lange vor Lambournes Flucht produziert und von dir gekauft. Darüber hinaus: Wie sollte es ihm gelingen, eine ganze Produktion zu vergiften? Er wurde nicht einmal in der Nähe der Fabrik gesehen, die Familie ist über seine Flucht informiert, alle halten die Augen nach Lambourne offen.«

»Trotzdem werde ich die Kekse sofort entfernen«, beharrte Sandra, und Christopher versprach, sie mitzunehmen und Stichproben im Labor testen zu lassen.

»Ich gehe nicht davon aus, dass Lambourne noch mehr Produkte vergiftet hat«, fügte Christopher an. »Es sieht alles danach aus, dass er Richter Audley gezielt töten wollte.«

»Du erwähntest die Familie des Mörders«, sagte Sandra, »leitet diese die Firma?«

Christoper nickte. »Sein Bruder und dessen Frau führen die Fabrik, nachdem Nicolas Lambourne verurteilt wurde. Kurz danach starb sein Vater, das habe ich den Akten entnommen. Sandra, da ist noch etwas, das du wissen solltest.« Er machte eine bedeutungsvolle Pause und sah Sandra fest an.

»Was noch?«

»Die Akte Nicolas Lambourne ist nicht digitalisiert, mein Mitarbeiter, Constable Greenbow, hat erste Informationen aus Exeter, wo der Prozess stattfand, erhalten. Er ist ein pfiffiger Bursche und hat schnell Schlüsse gezogen, die sich leider als richtig herausgestellt haben.«

»Welche Schlüsse?«, rief Sandra. »Spann mich doch nicht so auf die Folter, Christopher!«

Er atmete tief ein und wieder aus, dann sagte er: »Nicolas Lambourne leugnete immer, die Morde begangen zu haben. Seine Verurteilung beruht auf einem fehlenden Alibi, einem starken Motiv und auf Indizien, die derart hieb- und stichfest waren, dass dem Richter nichts anderes übrigblieb, als ihn zu lebenslanger Haft zu verurteilen. Während des Verfahrens wurde Edward Audley von einem jungen Rechtsgelehrten unterstützt, der wesentlich in das Zusammentragen der Indizien involviert war. Als Audley den Urteilsspruch gegen Lambourne fällte, saß der junge Mann neben dem Richter im Saal.«

Christopher musste nicht weitersprechen. Hektisch schlossen und öffneten sich Sandras Finger, sie bemerkte es kaum. Heiser flüsterte sie: »Der junge Mann war Alan Trengove. Mein Gott, dann plante Lambourne, auch ihn zu vergiften.«

»Davon gehe ich aus«, stimmte Christopher zu. »Lambourne muss herausgefunden haben, dass Alan gestern Abend bei Audley eingeladen war. Ich schlage vor, wir trinken jetzt eine Tasse Tee, beziehungsweise du einen Kaffee mit Milchschaum. Eine Stärkung haben wir beide nötig.«

Sandra nickte und bat flehend: »Du wirst Lambourne finden, nicht wahr? Du wirst ihn wegen des neuen Mordes und des Mordversuchs an Alan wieder hinter Gitter bringen?«

»Dein Vertrauen in meine Fähigkeiten ehrt mich, Sandra, ich allein werde allerdings nicht viel ausrichten können. Der gesamte Polizeiapparat Englands ist involviert, alle Flug- und Schiffhäfen und die Behörden am Eurotunnel sind informiert. Will er die Insel verlassen, muss sich Lambourne irgendwo ein Ticket kaufen. Illegal kommt niemand aus unserem Land heraus. Wir bekommen ihn, Sandra, das verspreche ich dir!«

»Wenn Lambourne Hilfe von außerhalb hat, wovon auszugehen ist, wird er sich einen neuen Pass besorgen, mit dem ihm die Flucht gelingen könnte.« Sandra lächelte beklommen. »Ich hole dir jetzt Tee und mir einen Kaffee. Noch etwas, Christopher …«

»Ja?«

»Ich nehme an, unsere Verabredung für Samstag ist passé, nachdem du dich um einen neuen Mordfall kümmern musst.«

Er grinste, wirkte wie ein großer Lausbub, errötete aber nicht, als er antwortete: »Ich denke, ich werde mir am Samstagabend ein paar Stunden frei nehmen und mich von Greenbow vertreten lassen. Telefonisch werde ich ohnehin immer erreichbar sein. Um nichts in der Welt möchte ich mir entgehen lassen, dir beim Tanzen auf die Zehen zu treten.«

Mit seinen Worten hatte Christopher Sandras Anspannung gelockert. Lachend erwiderte sie: »Dann werde ich mir sicherheitshalber Schuhe mit Stahlkappen besorgen, obwohl ich fürchte, diese sehen nicht besonders schick aus.«

»Egal, was du trägst, Sandra, du wirst immer gut aussehen.«

Sandra schluckte, heiß stieg es in ihre Wangen. Ein solches Kompliment hatte Christopher ihr nie zuvor gemacht, und sie wusste nicht, ob er sie nicht nur auf den Arm nehmen wollte. In den letzten Monaten brachte er sie immer öfter in Verlegenheit, dabei hatte Sandra früher gedacht, Christopher in puncto Schlagfertigkeit überlegen zu sein. Ein Irrtum, wie sie auch jetzt wieder feststellen musste.

