Читать книгу Ein Mörder zieht die Fäden - Rebecca Michéle - Страница 7

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Auf Sandras Bett stapelten sich Blusen, Pullover, Hosen und Röcke. Sie knöpfte sich das Oberteil zu, das sie gerade angezogen hatte, betrachtete ihr Spiegelbild und schüttelte dann den Kopf. Die dunkelrote Bluse passte zwar gut zu ihren dunklen Locken, erschien ihr allerdings zu provozierend. Rot war die Farbe der Liebe, und hieß es nicht: Eine Frau, die bei einem Date Rot trägt, signalisiert deutliche Absichten?

Sandra grinste und streckte ihrem Spiegelbild die Zunge raus, dann sagte sie laut: »Das ist kein Date! Ich gehe mit einem guten Freund zum Tanzen, nicht mehr und nicht weniger. Kein Grund, nervös zu sein. Christopher wird es vollkommen egal sein, welche Farbe ich trage.«

Trotzdem zog Sandra die Bluse wieder aus, warf sie zu den anderen aufs Bett und wählte eine brombeerfarbene Tunika mit halblangen Trompetenärmeln, dazu trug sie einen wadenlangen, leicht ausgestellten Rock. Ihre Haare ließ Sandra offen über die Schultern fallen, und ihr Make-up war dezent. Es war lange her, dass sie beim Tanzen gewesen war. Das Higher Barton Romantic Hotel verfügte im ersten Stock über einen großen Ballsaal mit Parkettboden, dort fanden an Sonntagnachmittagen immer wieder Tanztees statt. Als Hotelchefin konnte sie daran natürlich nicht teilnehmen. In Newquay kannte sie keiner, und niemand würde ihr ansehen, dass sie selbst ein Hotel führte. Heute Abend wollte sie ganz einfach nur Gast sein und sich verwöhnen lassen.

Eine halbe Stunde, bevor Christopher sie abholen wollte, ging Sandra ins Herrenhaus hinüber. In der Halle war alles ruhig, das Restaurant, das auch externen Gästen offenstand, war noch geschlossen, und neue Anreisen waren an diesem Wochenende nicht zu erwarten. Eliza saß am Schreibtisch im Büro, die Tür zur Rezeption hin geöffnet, und lächelte Sandra entgegen.

»Gut sehen Sie aus«, sagte sie zu Sandras Erstaunen. Die herbe, oft spröde wirkende Frau neigte nicht dazu, anderen Komplimente zu machen.

»Ist es wirklich in Ordnung, wenn ich Sie heute Abend allein lasse?«, fragte Sandra.

»Haben Sie bloß kein schlechtes Gewissen«, antwortete Eliza. »Sie haben sich den freien Abend mehr als verdient, besonders nach den Aufregungen der letzten Tage. Dieses Wochenende ist die Ruhe vor dem Sturm. In einer Woche werden wir nicht mehr wissen, was wir zuerst tun sollen, da tut es gut, noch einmal tief durchzuatmen und Kraft für die Feiertage zu tanken.«

»Wie geht es Harry?«, fragte Sandra.

»Den Umständen entsprechend. Das Sprunggelenk ist spiralförmig gebrochen. Er musste operiert werden, es wird mindestens zwei oder gar drei Monate dauern, bis er das Bein wieder voll belasten kann.«

»Das bedeutet, wir werden jemanden einstellen müssen, bis Harry wieder ganz gesund ist.«

»Nach Weihnachten kümmere ich mich darum«, versprach Eliza. »Sagen Sie Ihrem Chief Inspector, er möge vorsichtig fahren, das Sturmtief Deidre soll unsere Gegend heute Nacht ziemlich durchrütteln. Jetzt ab mit Ihnen, Sandra. Genießen Sie den Abend, und morgen schlafen Sie sich aus.«

»Sie machen auch bald Feierabend.«

»›Ich werde nachher noch die eingelagerten Tische und Stühle durchzählen und checken, ob sie alle in Ordnung sind«, erwiderte Eliza. »Das geht schnell, dann mache ich mir einen gemütlichen Abend.«