Das Klingeln des Haustelefons entband sie einer Antwort. Es war Eliza, die aufgeregt rief: »Kommen Sie schnell, Sandra, Harry ist gestürzt. Auf der oberen Treppe im Ostflügel.«

Ohne sich weiter um Christopher zu kümmern, rannte Sandra die breite Freitreppe hinauf, zwei Stufen auf einmal nehmend, dann den Korridor mit den getäfelten Wänden und den Porträts vergangener Bewohner des Herrenhauses entlang. Am Fuß der schmalen Steintreppe, die ins Dachgeschoss des Ostflügels führte, lag der junge Mann, das Gesicht vor Schmerzen verzerrt, Eliza kniete neben ihm und zog ihm vorsichtig den linken Schuh aus.

»Was ist passiert?«, fragte Sandra.

»Ich bin gestolpert«, presste Harry hervor. »Bin plötzlich umgeknickt.« Er stöhnte laut, als Eliza seinen Strumpf herunterschob. »Verdammt, tut das weh!«

Nun sah Sandra das Malheur: Der Fußknöchel des Kellners war bereits stark angeschwollen, die Haut verfärbte sich in ein dunkles Rot.

»Ich habe Imogen gebeten, den Krankenwagen zu rufen«, erklärte Eliza. »Harry, bleib ruhig liegen. Ich bin in Erster Hilfe ausgebildet und befürchte, das Sprunggelenk ist gebrochen.«

»Sicher nur eine Bänderdehnung«, stöhnte Harry, Schweißperlen auf der Stirn.

Das Hausmädchen Imogen trat zu ihnen und reichte Eliza ein feuchtes Handtuch. »Der Rettungsdienst wird in ein paar Minuten da sein.«

Binnen weniger Stunden zweimal der Krankenwagen im Hotel, dachte Sandra. Glücklicherweise waren kaum Gäste im Haus. Wer Urlaub machte, wollte nicht mit Krankheiten und Unfällen konfrontiert werden. An Harrys Sturz war wenigstens nichts Seltsames oder gar ein Anschlag zu vermuten.

Sanft wickelte Eliza das feuchte Tuch um Harrys Sprunggelenk. Er schloss die Augen, lehnte sich zurück, sein Atem kam stoßweise. Sandra bewunderte Eliza, wie überlegt sie mit der Situation umging. Nun fühlte sie nach Harrys Puls und sprach beruhigend auf ihn ein.

Als Sandra den Signalton des Rettungswagens hörte, lief sie nach unten, um die Sanitäter zu empfangen. In der Hotelhalle traf sie auf Major Collins, ihren Dauergast. Eine Hand auf den versilberten Griff seines Gehstockes gestützt, sah er Sandra erschrocken an und fragte: »Schon wieder die Rettung im Haus? Wird das zur Dauereinrichtung, oder ist jemand ermordet worden?«

»Gott behüte«, rief Sandra. »Harry, der Kellner, ist auf der Treppe gestürzt und hat sich den Knöchel verletzt.«

Sofort wirkte Major Collins betroffen, er mochte Harry sehr. Nahm sich der Kellner doch immer Zeit, den Erinnerungen des Majors zu lauschen, wenn dieser von den Abenteuern seines Lebens erzählte. Sandra zweifelte zwar daran, dass alles der Realität entsprach, dem alten Mann tat die Ansprache aber gut.

Zwanzig Minuten später fuhr der Rettungswagen mit Harry davon. Eliza informierte die Freundin von Harry, mit der er in Lower Barton zusammenwohnte, und bat sie, ein paar Sachen zusammenzupacken und ins Krankenhaus nach Bodmin zu bringen.

»Es ist wahrscheinlich eine Sprunggelenkfraktur«, hörte Sandra ihre Mitarbeiterin am Telefon sagen. »Sehr schmerzhaft, aber nicht gefährlich. Machen Sie sich bitte keine Sorgen.« Sie beendete das Gespräch, dann sagte sie mit einem bitteren Lächeln zu Sandra: »Selbst, wenn es nur ein Bänderriss sein sollte, wird Harry für längere Zeit ausfallen. Dabei brauchen wir über die Feiertage jede Hand.«

»Ich werde versuchen, für die Weihnachtstage eine Aushilfe zu engagieren«, erwiderte Sandra.