Sandra lachte, hob mahnend den Finger. »Passen Sie auf, dass Sie nicht auf der Treppe stolpern wie Harry. Ein Verletzter unter dem Personal reicht.«

Eliza versprach es, zwinkerte Sandra zu und widmete sich wieder der Tabelle auf dem Bildschirm. Entgegen Elizas Worten hatte Sandra doch den Anflug eines schlechten Gewissens, dass sie sich vergnügen ging und es Eliza überließ, sich um das Mobiliar zu kümmern. Im Ostflügel unter dem Dach befanden sich mehrere Zimmer, in dem all die Dinge lagerten, die für den täglichen Hotelbetrieb nicht notwendig waren. Zu den Glanzzeiten Higher Bartons, als vermögende Adlige hier residierten, waren in diesen Räumen das umfangreiche, schwere Gepäck der Herrschaften sowie ausrangierte Möbelstücke aufbewahrt worden. Sogar einen Lastenaufzug gab es in der Victorianischen Zeit, um den Transport zu erleichtern, doch dieser war längst stillgelegt. Nachdem Sandra nach Higher Barton gekommen war, hatte sie diesen Teil des Dachbodens inspiziert und Anweisung gegeben, die Räumlichkeiten, die zum Teil über keine Fenster verfügten, gründlich zu reinigen und weiterhin als Lagerräume zu nutzen. Mabel Clarence, die das Haus an die Hotelkette verkauft hatte, hatte ihnen keinen Ramsch hinterlassen, sondern nur Dinge und Möbel, die durchaus noch zu gebrauchen waren. Da sie für die Weihnachtsparty am Heiligen Abend deutlich mehr Sitzgelegenheiten benötigten, als im Speisesaal vorhanden waren, wollten Sandra und Eliza auf diesen Fundus zurückzugreifen. Mit entsprechenden Hussen kamen die alten Stühle gut zur Geltung. Nach dem Anschlag auf Alan hatte Sandra nicht mehr daran gedacht und war Eliza dankbar, dass sie sich darum kümmern wollte.

Christopher Bourke war auf die Minute pünktlich. Er parkte direkt vor dem Portal, sprang aus dem Wagen und öffnete die Beifahrertür, erst dann lief Sandra die wenigen Schritte durch den strömenden Regen zum Auto. Ganz Gentleman half Christopher ihr beim Einsteigen, obwohl er dabei nass wurde.

»Typisch cornisches Winterwetter«, sagte Christopher. »Eben kam im Radio die Meldung, dass heute Morgen das Eden Project geschlossen werden musste, da die Wassermassen die Wege überschwemmen.«

Das Eden Project, zwölf Meilen westlich von Higher Barton gelegen, war eine der touristischen Attraktionen nicht nur Cornwalls, sondern ganz Südenglands. Die Anlage umfasste einen weitläufigen botanischen Garten mit zwei übergroßen Gewächshäusern, riesigen runden Kuppeln gleich. In einem herrschte ein tropisch-feuchtes, im anderen ein subtropisch-trockenes Klima. Nahezu alle auf der Welt vorkommenden Pflanzen konnte man hier bestaunen. Zahlreiche von Sandras Gästen besuchten das Eden Project und berichteten, dass es in einer der großen Blasen, wie die Kuppeln gern genannt wurden, sogar angelegte kleine Seen und einen Wasserfall gab. Sandra bot als Service an, Eintrittskarten über das Hotel zu kaufen, denn die Warteschlangen an den Kassen des Eden Projects waren lang. Sie selbst war noch nie dort gewesen und beschloss, zusammen mit ihren Eltern die Anlage zu besuchen.

»Zu Hause, ich meine, oben in Schottland, hat es schon geschneit«, sagte Sandra zusammenhangslos.

»Heimweh?« Christopher warf ihr einen Seitenblick zu.