»Woher wollen Sie so kurzfristig jemanden bekommen?«, fragte Eliza zweifelnd. »Es herrscht Hochsaison in Cornwall, alle Hotels und Restaurants sind bis auf den letzten Platz belegt. Eine gute Gelegenheit für ältere Schüler und Studenten, sich über Weihnachten ein paar Pfund dazuzuverdienen. Ich fürchte, wir werden ohne Hilfe auskommen müssen.«

»Ich werde Emma fragen, sie hilft in dieser Situation bestimmt gern«, murmelte Sandra und zog sich ihre Jacke an, um Emma Penrose aufzusuchen. Eliza hielt sie am Arm fest.

»Äh, Sandra …«, sie grinste, »haben Sie vergessen, dass Emma und George Penrose vor drei Tagen nach Teneriffa geflogen sind? Sie wollen erst Ende Januar wiederkommen.«

Sandra schloss die Augen und seufzte. Daran hatte sie tatsächlich nicht gedacht, dabei hatte Emma ihr den Schlüssel für ihr Haus gegeben, damit Sandra dort nach dem Rechten sehen konnte. Bisher war das nicht nötig gewesen. Wenn Emma und George früher verreist waren, hatte Sandra deren Katze Lucky gefüttert, mit ihr gespielt und ihr Fell gebürstet. Im letzten Sommer war die schöne Katzendame leider gestorben, was Emmas Herz sehr berührt hatte. Die Penroses gehörten seit Jahrzehnten zu Higher Barton, hatten den früheren Eigentümern gedient und nach dem Verkauf ein lebenslanges Wohnrecht in ihrem Cottage am Rand des weitläufigen Hotelparks erhalten. Emma und George Penrose waren in ihren Fünfzigern, finanziell abgesichert, und immer gern bereit, im Hotel auszuhelfen, wenn Not am Mann war. So wie jetzt, dachte Sandra, die beiden hatten sich aber einen längeren Urlaub auf der kanarischen Insel mehr als verdient. George Penroses Kniegelenke waren von Arthrose befallen, das feuchte, neblige Klima verursachte ihm zusätzliche Schmerzen. Bereits der letzte Winter war für Cornwall ungewöhnlich kalt und sogar schneereich gewesen, auch im vergangenen Herbst hatte es schon mehrere Nächte mit strengem Frost gegeben. Von ihrer Heimat Schottland an Eis und Schnee gewöhnt, machte Sandra das nichts aus, für die Einwohner Cornwalls war diese Kälte jedoch außergewöhnlich. Der Großteil der Wohnhäuser, besonders die älteren, war auf Minustemperaturen nicht eingestellt. Wände und Dächer waren nicht isoliert, es gab keine doppelverglasten Fensterscheiben, die Heizungen, vorrangig mit Gas gespeist, wärmten die Räume nur unzulänglich. Üblicherweise war der Winter in Cornwall regnerisch und mild, Frost und Schnee gab es selten, wenn doch, dann lediglich auf den Hügeln im Bodmin Moor. Oft lagen die Temperaturen im zweistelligen Celsiusbereich.

»Der allgemeine Klimawandel macht sich auch bei uns bemerkbar«, hatte Ann-Kathrin gesagt, als im vergangenen Februar Fotos und Videos von verschneiten Küstendörfern in den Nachrichten die Runde machten. »Ich kann mich nicht erinnern, dass Polperro jemals unter einer derart dicken Schneeschicht lag.«

»Ich las auf einer Plattform einen Post von jemandem, der meint, die Wetterveränderung wäre die Strafe für den Brexit«, hatte Sandra geantwortet und gelacht. »Auch wenn ich den Austritt unseres Landes aus der EU für einen fatalen Fehler halte, eine solche Behauptung mutet mich an wie aus dem Mittelalter, wo Hexen für schlechtes Wetter verantwortlich gemacht wurden.«

Sandra dachte, dass Emma und George von dem Anschlag auf Alan nichts wussten und beschloss, das Paar nicht zu informieren. Alan befand sich auf dem Weg der Besserung, und Sandra bezweifelte, dass die Penroses Richter Audley gekannt hatten, daher wollte sie die beiden nicht unnötig beunruhigen. Sie sollten ihren Urlaub auf Teneriffa ungestört genießen.

»Wir bekommen das hin.« Eliza berührte Sandra am Arm, ihr Lächeln war zuversichtlich. »Wir haben noch eine knappe Woche, um alles vorzubereiten, und Sie werden auch ausreichend Zeit haben, sich um Ihre Eltern zu kümmern. Ich halte Ihnen den Rücken frei.«

»Danke, Eliza«, antwortete Sandra. »Das Wichtigste ist ohnehin, dass Alan und Harry ganz schnell wieder gesund werden.«

Ein Mörder zieht die Fäden

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