»Nein, eigentlich nicht. Zwölf Jahre habe ich in verschiedenen Ländern Europas gearbeitet und war monatelang nicht in Schottland. Wenn man sich für einen Job im Hotelgewerbe entscheidet, darf man nicht unter Heimweh leiden. Nur an Weihnachten – da wäre Schnee schön, er gehört irgendwie dazu.«

»Das kann durchaus noch passieren, oder wir bekommen an den Feiertagen so hohe Temperaturen, dass wir in T-Shirts in der Sonne sitzen werden.«

Christopher lachte, die Scheibenwischer klackten im regelmäßigen Rhythmus über die Windschutzscheibe.

»Hast du über Weihnachten Dienst oder besuchst du deine Eltern?«, fragte Sandra.

Trotz der Dunkelheit im Wagen bemerkte Sandra, wie ein Schatten über sein Gesicht fiel.

»Da Constable Greenbow Frau und Kinder hat, habe ich ihm freigegeben. Zumindest, wenn nicht wieder etwas geschieht, was wir alle hoffen. Ich …«, er räusperte sich, »ich habe keine Eltern mehr.«

»Das tut mir leid.« Sandra meinte es aufrichtig. Obwohl sie sich seit über eineinhalb Jahren kannten, hatte er nie über seine Familie gesprochen.

Leise und ruhig erklärte Christopher: »Meine Mutter habe ich nie kennengelernt. Sie wollte kein Kind haben und war erst neunzehn, als es passierte. Ich war sozusagen ein Unfall. Später erfuhr ich, dass sie sogar abtreiben wollte. Mein Vater konnte sie zwar davon abbringen, heiraten wollte sie ihn dennoch nicht. Als ich vier Monate alt war, packte sie ihre Sachen und verschwand ins Ausland. Ich habe nie wieder von ihr gehört.«

»Das tut mir leid.« Sandra wusste, dass sie sich wiederholte, andere Worte fielen ihr im Moment nicht ein. Sie legte ihre Hand auf seinen Unterarm.

»In direkter Nachbarschaft lebte eine Großcousine meines Vaters«, fuhr Christopher fort, ohne einen Blick von der Straße zu nehmen. »Sie und ihr Mann hatten drei eigene Kinder, wie die Orgelpfeifen, und sie betreuten mich, wenn mein Vater bei der Arbeit war. Tante Caren und Onkel Michael waren sozusagen meine Ersatzeltern, und mein Vater war auch immer für mich da. Ich hatte großes Glück, solche Menschen zu haben, anderen Kindern ergeht es viel schlechter. Besonders, als dann …« Er zögerte, Sandra spürte, dass ihn etwas quälte. »Als ich elf Jahre alt war, starb mein Vater.« Sandra zuckte zusammen, mit einer solchen Nachricht hatte sie nicht gerechnet. »Es war ein Unfall, ein dummer Zufall. In Ausübung seiner Pflicht – so wurde es genannt, was es trotzdem kein bisschen leichter macht.«

»War er Soldat?«, fragte Sandra.

Christopher schüttelte den Kopf. »Er war Detective Chief Inspector, Leiter des Reviers in Truro. Tragischerweise geschah es an seinem freien Tag. Mein Vater liebte die Klippen, ging regelmäßig auf dem Coast Path wandern, um sich von seiner Arbeit zu entspannen. An jenem verhängnisvollen Tag war er oberhalb der Prussia Cove, ein paar Meilen östlich von Marazion. Warst du schon mal in dieser Gegend?«

»Nein.« Sandra fror plötzlich, obwohl die Autoheizung auf höchster Stufe stand.

»Die Bucht war der Stützpunkt des Schmugglers John Carter, ein Gastwirt aus Fowey, der sich dort vor über zweihundert Jahren auf den Klippen eine kleine Festung gebaut hat, um sich gegen Feinde zu verteidigen.«

»Ann-Kathrin hat mir von John Carter und seinem seltsamen Ende erzählt«, flüsterte Sandra. »Im Pub The King auf Prussia in Fowey habe ich schon einmal einen Kaffee getrunken.«

»Auf den Klippen befinden sich noch heute die Ruinen der einstigen Festung. Gerade als mein Vater daran vorbeiging, hörte er eine Frau schreien. Eine Wanderin, wie sich später herausstellte. Sie wurde von zwei jungen Männern bedrängt. Mein Vater zögerte nicht lange, das hätte er auch getan, wenn er nicht Polizist gewesen wäre. Es kam zu einem Handgemenge, dann zog einer der Männer ein Messer und stach so schnell zu, dass mein Vater nicht mehr ausweichen konnte. Später, vor Gericht, gab der Täter an, er habe sich nur verteidigen, auf keinen Fall töten wollen, entschuldigte sich und zeigte aufrichtige Reue. Für ihn sprach auch, dass er sofort einen Notruf abgesetzt hatte und er und sein Kumpan nicht geflüchtet waren. Sie hatten sogar versucht, Erste Hilfe zu leisten. Mein Vater aber verblutete noch auf den Klippen.«

Sandra wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie kauerte sich auf dem Sitz zusammen, die gefalteten Hände im Schoß. Christopher bremste und fuhr in eine der kleinen Ausweichbuchten neben der Straße. Dort schaltete er die Innenbeleuchtung an, drehte sich zu Sandra, nahm ihre Hände und sagte ernst: »Ich bin froh, dir das alles erzählt zu haben, bisher war nie der richtige Zeitpunkt dafür gewesen. Wie ich eben sagte, waren meine Tante und mein Onkel wie Eltern zu mir, es hat mir an nichts gefehlt. Noch heute sehen wir uns regelmäßig, ebenso meine Cousine und Cousins, sie leben alle mit ihren Familien in Cornwall. Nur damals, nach dem Tod meines Vaters, da fing das bei mir an …« Er lächelte verlegen. »Das Erröten bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit.«

»Ich finde es charmant«, erwiderte Sandra.

Christopher lachte und drückte ihre Hände. »Da bist du so ziemlich die Einzige, Sandra. Die Geschichte meiner Kindheit soll uns aber nicht diesen Abend verderben. Wir wollen tanzen und uns amüsieren. Nur noch eines: Nachdem das meinem Vater passiert war, stand für mich fest, ebenfalls Polizist zu werden. Meine Tante meinte zwar, ich wolle es, weil ich es meinem Vater schuldig zu sein glaubte. Vielleicht war es anfangs so, je älter ich wurde, desto mehr spürte ich, dass ich meinen Beitrag leisten will, das Verbrechen in unserem Land zu bekämpfen. Heute möchte ich keinen anderen Job, aber jetzt genug von den alten Geschichten! Wir müssen uns beeilen, sonst fängt das Tanzvergnügen noch ohne uns an.«

»Nur noch eines, Christopher, wenn ich darf …?« Aufmunternd nickte er, und Sandra sagte: »Die Männer damals, besonders der, der das getan hat, was ist aus ihnen geworden?«

Christopher hörte die versteckte Frage aus Sandras Tonfall heraus und antwortete: »Ich habe ihnen verziehen. Der Täter wurde zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt, die er inzwischen abgesessen haben muss, sein Begleiter kam mit einer Bewährungsstrafe davon. Ich vermute, du fragst dich, ob ich jemals Rachegedanken gegen den Täter gehegt habe. Das war und ist nicht der Fall. Ich habe nie nachgeforscht, wo er sich heute aufhält und was aus ihm geworden ist. Anders wäre es auch eine denkbar schlechte Voraussetzung, um ein guter Polizist zu sein.«

Mit einem unbeschwerten Lachen startete er wieder den Motor und fuhr an. Eine warme Welle durchflutete Sandra und vertrieb die Kälte. So sehr sie es bedauerte, dass Christopher seine Eltern früh verloren hatte: Dass er es ihr anvertraut hatte, berührte sie.

Sicher lenkte Christopher das Auto über die schmale, gewundene Straße zuerst nach Lower Barton, dann durch mehrere kleinere Ortschaften, bis er auf die ausgebaute A 30 wechselte. Hier, auf der freien Ebene, tobte heftig das Sturmtief Deidre. Der DCI verringerte die Geschwindigkeit, um den Wagen in der Spur zu halten. Sandra hatte keine Furcht, sie wusste, Christopher war ein umsichtiger und guter Autofahrer. Je näher sie Newquay kamen, desto dichter wurde der Verkehr. Sandra war noch nie in dieser Gegend gewesen, und Christopher erklärte mit einem Schmunzeln: »Newquay hat alles zu bieten – außer beschaulicher Ruhe. Die Stadt hat fünf natürliche und ausgezeichnete Strände, was Newquay zum größten Tourismuszentrum in Cornwall macht. Ansonsten ist von dem alten, ursprünglichen Fischerdorf bis auf ein paar Mauerreste des früheren Hafens nichts übrig.«

Sandra nickte zustimmend. »Ann-Kathrin erzählte mir, dass sie und Alan in den Sommermonaten einen großen Bogen um Newquay machen, wobei die Klippenlandschaft westlich und östlich der Stadt zu den schönsten in Cornwall zählt.«

»Wir können im Frühjahr dort eine Wanderung unternehmen«, schlug Christopher vor.

Sandra lachte, die gelöste und lockere Stimmung zwischen ihnen war zurückgekehrt. »Du offenbarst ja völlig neue Ansichten, Christopher. Du tanzt, du wanderst, was machst du sonst noch so?«

»Viel zu wenig«, erwiderte er. »Meistens lässt mir die Arbeit keine Zeit für sportliche Aktivitäten.«

»Gibt es etwas Neues im Fall Lambourne?«, fragte Sandra, Christopher runzelte sofort die Stirn und meinte: »Lass uns heute Abend bitte nicht von der Arbeit sprechen.«

»Okay.« Sandra lehnte sich wieder in das weiche Polster und lauschte der Musik aus dem Autoradio. Der lokale Radiosender Pirate FM spielte gerade Do They Know It’s Christmas. Zum ersten Mal in diesem Jahr breitete sich in Sandra eine weihnachtliche Stimmung aus. Durch Harrys Unfall kam zwar wesentlich mehr Arbeit als geplant auf sie zu, aber Sandra war entschlossen, sich von dieser nicht auffressen zu lassen, sondern die kommenden Tage auch zu genießen. Sie hatte bereits Pläne gemacht, welche Plätze und Orte sie ihren Eltern zeigen wollte. Auf jeden Fall wollte sie an die Südwestküste nach Mousehole fahren, denn das uralte Fischerdorf war weit über die Grenzen Cornwalls hinaus bekannt für seine üppige und außergewöhnliche Weihnachtsbeleuchtung. Heute Vormittag hatte Ann-Kathrin ihr mitgeteilt, die Chancen, dass Alan zu Weihnachten nach Hause kommen könne, stünden gut, und sie würde sich freuen, wenn Sandra und ihre Eltern zu Besuch kämen.

Auch die Stadt Newquay erstrahlte im vorweihnachtlichen Glanz. Über die Straßen spannten sich weihnachtliche Lichterketten, an nahezu allen Kreuzungen und auf den Inseln in den zahlreichen Kreisverkehren standen mit bunten, zum Teil blinkenden Lichtern geschmückte Tannenbäume. Sandra kicherte, als sie in einem entgegenkommenden Linienbus sah, dass der Fahrer eine Nikolausmütze und einen langen, weißen Bart trug. Weihnachten auf den Britischen Inseln war farbenfroh und schrill, lustig und ausgelassen. Oft hatte Sandra das Fest außerhalb ihrer Heimat verbracht, unter anderem in Frankreich und in der Schweiz. Die britischen Traditionen und der bunte Lichterglanz ihrer Heimat hatten ihr immer ein bisschen gefehlt, mochten das viele Leute auch als kitschig bezeichnen.

Das Hotel lag an einer breiten Straße, direkt über dem Tolcarne Beach mit seinem feinen, weißen Sand. Heute lag der Strand verlassen da, bei dem Sturm hatte niemand Lust auf einen abendlichen Spaziergang. Das Haus, im Tudor-Stil erbaut, stammte aus dem Ende des 19. Jahrhunderts und verfügte über drei Stockwerke. Im Tanzsaal waren bis auf einen kleinen, runden Tisch in einem Erker alle Plätze besetzt. Nachdem Christopher einer Servicekraft seinen Namen genannt hatte, führte diese sie zu dem freien Tisch. Mit einem Augenzwinkern raunte Christopher: »Ich habe selbstverständlich reserviert.«

»Du denkst an alles, nicht wahr?«, erwiderte Sandra.

»Das bringt mein Job mit sich«, antwortete Christopher schlicht.

Sie genoss es, dass Christopher ihr den Stuhl zurechtschob und sich erst setzte, nachdem sie Platz genommen hatte. Für Sandra bestellte Christopher ein Glas trockenen Weißwein und eine Flasche Mineralwasser, für sich selbst einen Orangensaft, dann sagte er: » Ich hoffe, du kannst dich entspannen und führst keine Konkurrenzbeobachtung durch.«

»Das habe ich nicht vor.« Sie lachte unbeschwert. »Wobei – wenn ich mir die Tischdekoration so ansehe, muss ich neidlos anerkennen, dass die Tannenzweiggestecke außergewöhnlich ansprechend sind, vielleicht könnte ich auch …«

»Heute nicht!«, schnitt er Sandra das Wort ab. »Lass uns tanzen, aus diesem Grund sind wir schließlich hier.«

Die Getränke wurden serviert, sie stießen an und tranken einen Schluck. Eine ältere Dame mit zartrosa gefärbten kurzen Kringellöckchen stellte sich als Myrtle vor, setzte sich hinter das Keyboard und begann einen English Waltz zu spielen. Christopher reichte Sandra die Hand. Sie stand auf und folgte ihm auf das Parkett. Zuerst waren ihre Beine etwas steif, doch Christopher machte es ihr leicht. Seine Hand lag fest auf ihrem linken Schulterblatt und bot ihr einen sicheren Rahmen. Sandra war überrascht, wie mühelos sie seinen Schritten und Bewegungen folgen konnte. Die Tanzfläche füllte sich rasch, und Christopher verstand es, sie geschickt durch die Lücken zu führen, ohne jemanden anzurempeln. Der nächste Tanz war ein Mayfair Quick. Diese Schritte führten alle Tänzer gleich aus, man bewegte sich im Kreis und wechselte nach jeder Programmabfolge den Partner. Anfangs hatte Sandra Schwierigkeiten, da ihr die Choreografie unbekannt war, sie fand aber schnell in den Rhythmus, denn die Schritte und Figuren waren einfach und wiederholten sich alle vierundzwanzig Takte. Als sie nach mehreren Partnerwechseln wieder vor Christopher stand, grinste er verschmitzt.

»Du machst das gut, Sandra.«

»Ich bin selbst über mich erstaunt«, gab Sandra zu.

»Jedem Engländer liegt das Tanzen im Blut.«

Sie lachte und meinte: »Ich bin keine Engländerin, sondern Schottin.«

Er sah sie scheinbar betroffen an. »Verzeih bitte, das ist natürlich ein großer Unterschied. Ich kann Myrtle fragen, ob sie einen Reel spielt.«

»Bloß nicht!« Abwehrend hob Sandra die Hände. »Schottische Volkstänze habe ich zum letzten Mal als Kind getanzt, vielmehr es versucht. Ich fürchte, dabei würde ich ganz schrecklich über meine Füße stolpern und mich flach aufs Parkett legen.«

Sie tanzten jetzt einen Slow Foxtrott, den König der englischen Tänze, den folgenden Rosita Waltz, einen weiteren Gruppentanz, ließen sie aus und setzen sich wieder. Sandra sah aus dem Fenster. Die Promenade war ebenfalls mit unzähligen weihnachtlichen Lichtern geschmückt und das Meer in der Dunkelheit nicht zu erkennen. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie Christopher zu der Schale mit süßem Gebäck griff, die auf dem Tisch stand. Sie zuckte zusammen und umklammerte sein Handgelenk, als er den Keks in den Mund schieben wollte.

»Nicht!«, rief sie so laut, dass sich die Gäste am Nebentisch nach ihr umdrehten. Leiser fuhr sie fort: »Ich an deiner Stelle würde das nicht essen, es könnte von Lambourne sein.«

Tatsächlich legte Christopher den Schokoladenkeks neben sein Glas und ermahnte Sandra: »Keine Arbeit heute Abend! Schon vergessen?«

Sie schüttelte den Kopf, dennoch fragte sie: »Warum sind die Kekse immer noch in Umlauf? Ich habe nicht gehört, dass die Firma alles zurückgerufen hat.«

»Sandra, du übertreibst maßlos.« Christopher seufzte. »Ja, der Richter und Alan sind mit diesem Gebäck vergiftet worden, wir sind aber sicher, dass es ein gezielter Anschlag war. Wir haben keine rechtliche Handhabe, die gesamte Produktion aus dem Handel zu nehmen. Das könnte die Firma in den Ruin treiben, außerdem sind die meisten der Kekse bereits vor der Flucht von Lambourne abgepackt und ausgeliefert worden. Darüber haben wir bereits gesprochen, Sandra. Wie sollte es Lambourne gelingen, alle Produkte zu vergiften und, vor allen Dingen, warum sollte er das tun?«

»Um der Firma, die früher seine gewesen ist, zu schaden«, antwortete Sandra entschlossen, sah gleichzeitig ein, dass Christophers Argumentation nicht von der Hand zu weisen war. »Verzeih, die Sache nimmt mich ganz schön mit. Auch wenn ich Richter Audley nie begegnet bin und Alan wieder gesund wird: Dass in meiner unmittelbaren Umgebung wieder jemand ermordet wurde, Alan fast gestorben wäre und ein verurteilter Doppelmörder frei rumläuft – das kann ich nicht aus meinem Kopf bekommen.«

»Dein Mitgefühl ist auch ein Punkt, der mir gut gefällt«, sagte Christopher aufrichtig.

»Eine Frage muss ich noch stellen«, sagte sie, »dann verspreche ich, das Thema für heute ruhen zu lassen.«

Christopher seufzte erneut. »Also gut, was willst du wissen?«

»Warum erhielt Lambourne überhaupt Freigang? Ich weiß, jeder hat eine zweite Chance verdient, aber bei einem Menschen, der zweimal grausam gemordet hat, kann ich dafür kein Verständnis aufbringen.«

»Was ich bisher über Nicolas Lambourne in Erfahrung gebracht habe, ist, dass er sich während der Haft nichts hat zuschulden kommen lassen. Er machte erst eine Lehre als Elektriker und bildete sich dann im Bereich Computertechnik weiter. Ja, Sandra, auch im Gefängnis gibt es Rechner und Internet«, sagte er schnell, als Sandra etwas einwenden wollte. »Lambourne war niemals auffällig, in keine Streitereien mit anderen Gefangenen verwickelt oder gegenüber dem Wachpersonal unfreundlich, im Gegenteil. Laut Akten war er ein zurückhaltender und angenehmer Gefangener.«

»Der die erste Möglichkeit ergreift, abzuhauen und einen Menschen umzubringen«, stieß Sandra hervor.

»Wir werden ihn bekommen«, erwiderte Christopher ruhig und mit einem Lächeln. »Möchtest du wieder tanzen, Sandra? Ich erkenne die Takte einer Rumba.«

Sandra nickte und stand auf. Sie durfte sich wegen des Flüchtigen nicht verrückt machen lassen. Der gesamte Polizeiapparat der britischen Insel war auf der Suche nach Nicolas Lambourne, dies war keine Angelegenheit, die Christopher allein aufklären musste.

Kurz vor Mitternacht schlug Myrtle die ersten Takte von Aud Lang Syne an, in Großbritannien traditionell das letzte Lied einer jeden Veranstaltung. Alle Gäste traten in einen großen Kreis, kreuzten ihre Hände mit denen der Nachbarn und sangen den Text aus voller Kehle mit. Sandra stellte fest, dass der DCI zwar gut tanzen konnte, Gesang hingegen gehörte nicht zu seinen Stärken. Das spielte jetzt und ebenso bei dem folgenden God Save the Queen keine Rolle. Myrtle wünschte allen ein Merry Christmas, dann war der Abend beendet. Für Sandra war die Zeit wie im Flug vergangen, und sie fühlte sich entspannt und gelöst. An Harrys Unfall und dass sie über die Feiertage wohl keinen Ersatz für ihn bekommen konnte, hatte sie keinen Moment gedacht. In sechs Tagen kamen ihre Eltern, in neun Tagen war Weihnachten. Ihr erstes Weihnachten in ihrem eigenen Hotel, umgeben von Menschen, die sie mochten und die ihr zugetan waren. Sandra hatte das Gefühl, endgültig angekommen zu sein.

Während der Rückfahrt hörte der Regen auf, je weiter sie nach Süden kamen. Der Radiosender spielte Weihnachtslieder, Sandra lauschte mit geschlossenen Augen. Sie hatte drei Gläser Wein getrunken, dazwischen immer wieder Wasser, und fühlte sich unbeschwert und leicht, ohne beschwipst zu sein. Am morgigen Sonntag konnte sie ausschlafen, da Eliza den Frühdienst übernahm, der um sieben Uhr begann. Nach einer knappen Dreiviertelstunde bog Christopher durch das Tor auf das Gelände von Higher Barton. Sandra sah zum Hotel hinüber. Hinter allen Fenstern war es dunkel, nur die Notbeleuchtung in der Eingangshalle brannte.

Christopher stellte den Motor ab und sagte: »Das war ein sehr schöner Abend, Sandra, ich hoffe, für dich ebenfalls. Wenn du magst, können wir ihn wiederholen.«

»Sehr gern, Christopher, in diesem Jahr wohl nicht mehr«, antwortete sie. »Erst ab Januar wird es im Hotel wieder ruhiger.«

Christopher stieg aus, umrundete den Wagen und öffnete die Beifahrertür. Auch wenn Sandra keine Hilfe benötigte, nahm sie gern seine Hand.

»Ich begleite dich noch bis an die Tür«, sagte er.

Schmunzelnd erwiderte sie: »Es sind nur drei Meter, da wird mir schon nichts geschehen.«

»Ein Gentleman begleitet die Dame, mit der er den Abend verbrachte, immer bis an die Haustür und wartet, bis sie hineingegangen ist.«

Das war zwar eine altmodische Einstellung, Sandra empfand sie dennoch als sehr angenehm. Manchmal tat es gut, im modernen und hektischen 21. Jahrhundert wie eine Lady behandelt zu werden. Sandra steckte den Schlüssel ins Schloss und sperrte die Tür auf. Christopher reichte ihr die Hand zum Abschied, ließ sie dann aber nicht wieder los. Es war so dunkel, dass Sandra seinen Gesichtsausdruck nicht sehen konnte.

»Möchtest du auf einen Kaffee mit hineinkommen?« Die Worte waren über ihre Lippen, bevor sie nachgedacht hatte. Rasch fügte sie hinzu: »Ich glaube, ich kann jetzt noch nicht einschlafen.«

»Und ich glaube, es gibt viele Gründe, warum ich das nicht tun sollte.«

»Ist einer davon, dass ich ein paar Jahre älter bin?«

Christopher grinste. »Du bist älter? Das habe ich bisher nicht bemerkt, so ein Kindskopf, wie du manchmal bist.«

Sandra räusperte sich, dann sagte sie leise: »In einem Hollywood-Film würde die Hauptdarstellerin jetzt sagen: ›Es ist doch nur ein Kaffee‹.«

»Wir sind in keinem Film und wissen, dass es nicht beim Kaffee bleibt.«

Er hielt immer noch ihre Hand. Sandra straffte die Schultern und wiederholte: »Möchtest du mit reinkommen?«

Ein Mörder zieht die Fäden

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